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Von der Kunst des Schauens

**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Von der Kunst des Schauens
Hier sind Jorind und Zuma unterwegs ...
Unterwegs
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Die Wildgänse

Als Jorind vor ein paar Tagen zu ihrem alten Freund Tamerlan Thorell unterwegs ist, sieht sie auf einem Winterweizenfeld rechter Hand eine unüberschaubare Menge großer graumelierter Vögel. Wildgänse? Wildgänse!
Sachte bremst sie das Auto ab und bringt es am Straßenrand zum Stehen. Kann sie hier überhaupt stehen bleiben? Prüfend blickt sie die schmale Kreisstraße hinauf und hinab, die sich in zahlreichen Windungen durch das hügelige Vogtland zieht. Hinter dem Feld, unten im Tal, blitzt der Spiegel eines kleinen Sees herüber.

Sie öffnet behutsam die Fahrertür, kann aber ein lautes Knarzen nicht vermeiden. Die Gänse scheint es nicht zu stören. Ein paar drehen die Köpfe, die meisten weiden ungerührt weiter.

Vorsichtig steigt sie aus, bleibt dicht am Auto stehen. Nur ihr Kopf ragt über das Dach.

Es ist eins dieser weiten Felder, die sich über Dutzende von Hektar erstrecken und für Ostdeutschland so typisch sind.
Sie staunt. Es müssen tatsächlich hunderte Graugänse (Anser anser) sein, die hier auf ihrem Weg wohin auch immer Mittagsrast halten. Ob sie schon auf dem Frühjahrszug nach Norden sind? Oder ist es einer jener Schwärme, die mittlerweile in dieser Region überwintern?

Jorind kommt das Buch „Serengeti darf nicht sterben“ in den Sinn, in dem Bernhard Grzimek erzählt, wie er und Sohn Michael versucht haben, die Wildbestände zahlenmäßig zu erfassen. Mit den Augen eine Herde abtasten und in Zehnergruppen zählen.

Sie versucht es ... unglaublich, es sind wirklich mindestens fünfhundert Tiere! Alle kann sie nicht sehen, denn das Feld fällt zum See hin ab, und die Vögel sind dort außerhalb des Blickfelds.

Wildgänse haben Jorind schon immer fasziniert. Was ist das nur für ein rätselhafter Reiz, der auf die Menschen wirkt, wenn sie einem keilförmigen Zug mit den Blicken folgen, die Gesichter voll lächelnder Bewunderung und leiser Sehnsucht.

Ihr kommt der junge Gänserich Martin in den Sinn, wie er in einem winzigen schwedischen Bauernhof in den Himmel blickt, der vom unwiderstehlichen Rufen und Locken der wilden Geschwister erfüllt ist.

„Komm doch mit! Komm doch mit!“

Als Jorind später die selbe Strecke zurückfährt, ist keine Gans mehr zu sehen. Ein paar Krähen fliegen träge auf und lassen sich wenige Meter weiter wieder nieder.

Ganz leer ist das Feld nicht, nur gansleer. In großen Abständen stehen vier, fünf Vogelscheuchen und bewachen den Winterweizen.
Anser anser
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Eine wunderschöne Impression der Ahnung eines keimenden Frühlings irgendwo zwischen Plauen und Rodewisch. Was läge näher, als in den Wanderungen der Zugvögel die Wanderung des Lichts zu erspähen,welches nunmehr fast tröpfchenweise in die winterharten Seelen rinnt... *hutab*
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Da hast du Recht, lieber Einar. Und die Kunst des Schauens ist für mich immer auch die Kunst des Staunens.
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Es scheint so, dass die Begegnung mit dem Naturschönen oftmals regelrecht mit einem Erschrecken verbunden ist...
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Aber auch mit Dankbarkeit. Stell dir nur mal vor, wir würden die Welt hässlich finden, ihre Formen und Farben...

Wäre das nicht grässlich?
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Nun- die Begegnung mit der generativen Kraft der Schöpfung weckt in jeder offenen Seele Erfurcht, wie mir scheint...
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Von dummen Freunden und klugen Feinden

Jorind kämpft sich durch dichtes Unterholz. Mehrmals reisst ihr ein Ast die Mütze vom Kopf. Auch Zuma scheint nicht besonders erfreut. Zähe Brombeerranken, die dort, wo sie die Erde berühren, wieder eingewachsen sind, zwingen sie, mal drüber zu hechten, mal unten durch zu tauchen. Immer wieder wird sie ganz und gar gestoppt und muss rückwärts aus einem stacheligen Tunnel robben.

