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Zu spät ...

Zu spät ...
Nachdem auch ich dieses Mal zu spät war mit meiner Acht-Wörter-Geschichte, hab ich mir überlegt stelle ich sie halt hier rein wenn's recht ist?


Voller Wehmut lehnte Ansgar am Rand der Manege, starrte blicklos auf den mit frischen Sägespänen bedeckten Boden und spürte, wie die Verzweiflung ihn erneut zu überrollen drohte. Noch eine Stunde bis zum Vorstellungsbeginn, bald würden die Zuschauer kommen. Aufgeregte, voll freudiger Erwartung unentwegt plappernde Kinder, betont gelangweilt dreinschauende Erwachsene, die doch im Innersten genauso gespannt waren auf die Vorstellung, wie ihr Nachwuchs.

Was sie alle nicht wußten war, daß es die letzte Vorstellung sein würde. Die allerletzte. Die Einnahmen waren in der letzten Zeit stetig gesunken, die Leute kamen nur noch, weil er unablässig Gutscheine in den Supermärkten verteilen ließ ... es langte gerade so eben für das Tierfutter, seine Artisten konnte er schon länger nicht mehr adäquat bezahlen, was bereits für einiges Murren gesorgt hatte. Die Moral war am Boden. Er war sich sicher, daß die meisten bereits heimlich anderswo Vertragsverhandlungen am Laufen hatten. Nun, er würde die Konsequenzen ziehen bevor es zu spät war, er würde seinen Entschluß heute nach der Vorstellung in einer spontan einberufenen Versammlung verkünden, auch wenn es ihm das Herz brechen würde.

Die immer aggressiver werdenden Aktionen der radikalen Tierschützer taten ein Übriges. Plakate wurden abgerissen, übersprüht mit Slogans wie 'Die Vorstellung fällt wegen Tierquälerei aus'. Konkurrenzunternehmen, die daraufhin ihre Tiernummern abgeschafft hatten, blieben jedoch in Folge fast gänzlich ohne Publikum, mußten Vorstellungen absagen, gekaufte Karten erstatten, was zusätzlich für Unmut sorgte.

Natürlich kam auch keiner der Tierschützer danach jemals in eine der erschlankten, tierlosen Vorstellungen. Ähnlich den radikalen Nichtrauchern, die sich rauchfreie Restaurants erstritten hatten, und sich nun darüber aufregten, daß sommers in den Gastgärten weiterhin geraucht wurde. Anstatt sich nach drinnen zu begeben, wo sie ungestört ihre rauchfreie Luft einatmen könnten. Und nach dem Genuß ihrer veganen, alkoholfreien Maß womöglich in ein stinkendes Auto stiegen um damit fröhlich die Luft zu verpesten. Scheinheiliges Pack!

Dabei hatte er seine Tiere stets gut behandelt. Keine in Ketten gehaltenen Bären, keine geprügelten Löwen, Tiger oder Elefanten. Da ging es in jedem Zoo brutaler zu als bei ihm hinter den Kulissen. Auch mußten seine Pferde nicht bei ohrenbetäubendem Lärm im Kreise traben wie es bis vor kurzem beispielsweise im Wurstelprater beim Pony-Karussell der Fall gewesen war. Nein, seine Musik war gedämpft und melodisch, das Futter ausgewogen und biologisch, die Tiere hatten stets Auslauf und wurden ausreichend bewegt, auch außerhalb der Vorstellungen.

Sein Lebenswerk, so ging es dahin. Seine Eltern hatten den Zirkus bereits nur mehr schlecht als recht am Laufen erhalten können, aber heute, im Zeitalter von Farbfernsehen, Internet und De-Luxe-Freizeitparks, war der Nervenkitzel, den er zu bieten hatte, offenbar nicht mehr der Mühe wert, sich nachmittags von der gemütlichen Couch zu erheben, geschweige denn, einen Abend zu opfern.

