Die Feuerholzsuche
Jorind schlug die Augen auf und blinzelte in die Morgensonne. Die erste halbe Stunde war stets dem Tagesplan gewidmet: Was war zu tun, was konnte getrost verschoben werden, welche Unwägbarkeiten gab es zu bedenken?
Der Einkauf von Lebensmitteln konnte bis morgen warten, auch die Holzbriketts für den Kaminofen, die einzige Wärmequelle, reichten noch mindestens einen Tag. Obwohl ... wenn sie es recht bedachte, wäre es nicht verkehrt, sich nochmal einen ordentlichen Vorrat an Brennholz zu beschaffen. Wer weiß, dachte sie, wie lange der Baumarkt noch offen hat.
Allerdings gab es da ein Problem: Bei ihrem „kleinen grünen Frosch“, wie sie ihr Auto liebevoll nannte, war der TÜV abgelaufen, seit zwei Tagen schon. Ihr Werkstattmann hatte ihr versichert, es sei ausgeschlossen, das Fahrzeug noch zwei weitere Jahre am Laufen zu halten, zu groß der Aufwand, zu teuer die fälligen Reparaturen.
Ein Ersatz war schnell gefunden, ein Renault Clio, 14 Jahre alt, aber noch gut in Schluss. Es gab allerdings zur Zeit keine Möglichkeit, ein Auto an- oder abzumelden, denn die Zulassungsstelle in der Kreisstadt hatte - der Corona-Krise geschuldet - die Schotten dicht gemacht. Der Renault blieb vorerst, wo er war.
Also müsste sie mit ihrem Frosch „mit ohne TÜV“ durch die Gegend fahren, und das zu einer Zeit, in der die Präsenz der Polizei, selbst hier in der tiefsten Provinz Thüringens, spürbar zugenommen hatte.
Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, angehalten und kontrolliert zu werden? Und wenn sie durch einen blöden Zufall in einen Unfall verwickelt wurde? Ging mit dem abgelaufenen TÜV nicht auch der Versicherungsschutz verloren? Sie war sich nicht ganz sicher, aber dass es eine Menge Ärger geben könnte, soviel stand fest.
Ob der Frosch überhaupt anspringen würde? Sie sah auf die Wetter-App: -2 Grad. Das sah nicht gut aus. Der alte Diesel hatte letzte Woche schon mal gestreikt, und es hatte der Hilfe ihres Werkstattmannes bedurft, ihn wieder in Gang zu bringen.
Als sie eine Stunde später aus der Tür trat, war es schon etwas wärmer geworden, die Kraft der Sonne war trotz der eisigen Luft spürbar.
Dennoch zögerte sie. Wenn der erste Start mißlang, würde es kaum möglich sein, den Motor überhaupt in Gang zu bringen, das hatte sie die Erfahrung gelehrt. Sie würde die Fahrt zum Baumarkt doch noch verschieben, auf wärmeres Wetter warten. Vielleicht würde ja nächste Woche der April mit Macht den Frühling zurückbringen und sie bräuchte überhaupt kein Kaminfeuer mehr?
Die nächste halbe Stunde verbrachte sie mit dem Versuch, ihr altes Rad in Gang zu bringen. Es war auf beiden Reifen platt und wollte sich auch partout nicht aufpumpen lassen. Vielleicht waren die Ventile defekt. Jorind schob es resigniert zurück in den Schuppen und entschloss sich, dem Auto doch noch einen Versuch zu geben. Als es - sie hielt den Atem an - anstandslos und promt ansprang, spürte sie eine wilde Freude in sich aufsteigen.
„Alle Mann an Deck! Fertigmachen zum Entern!“ rief sie dem Hund zu, der schon auf die Rückbank gesprungen war, und fühlte sich in kindliche Abenteuerlust verfallen.
An der Kreuzung, an der sie auf die Bundesstraße einbiegen musste, hätte sie fast dem Gegenverkehr die Vorfahrt genommen und rief sich zur Ordnung.
Vorsicht, meine Hübsche, mahnte sie sich, ein Unfall ist das Letzte, was wir heute gebrauchen können!
Trotz der frühen Stunde herrschte auf dem Gelände des Baumarkts bereits reger Betrieb. Offenbar waren Gartenbesitzer und Heimwerker wild entschlossen, sich in alle möglichen Projekte zu stürzen. Wahrscheinlich war Jorind nicht die einzige, die sich fragte, wie lange der Markt überhaupt noch offen hatte.
Sie musste lächeln, als sie an einen Podcast dachte, den sie sich am Tag zuvor angehört hatte. Der SPD-Politiker und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach war gefragt worden, ob er denn schon mal gehamstert habe, und wenn ja, was?