Bergauf geht es auch noch, und das nicht zu knapp. Jorind hält sich an Ästen fest und zieht sich an Grasbüscheln hoch. Alle paar Schritte rutscht sie wieder ein Stück bergab, bis ein dicker Buchenstamm sie auffängt.


Aber aufgeben kommt nicht in Frage. Den gleichen Weg zurück, nachdem sie schon so weit gekommen ist? Never! Schließlich ist ihr von Kindesbeinen an eingetrichtert worden, dass, was immer man einmal angepackt habe, auch zu Ende zu bringen sei. Und dieser Anspruch wirkt noch nach Jahrzehnten. Auch eine Art von Unsterblichkeit, von Weiterleben nach dem Tod, was sich ihre Eltern da gesichert haben, denkt sie grimmig.

Als sie endlich auf dem Feldweg angekommen ist, der die oberste Höhenlinie nachzeichnet, muss Jorind erstmal verschnaufen. Von hier aus hat sie einen weiten Blick über zwei Täler und die angrenzenden Höhenzüge.

„Da habe ich uns ja einen Bärendienst erwiesen“, sagt sie zu Zuma oder sich selbst. „Es sollte eine Abkürzung werden und hat uns fast zwei Stunden mehr gekostet. Und nicht ganz ungefährlich. Ich brauche nur mal ein paar Meter abwärts kugeln und mich verletzen, schon haben wir ein Problem.“

„Bärendienst“ geht ihr nicht aus dem Kopf. Der Begriff stammt aus einer Fabel von Jean de La Fontaine und bezeichnet eine gutgemeinte Freundesleistung, die sich als Schaden herausstellt.

Soweit sie die Geschichte in Erinnerung hat, treffen sich ein Bär und ein Gartenfreund und beschließen zusammenzubleiben. So können sie sich Gesellschaft leisten und behalten doch ihre Unabhängigkeit.

Als der Gartenfreund eines Tages beim Mittagsschläfchen von einer Fliege auf der Nase Besuch erhält, will der Bär seinem Freund helfen und wirft ihm einen großen Stein ins Gesicht. Der Bär überlebt als einziger.

Das Resümee, das La Fontaine zieht, gefällt Jorind besonders: „Rien n‘est si dangereux qu‘un ignorante ami. Nichts ist so gefährlich wie ein dummer Freund.“ Und weiter heißt es, kluge Feinde seien da besser.

Bedeutet dies, so fragt Jorind sich und ihren Hund, dass ich mir selbst einen Bärendienst erwiesen habe? Bin ich also meine eigene dumme Freundin? Und wo wären dann die klugen Feinde zu finden?

Darüber wird sie wohl noch länger nachzudenken haben.
Illustration von Gustave Doré
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Der Waschbär

Ossig ist ein Dörfchen südlich von Zeitz in Sachsen-Anhalt. An einem kühlen Märztag sind Jorind und Zuma auf dem Rückweg zum Auto und nähern sich über eine stark abschüssige Wiese dem kleinen Neubaugebiet des Ortes.
Als sie am ersten Einfamilienhaus anlangen, bemerkt Jorind eine Lebendfalle, in der sich ein Waschbär zusammenkauert. Reglos starren sie sich an, Mensch und Tier. Zuma hält sich in vorsichtiger Entfernung.

Der Boden um den schweren Käfig ist aufgerissen und die bloße Erde plattgedrückt, das Gras zerfranst und in Büscheln weit verstreut. Offenbar hat das Tier bereits längere Zeit versucht, irgendwie der Falle zu entkommen.

Jorind atmet ein paar Mal tief durch und wendet sich ab.
„Komm, Zuma, das geht uns nichts an!“
Auf dem Weg durch die Siedlung klingelt sie an mehreren Türen. Schließlich hat sie Erfolg und erkärt dem Mann, der ihr öffnet, die Lage.