Gerade hier in dem mondänen Tiroler Luftkurort, in dem sie momentan gastierten, gingen die Kurgäste abends lieber in eines der luxuriösen Hotels aus, ganz nach dem Motto 'Sehen und gesehen werden' - und die Einheimischen, meist Bauern aus der Umgegend, hatten kein Geld für derlei Vergnügungen übrig.

Vor allem um Fidelus, den Clown, machte er sich Sorgen. In letzter Zeit hatte dieser zunehmend Hochprozentiges zu sich genommen, die entsorgten Flaschen hinter dem Wohnwagen sprachen Bände. Das Make-up verschmiert, die Aussprache verwaschen und die Ausführung der Späße tollpatschig und fahrig. So würde er anderswo nicht mehr unterkommen können und für das Altersheim war er noch zu jung. Gerade einmal fünfzig Jahre alt, und schon am Ende.

Sein einziger Lichtblick war Bethanie, die junge, biegsame Artistin mit dem entzückenden Muttermal auf ihrem rasierten Venushügel, die seit dieser Saison mit ihren beiden Brüdern bei ihm unter Vertrag war, und in die er sich sofort heiß und innig verliebt hatte. Zu seinem restlosen Entzücken waren seine Gefühle nicht unerwidert geblieben und er freute sich schon darauf, mit der bescheidenen Summe, die ihm nach dem Verkauf der Tiere und der Auszahlung der Artisten verbleiben würde, ein kleines Häuschen irgendwo zu kaufen und sich mit Bethanie dort niederzulassen. Gesprochen hatte er mit ihr noch nicht darüber, auch würden ihre Brüder nicht gerade begeistert sein, schließlich war deren Programm ohne Bethanie so nicht durchführbar, aber darüber würde er sich aufregen wenn es soweit war.

Nun würde er sich in seinen Wagen zurückziehen, sich ankleiden, schminken, die Beleuchtung prüfen und seinen obligatorischen Rundgang machen. Die Leute hatten ja keine Ahnung, was an so einem Zirkusbetrieb alles dranhing. Die meinten doch glatt, man triebe zweimal am Tag die Tiere ein bissl im Kreis herum und mache sich ansonsten ein feines Künstlerleben. Hah. Alles was er sich an Luxus gönnte, war ab und an ein Quarkstreuselkuchen aus der Bäckerei, auch wenn der niemals an das Original seiner Mutter herankam. Aber ein Mann durfte schließlich hoffen ...

Als er, kurz vor seinem Wohnwagen, um die Ecke bog, kam ihm Fidelius entgegen. Barfuß, leicht schwankend, offenbar auf dem Weg in Richtung Zelt.
'Hey Fidelius', sprach er ihn an, 'alles klar bei dir?'
Fidelius wankte an ihm vorbei als ob er Luft sei. Hochaufgerichtet, starren Blicks, die Augen stur geradeaus gerichtet.
'Donnerwetter,', dachte Ansgar, 'der hat tüchtig getankt. Hoffentlich geht das gut mit dem Auftritt. Aber viel ist ja nicht mehr kaputtzumachen, so why bother ...'

Resigniert setzte er seinen Weg fort, Trauer im Herzen und mit aufsteigenden Tränen kämpfend.
'Sei ein Mann!', ermahnte er sich selbst. 'Du bist der Direktor, du mußt dich zusammenreißen!'

Gestiefelt und gespornt, stilgerecht mit Zylinder und einer Chrysanthemenblüte im Knopfloch, stieg er kurz drauf wieder die Treppe seines Wohnwagens herab, vornehmlich um seine Kontrollrunde vor der Vorstellung durchzuführen, aber heimlich Ausschau haltend nach Bethanie, die trotz aller Liebesbekundungen immer noch einen Teil von sich zurückhielt, sich ihm nie voll und ganz erklärt hatte.