Er hatte geantwortet: „Wenn, dann würde ich es nicht zugeben.“ Nein, gehamstert habe er nicht, aber sich gut bevorratet, „mit Haferflocken, Nüssen und Zimt. Damit kann ich monatelang auskommen.“
Der Tag fühlte sich an wie ein Hindernislauf. Jorind bekam den schweren Einkaufswagen nicht frei, seine Rollräder wollten sich nicht grade stellen. Promt kam ihr ein freundlicher Mann zur Hilfe, zerrte, dicht neben ihr stehend, den Wagen aus der Verankerung und zeigte ihr noch hilfsbereit den Trick, wie man mit einem kräftigen Ruck die Räder in die Gerade zwingen konnte.
Von wegen 2 Meter Abstand, dachte sie, wie soll das gehen, wenn alle hier so unbekümmert herumspringen? Sie steuerte auf die Ecke zu, in der die Holzbriketts zwischen Riesenbergen von Grillkohlesäcken ihren Platz hatten. Dort tat sich eine Lücke auf. Die Palette war leer. Es gab keine Holzbriketts mehr.
So ein Mist! Sie würde das teure Kaminholz nehmen müssen, Birken- und Buchenscheite. Oder gab es vielleicht in den Tiefen des Marktes, im Garten- und Außenbereich noch eine versteckte Palette Holzbriketts zu entdecken?
Sie kam nur langsam vorwärts. Die Gänge waren schmal, und wenn jemand stehenblieb, um sich etwas genauer anzuschauen oder gar in einem Regal herumkramte, gab es keine Möglichkeit, mit „2 Metern Abstand“ vorbeizukommen. Immer wieder musste sie warten, bis sich die Möglichkeit ergab, in einen Seitengang auszuweichen, um allzu engen Kontakt zu vermeiden. Allerdings, soviel sei der Wahrheit zuliebe gesagt, waren die meisten Kunden achtsam und umsichtig, einige aber eben auch betont sorglos und unbekümmert.
Sie verstand das gut, auch sie war im Grunde ihres Herzens Rebellin, vielleicht gar Anarchistin, auf jeden Fall eine Piratentochter, und würde sich nie unhinterfragt und widerstandslos irgendwelchen Anweisungen fügen.
Im Außenbereich angekommen, fragte sie den erstbesten Angestellten nach Holzbriketts. Der zeigte, ohne sich beim Kehren stören zu lassen, auf einen Kollegen, und Jorind wiederholte ihre Frage.
Der Mann verneinte. Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ich kann aber mal schauen, ob ich noch was finde.“ Er sprang von seiner Leiter und machte sich auf die Suche. Jorind wartete. Nach einer kleinen Ewigkeit tauchte er wieder auf und schüttelte schon von weitem den Kopf. „Alles alle!“, rief er, „ich weiß auch nicht, wann wir wieder was reinkriegen.“
Jorind bedankte sich artig. „Dann muss ich eben das teure Kaminholz nehmen.“
Sie war auf dem mühevollen Rückweg durch die vollen Gänge, als er plötzlich eilig hinter ihr her kam.
„Ich hab doch noch eine Palette gefunden! Kommen Sie!“ Einigermaßen mühsam steuerte sie wieder zurück. Schließlich kamen sie wieder im Außenbereich an.
„Warten Sie hier“, wies er sie an, „Ich muss nur schnell einem Kunden den Hänger beladen. In drei Minuten bin ich wieder da.“
Aus den drei Minuten wurden zehn, aber dann war er wieder zur Stelle, führte sie zu seinem Fundstück von Palette und belud ihr den Einkaufswagen, obwohl sie beteuerte, dies auch selbst zu können, „falls Sie noch was Anderes zu tun haben“, meinte sie treuherzig. Er winkte nur ab und sie ergab sich darein, ihm beim Laden zuzuschauen.
Als sie sich verabschiedete, nicht ohne sich nochmal bedankt zu haben, war sie so froh, dass sie in einem Anflug von Flirtlaune sagte: „Da haben Sie heute jemanden sehr glücklich gemacht.“
Er behielt seine würdevolle Miene bei, schien sich aber doch zu freuen, denn als sie begann, den schweren Einkaufswagen mit 12x10 kg Holzbriketts vor sich her zu schieben, sprang er hinzu und zeigte ihr, wie man sehr viel besser zurechtkam, wenn man die Last mit einer Hand hinter sich her zog.
Seufzend folgte sie seinem Rat, denn sie wollte ihn nicht kränken, aber er konnte ja auch nicht wissen, dass sie seit ihrem schweren Reitunfall das Schieben leichter fand als das Ziehen.
An den Kassen gab es drei lange Schlangen, aber sie hatte Glück und konnte sich am Weinregal einreihen und ihren Holzbrikettberg mit zwei Flaschen krönen.
Sie war nämlich nicht abgeneigt, die erfolgreiche Suche nach Feuerholz mit einem Gläschen Glühwein zu feiern.