Jaaa, sein Nachbar sei dafür bekannt,
Waschbären zu fangen. Nein, er wisse nicht, was er mit ihnen mache, glaube aber, sie würden dem zuständigen Jagdpächter übergeben und mithilfe einer Gaskartusche entsorgt.

Als Jorind wieder zuhause ist, sucht sie sich einen kleinen Imbiss zusammen und lässt sich mit Essen und Trinken in ihrem Ohrensessel nieder. Doch der Waschbär in der Falle geht ihr nicht aus dem Sinn. Sie schickt eine Nachricht an ihre Online-Kontakte. Was ist zu tun?

Der Waschbär sei hier nicht heimisch und habe in diesem Land nichts zu suchen, so die eine Position. Er nähme außerdem viele Nester aus und gefährde die Vielfalt unserer Vogelwelt.

Doch es gibt auch moderatere Töne. „Möglicherweise ist es ein Weibchen, das zur Zeit Junge hat“, schreibt ihr Freund Kai, „und die gehen natürlich ein, wenn die Mutter nicht zurückkommt.“

Jorind fängt an zu recherchieren, um sich eine eigene Meinung bilden zu können.
„Entgegen weit verbreiteter Ansicht“, so liest sie auf Wikipedia, „fressen Waschbären nur vereinzelt aufwendig zu jagende Tierarten, wie Vögel und Kleinsäuger [...].“ Und weiter heißt es dort, die Waschbären seien Mitte des 20. Jahrhunderts aus Pelztierfarmen entkommen oder ausgesetzt worden, allerdings habe schon einmal im Oligozän vor rund 25 Millionen Jahren ein Vorfahr in Europa gelebt.
Und in der Tat, Waschbärenmütter zögen ihre Jungen alleine auf, und verlassene Jungtiere müssten zugrunde gehen, erfährt sie.

Noch eine andere Frage beschäftigt sie: Ist sie, Jorind, für den Ablauf des Geschehens mitverantwortlich, jetzt, wo sie, wenn auch zufällig, in die Geschichte hineingeraten ist?

Schließlich beschließt sie, die Sache nicht von einem philosophischen, sondern von einem rein persönlichen Standpunkt aus zu betrachten. „Es geht nur um uns beide“, sagt sie in Gedanken zu dem gefangenen Tier, „um dich und mich.“

Und eilig macht sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Weg nach Ossig. Ihre Sorge, zu spät zu kommen, erweist sich als unbegründet. Der Waschbär sitzt noch genauso in dem Käfig, wie sie ihn vor Stunden zurückgelassen hat. Erdreich und Grasnarbe im Umkreis sind noch um einige Grade zerwühlter. Das Tier hat wohl dem Stahlkäfig einen letzten Kampf geliefert. Jetzt scheint es erschöpft und resigniert. Es rührt sich nicht, als Jorind sich an dem starken Bügel zu schaffen macht, der den Fluchtweg verschließt. Endlich öffnet sich die Falltür, und nach einem langen Zögern schießt eine Fellkugel heraus und verschwindet im hohen Gras.

„Meine gute Tat für heute“, sagt Jorind lächelnd zum Hund. Aber im Grunde, das weiß sie wohl, geht es nur darum, dass sie in der Nacht gut schlafen kann.
Die Falle
Ich glaube, die Befreiung ist schon ein bisschen mehr, als eine Gewissensberuhigung.
Ich hätte genau so gehandelt, wie es Jorind in deiner kleinen Geschichte getan hat, sie hat ein Leben gerettet ... Ja, und dann hätte ich den vermeintlichen Fallensteller, der die "Tiere mit der Gaskartusche entsorgt" zur Rede gestellt.
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Der Löffelstör

Der März bleibt kalt und regnerisch. Jorind ist mit ihrer Hündin in einem Seitental der Weißen Elster unterwegs. Auf beiden Seiten des kleinen Bachs erstrecken sich weitläufige Hangwiesen, von Weidezaun umfriedet.

Hier ist eine Mutterkuhherde zuhause, begleitet von einem Bullen. An anderen Tagen schweift Jorinds Blick die von Gehölzen unterbrochenen Wiesenflächen entlang, hinauf zur welligen Horizontlinie, hinab zu den zahlreichen Bachtränken, und stets auf der Suche nach der Rinderherde mit den würdigen Matronen und munteren Kälbern.