Vielleicht war es gerade dieses Geheimnisvolle an ihr, das er so faszinierend fand? Eine komplett hingebungsvolle Frau, die ihm ständig am Rockzipfel hing, wäre ihm sicher bald so langweilig wie seine geschiedene Frau es am Ende ihrer Beziehung gewesen war. Oder? Oder doch nicht? War er nicht insgeheim ein bissl eifersüchtig auf die Blicke, die sie dem Feuerspucker, dem Löwenbändiger und sogar Fidelius manchmal zuwarf? Wie konnte er sich ihrer jemals sicher sein? Ärgerlich über sich selber schüttelte er den Kopf und marschierte betont forsch in Richtung Tiergehege, ohne sich weiter umzusehen. Er würde sie ja nach der Vorstellung und der anschließenden Besprechung hoffentlich wieder in den Armen halten dürfen, solange würde er sich gedulden müssen. Für diese heimlichen Knutschereien zwischen den Wagen fühlte er sich langsam wirklich zu alt.

Tröpferlweis trudelten die ersten Zuschauer ein, trieben sich noch bei den Tiergehegen herum, wo ein Pfleger bunte Quietscheentchen verteilte und den Kindern gerne ihre Fragen beantwortete. Den Erwachsenen weniger gern, da auch hier oft Unwissenheit und Vorurteile die Unterhaltung überschatteten.

Ansgar näherte sich dem Zelt, schlug die Plane beiseite ... und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Daß der Feuerschlucker noch ein wenig übte vor der Vorstellung, ok. War ja sein Hals. Aber daß Bethanie direkt vor ihm rittlings auf der Balustrade saß und ihn anhimmelte, die Beine weit gespreizt so daß der Tutu weit abstand und man direkt zwischen ihre Beine sehen konnte, das war sowas von NICHT ok! Ansgar schluckte. Sollte er wieder nach draußen gehen und so tun, als ob er nichts gesehen hätte? Sollte er sich laut hustend bemerkbar machen? Bethanie würde nur spöttisch lächeln und so tun, als sei alles in Ordnung und er ein überpenibler alter Oberlehrer.

Mit einem Mal kam Fidelius von rechts aus den Kulissen gerumpelt, stieß den Feuerschlucker an, dieser ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu bewahren, dabei kam seine Fackel, die er nach wie vor weit von sich gestreckt hielt, mit Bethanies Tutu in Berührung welcher sofort in helle Flammen aufging. Fidelius blieb erschrocken stehen, sein Gesicht ein einziges, rotes, weit aufgerissenes O. Ansgar rannte sofort los, mußte jedoch hilflos mit ansehen, wie die Flammen in Windeseile auf die Dekoration übergriffen, die Zeltwand zu brennen anfing und im Nu ein allumfassendes glühendes, brüllendes Inferno herrschte, in dessen Mitte sich Bethanie, der Feuerschlucker und Fidelius wie in einem grotesken Theaterstück agierende Gliederpuppen in den Flammen wanden. Zu spät. Alles war zu spät. Ansgar spürte, wie unaufhaltsam eine Feuersäule in ihm aufstieg, als er wie aufgezogen direkt auf Bethanie und ihre im Todeskampf schreckgeweiteten Augen zustolperte. Als das Feuer endlich auch ihn ergriff, spürte er nichts mehr außer den grausamen inneren Schmerz und gleichzeitig diese unerträgliche Leere ...
Aua! Welch abrupte Wendung! Du scheinst Dramatisches zu lieben - und ziehst mich gekonnt in die Geschichte rein. Ich war fast schon Zirkusdirektor.
*spitze* laf
******s23 Frau
12.725 Beiträge
Gefällt mir sehr gut die Story, aber der letzte Absatz mit dem Feuer klingt etwas unglaubwürdig mit dem Feuer...
Ansonsten wirklich *spitze*
Hast recht, mit dem Schluß hab ich auch lange gerungen, aber weil halt eine Geschichte einen Abschluß braucht ...
Mein Problem war weiters, daß ich - den Göttern sei Dank - noch nie dem Ausbruch eines Feuers beizuwohnen hatte, und sowas daher auch nicht adäquat beschreiben kann. Also, daß dieses Polyesterzeug, das die KünstlerInnen anhaben, sehr rasch Feuer fängt, ok. Aber daß gleich das ganze Zelt in Flammen aufgeht, das ist in der Tat eher unwahrscheinlich.
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