Heute kann sie sich nicht recht auf die ihr lieb gewordene Herde konzentrieren, denn sie hat geträumt letzte Nacht. Und die Traumbilder waren so intensiv in Farben, Formen, Gerüchen und Geräuschen, dass sie sie nicht abschütteln kann.

Acht Jahre lang war sie im Zierfischgeschäft, lange Arbeitszeiten und täglich über den Taunus ins Rhein-Main-Gebiet und zurück. Die Arbeit im Import und Export von tropischen Zierfischen liegt weit zurück. Aber in diesem Traum der vergangenen Nacht kam alles Erleben so nah und unmittelbar aus dem Vergessen empor, als sei es erst gestern gewesen.

Die Wärme und hohe Luftfeuchtigkeit der Halle, knapp tausend Aquarien in drei Reihen übereinander, das Gegluckse und Geplätscher der Filteranlage.

Jorind hat damals als Aquarienwäscherin begonnen und sich in kurzer Zeit zur Zierfischfachfrau hochgearbeitet. Lateinische und englische Bezeichnungen der Fischarten - die deutschen Namen spielten keine Rolle im internationalen Geschäft - saugte ihr Gedächtnis wie ein Schwamm auf.

Besonders gut kann sie sich an die Exoten der Exoten erinnern , Piranhas aus dem Amazonasgebiet, Krokodilbabies von einer Farm im Mississippidelta. Und natürlich die Löffelstöre, ebenfalls von dort.

Plötzlich fällt ihr ein, dass sie damals ein paar Verse verfasst hat. Wie gingen die nochmal?

Sie sucht sich ein windgeschütztes Plätzchen und fischt einen Bleistiftstummel und ein Notizbüchelchen hervor, nicht größer als ihre Handfläche. Ihr iPhone hat bereits einige Male gestreikt, und seitdem hat sie sich angewöhnt, Bleistift und Papier auf ihre Wanderungen mitzunehmen.

Sie kramt ihre Erinnerungen zusammen: Es waren wohl vier Strophen zu je vier Zeilen im Reimschema aabb.

Irgendwo mittig fehlen zwei Zeilen. Irgendwas mit Nahrungsaufnahme? Schließlich fängt sie an zu schreiben ...

Der Löffelstör

Sag, Polyodon spathula,
wozu ist denn dein Spaten da?
Dient er zum Rudern oder Steuern?
Zum Kampf mit Meeresungeheuern?

Nützt er zur Nahrungssuche dir
in deinem nassen Jagdrevier?
Bestand bei Bibern gar einmal
in grauer Vorzeit Damenwahl?

Wuchs dir nach Urahns Mesallianz
verkehrtherum ein Biberschwanz
zur Warnung kommender Geschlechter
im Sinn der Artreinheitsverfechter?

Spürst du des Wissenschaftlers Blick,
so schaust du ungerührt zurück.
Du selbst wirst ihm wohl nie verraten,
wozu er dienen soll, dein Spaten!


„Ich bin froh und dankbar, dass ich so ein interessantes Leben hatte.
Habe“, verbessert sie sich dann. „Noch ist es nicht vorbei.“

Sie blickt sich nach ihrer Gefährtin um, doch Zuma steckt bis zu den Ohren in einem Mauseloch und ist weder gewillt noch in der Lage, einen Kommentar abzugeben.
Polyodon spathula
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Astrein, die Baum-Hasel!

Hoch über dem Tal der Weißen Elster verläuft parallel zur Höhenlinie mitten durch wellige Schafweiden ein schmaler Wanderweg, auf beiden Seiten gesäumt von einer Baumreihe, Kastanie, Apfel und Pflaume zumeist, dazwischen hier und da ein Ahorn.

Von der schmalen Kreisstraße am Fluß, wo sie ihr Auto abgestellt hat, wandern Jorind und Zuma durch das kurze Weidegras bergan, erreichen die Höhe und schauen sich um.

Von hier oben wirkt der kleine grüne Diesel wie ein Spielzeugauto. Das glitzernde Band des Flusses windet sich durch die Talsohle Richtung Zeitz. Aus den Schornsteinen der Zuckerfabrik steigen weiße Wolkenfahnen und werden waagrecht davongetrieben. Der Märztag ist mild, aber ein lebhafter Wind bläst von Westen und führt Regen heran.

Jorind will heute eine Bekannte besuchen, eine Freundin fast, wenn man eine einseitige Beziehung so nennen kann.
Denn unter den Alleebäumen des Wanderwegs hat sie vor einiger Zeit eine Besonderheit entdeckt, eine überaus seltene Baum-Hasel.

Jorind kennt genau zwei Exemplare dieser Spezies aus der Gattung Hasel (Corylus). Und weil sie etwas so Besonderes sind, haben sie von Jorind Namen bekommen. Diese hier, vor der sie eben Halt gemacht hat, nennt sie „Astrein“, abgekürzt „Asta“. Die zweite, die ein paar Kilometer entfernt auf der anderen Talseite steht, ebenfalls in einer Baumreihe zwischen Birken und Kirschbäumen, heißt „Dürreresistent“, kurz „Resi“.

Damit werden auch schon, neben den schmackhaften Früchten, die wichtigsten Eigenschaften der Hasel deutlich.

Als astrein bezeichnet man einen Baum, dessen Stamm besonders hoch wächst, bevor er die ersten Äste austreibt. Im 19. Jahrhundert, als das wohlhabende Bürgertum sich mit wertvollen Nußbaummöbeln umgab, wurde das Holz aus dem Kaukasus, dem Balkan und der Türkei über die Donau bis Wien verschifft und dort zu den kostbaren Möbeln verarbeitet, die von einer Generation zur nächsten vererbt wurden.

Heute hat die Bedeutung der Früchte die des Holzes längst überflügelt, und die Haselnüsse in Nutella und anderen Nussschokoladen stammen fast sämtlich aus den Haselplantagen der Türkei.

In jüngster Zeit, seit die Dürreperioden den Bäumen immer mehr zusetzen, ist die Baum-Hasel mehr und mehr in den Fokus der Wissenschaft gerückt, denn sie zeichnet sich durch eine außerordentliche
Toleranz gegenüber Dürre aus,
so dass sie als Baumart im Klimawandel prädestiniert ist.

Der Wind ist inzwischen zu einem wahren Frühjahrssturm geworden, und Jorind ist wieder einmal dem unbekannten Menschen dankbar, der die Kapuze erfunden hat.

Vermutlich, sinniert Jorind, ist vor zahllosen Generationen einem Jäger der Innuit mehr als einmal die Mütze vom Kopf geweht worden und im Atemloch einer Robbe verschwunden. Daraufhin hat er seine Gefährtin gebeten, ihm doch bitte die nächste Mütze am Kragenrand seiner Jacke festzunähen. Oder aber, seine Frau ist es leid geworden, ständig neue Mützen nähen zu müssen und hat selbst diesen genialen Einfall gehabt.

Wie dem auch sei, der Regen wird stärker, und Jorind und Zuma machen sich auf den Rückweg. Von den Windböen angeschoben, hüpfen und rutschen sie bergab. Noch bevor sie unten sind, hat der Regen beide bis auf die Haut durchnässt.

„Nächstes Mal schauen wir nach Resi“, sagt Jorind, als sie im Auto sitzen. Und Zuma hat keine Einwände.
In dem Busch neben „Asta“ sind ein paar Fruchtstände mit Nüssen hängen geblieben
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Forscher und Naturschützer: Charles Waterton (1782-1865)

Ein kalter, aber strahlend sonniger Märztag. In den breiten Halmen des Winterweizens versteckt hält ein Pärchen Feldlerchen einen lebhaften Disput über geeignete Nistplätze. Doch Jorind hört kaum hin. Auch eine frische Dachsfährte bleibt unbemerkt.

In Gedanken ist sie bei dem Buch, in das sie sich seit mehreren Tagen in jeder freien Minute vertieft. Es handelt sich um die Originalausgabe der Charles-Waterton-Biografie von Julia Blackburn.

Wie sie auf dieses Buch gestoßen ist, kann sie nicht mehr genau nachvollziehen, vermutlich durch einen Hinweis in einer früheren Lektüre. Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht, also hat sie sich das englische E-Book heruntergeladen. Es ist in leichter Sprache geschrieben und macht ihr keine Mühe.

Diesen Menschen hätte sie gerne gekannt, sinniert sie. Ein Kauz und Original von selbst für britische Verhältnisse ungewöhnlichem Format.

Wobei, wie Jorind findet, die englische Gepflogenheit, Kinder in jungen Jahren in Internate zu schicken, wo sie den Schikanen, Grausamkeiten und Übergriffen von Lehrerschaft und Mitschülern schutzlos ausgeliefert sind - wobei diese Unsitte allein schon für reichlich Nachschub an Exzentrikern sorgen dürfte.

Doch dieser Aspekt von Watertons Persönlichkeit ist es nicht, der Jorind interessiert. Sie spürt dem Erforscher der Urwälder Guyanas nach, dem bedeutenden Tierpräparator, dem, laut David Attenborough, ersten Menschen überhaupt, der die Bedeutung des Naturschutzes erkannte.

In einer Zeit, als seine Nachbarn noch alles schossen, was ihnen vor die Flinte kam, und sich gar rühmten, das letzte Exemplar dieser und jener Art in ganz Yorkshire erlegt zu haben - in dieser Zeit, den frühen 1820ern, versuchte Waterton bereits, selten gewordene Vögel in seinen Landbesitz zurückzulocken. „Invitations“ nannte er seine Unternehmungen. Er baute Höhlen und Nistplätze in Mauernischen, Scheunen und hohlen Baumstämmen.

Nachdem er auf seinen „Wanderings“ genannten Streifzügen durch Südamerika die Rolle des Efeus als Versteck für Vögel aller Art erkannt hatte, verwandte er viel Zeit und Energie darauf, sein Land mit Efeusetzlingen zu bestücken.

Und um seinen Besitz vor schädlichen Umwelteinflüssen zu schützen, ließ er eine 5 km lange Mauer errichten, über 2 m hoch und noch heute in Yorkshire zu besichtigen.

Für Nachbarn und Bekannte blieb er der wunderliche, leicht verrückte Einzelgänger, der barfuß über sein Land streifte und oft tage- und nächtelang in Bäumen saß, um Vögel oder eine Fuchsfamilie zu beobachten.

Für viele Wissenschaftler aber ist er bis heute ein bedeutender und inspirierender Mensch, der Schöpfer äußerst lebensecht wirkender Tierpräparate. Auch mit der Erforschung des Pfeilgiftes Curare ist sein Name eng verbunden.

„Ach ja, und noch zu seinen Lebzeiten ist ein Naturpark in Kanada nach ihm benannt worden“, sagt Jorind zu niemand im Besonderen. „Das hat ihm bestimmt gefallen.“ Sie fängt an, junge Blättchen von Storchenschnabel und Löwenzahn zu sammeln, für einen kleinen Wildkräutersalat. Und dann hat sie es plötzlich eilig, zu ihrem Buch zurückzukommen. Mal schauen, was es über den barfüßigen Forscher noch so alles zu erfahren gibt.
Waterton‘s Wall in Yorkshire
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Von Urkalk und Quarziten oder:
Einmal mit dem Gletscher reisen

Selten hat ein Weg sie so herausgefordert wie dieser Geo-Lehrpfad, ein knapp 2 km langer grasiger Weg zwischen mächtigen Findlingen, flankiert von Schaubildern und Hinweistafeln. Eine volle Stunde haben Jorind und Zuma gebraucht, da jede Abbildung gründlich studiert, jedes Schild aufmerksam gelesen und jeder Stein mit den angegebenen Merkmalen verglichen werden musste.

Vom Kreislauf der Gesteine war die Rede, von aufsteigender Gesteinsschmelze, von Europa unter Eis, von Jura, Kreide und Tertiär, vom Leben im Pleistozän und versteinerten Mammutbäumen.

Wie das Inlandeis den Leipziger Raum eroberte, war da zu lesen, und warum Feldsteinhaufen solch wertvolle Lebensräume für Vögel, Reptilien und Kleinsäuger sind.

Und die vielen neuen Vokabeln! Geschiebemergel und Sandersande gab es da, Aufschmelzen und Segmentierung, Magmatische und Metamorphe Gesteine.

Jorind war beeindruckt. Wie schön von den Schweden, dass sie den Thüringern geholfen haben, hier einen solchen Lehrpfad einzurichten! Bestimmt handelte es sich um ein Gemeinschaftsprojekt zweier Partnerstädte oder Universitäten. Und diese vielen schweren Felsbrocken, alle aus Skandinavien herbei gekarrt!

Ob Granodiorit oder Ahland-Granit, Augengneis, Kalksand, Migmatit oder Pegmatit - in jedem Fall war als Ursprungsgebiet Schweden, Finnland oder Estland angegeben.

Was für eine logistische Herausforderung! Ob die über hundert Findlinge mit Bahn oder LKW transportiert worden waren? Oder per Schiff über die Elbe?

Schließlich war Jorind am letzten Schaubild angekommen. „Zeittafel geologischer Lehrpfad“ stand da, und zum Zeitraum 1989-1991:
„Antransport von 189 Findlingen aus den Tagebauen Schleenhain, Groitzscher Dreieck und Peres.“

Jorind war sprachlos. Sie war so perplex, dass ihr tatsächlich der Mund offen blieb. Echt jetzt? Die Felsbrocken stammten gar nicht aus Skandinavien, sondern aus dem Kohletagebau hier um die Ecke? Also keine logistische Herausforderung, kein Mammutprojekt per Schiff, LKW oder Bahn. Stattdessen waren die Findlinge, jeder einzelne von ihnen, ganz simpel und über Jahrtausende in kilometerhohen Gletschern angereist.


Also doch aus Skandinavien, allerdings ohne Rückfahrschein. Der Gletscher hatte sie einfach beim Abschmelzen hier im Schnaudertal sitzenlassen.

Das kann ich keinem erzählen, dachte Jorind, das glaubt mir niemand. Dass ich mich so vertun konnte ... Sie schämte sich ein wenig, es war ihr peinlich, sich so geirrt zu haben. Auf dem Rückweg erholte sie sich allmählich und hatte bald das Gefühl, sich zum Ausgleich für ihr angeschlagenes Ego ein bißchen über die Steine lustig machen zu müssen. Und als sie beim Auto angekommen waren, hatte sie zwei Limericks gebastelt, die sie sogleich dem Hund zu Gehör brachte ...

„Der König von Urkalkanien
fand Petunien zwischen Geranien.
„Den Gärtner herbei!
Das ist zweierlei!
Wir müssen das alles neu planien!“

Der Hund zeigte sich unbeeindruckt.

„Naja, war dir wohl zu brav. Hier was Schlüpfriges:
Der Urkalk sprach zur Quarzite:
„Was hast du ne formschöne Titte!
Geschiebe, Gemenge
in meinem Gehänge
führt zum Aufstand schon in meiner Mitte!“

Zuma wälzte sich im Frühlingsgras und fuhr mit den Pfoten durch die Luft.

Jorind lachte. „Das nehm ich als Applaus.“
**********gosto Frau
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Themenersteller 
Seltene Begegnung

Jorind sitzt auf einer wackligen Bank hoch über dem Elstertal und schaut in die Runde. Ihre Hündin Zuma hat sich auf die Suche nach interessanten Gerüchen begeben und versenkt die Nase in Erdlöcher.

Jorind ist in Gedanken versunken. Eine leichte
Bewegung auf der Erde lässt sie zu Boden blicken. Direkt neben ihren klobigen Wanderstiefeln ist ein winziger Vogel gelandet. Sie sieht ein olivgrünes Federkleid, am Köpfchen einen intensiv orangegelben Streifen, der durch seine schwarze Umrandung noch an Leuchtkraft gewinnt. Das wundersame Geschöpf ist vom Schnabel bis zur Schwanzspitze nicht größer als ein Hühnerei!

Vor Überraschung muss sie sich geregt haben, denn schon fliegt es auf, mit einem schwirrenden Flügelschlag und einem kaum hörbaren Flötenlaut ist es aus ihrem Blickfeld verschwunden.


Jorind ist bezaubert. Als sie wieder zuhause ist, sucht sie aus den Bücherregalen alle Vogelbücher heraus, setzt sich mit dem Stapel in ihren Schmökersessel und versenkt sich in ornithologische Studien. Noch ganz im Bann dieser Begegnung nimmt sie ihren Laptop auf den Schoß und fasst ihre Eindrücke zusammen:

Kleiner König (Regulus regulus)

Einmal nur sah ich dich
Für einen Augenblick
Über dem Elstertal
Dicht an meinem Stiefel.

Schnell wie ein Wimpernschlag
Schwirrtest du himmelwärts,
Hoch und fein die Stimme,
Zartester Flötenton.

Leuchtendgelb, orangerot,
Schwarzumgrenzt das Krönchen,
Um dessentwillen du
„Kleiner König“ genannt.

Gelbgrün das Gefieder,
Flügelbinde doppelt,
Passt du von Kopf bis Schwanz
Noch in ein Hühnerei.

Hoch in Nadelbäumen
Baust du dein Hängenest
Kugelförmig aus Moos,
Spinnweben und Federn.

Bleibst auch im Winter hier,
Während den Zwilling du,
Den sommerverwöhnten,
Mittelmeerwärts lässt ziehn.

Bleibst, scheuester Nachbar,
Eindrücklich mir im Sinn,
König der Winzlinge,
Wintergoldhähnchen!

Der Zauber dieser Begegnung hält noch lange an. Jorind nimmt auf ihre Wanderungen ein Fernglas mit, schaut gebannt dem Treiben ihrer gefiederten Nachbarn zu, liest in Bestimmungsbüchern nach, legt eine Liste der beobachteten Arten an. Es sind immer mehr, die der Frühling nach Norden lockt, weit mehr als sie mit Namen kennt.
Wintergoldhähnchen
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Themenersteller 
Die Feuerholzsuche


Jorind schlug die Augen auf und blinzelte in die Morgensonne. Die erste halbe Stunde war stets dem Tagesplan gewidmet: Was war zu tun, was konnte getrost verschoben werden, welche Unwägbarkeiten gab es zu bedenken?
Der Einkauf von Lebensmitteln konnte bis morgen warten, auch die Holzbriketts für den Kaminofen, die einzige Wärmequelle, reichten noch mindestens einen Tag. Obwohl ... wenn sie es recht bedachte, wäre es nicht verkehrt, sich nochmal einen ordentlichen Vorrat an Brennholz zu beschaffen. Wer weiß, dachte sie, wie lange der Baumarkt noch offen hat.

Allerdings gab es da ein Problem: Bei ihrem „kleinen grünen Frosch“, wie sie ihr Auto liebevoll nannte, war der TÜV abgelaufen, seit zwei Tagen schon. Ihr Werkstattmann hatte ihr versichert, es sei ausgeschlossen, das Fahrzeug noch zwei weitere Jahre am Laufen zu halten, zu groß der Aufwand, zu teuer die fälligen Reparaturen.

Ein Ersatz war schnell gefunden, ein Renault Clio, 14 Jahre alt, aber noch gut in Schluss. Es gab allerdings zur Zeit keine Möglichkeit, ein Auto an- oder abzumelden, denn die Zulassungsstelle in der Kreisstadt hatte - der Corona-Krise geschuldet - die Schotten dicht gemacht. Der Renault blieb vorerst, wo er war.

Also müsste sie mit ihrem Frosch „mit ohne TÜV“ durch die Gegend fahren, und das zu einer Zeit, in der die Präsenz der Polizei, selbst hier in der tiefsten Provinz Thüringens, spürbar zugenommen hatte.

Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, angehalten und kontrolliert zu werden? Und wenn sie durch einen blöden Zufall in einen Unfall verwickelt wurde? Ging mit dem abgelaufenen TÜV nicht auch der Versicherungsschutz verloren? Sie war sich nicht ganz sicher, aber dass es eine Menge Ärger geben könnte, soviel stand fest.

Ob der Frosch überhaupt anspringen würde? Sie sah auf die Wetter-App: -2 Grad. Das sah nicht gut aus. Der alte Diesel hatte letzte Woche schon mal gestreikt, und es hatte der Hilfe ihres Werkstattmannes bedurft, ihn wieder in Gang zu bringen.

Als sie eine Stunde später aus der Tür trat, war es schon etwas wärmer geworden, die Kraft der Sonne war trotz der eisigen Luft spürbar.

Dennoch zögerte sie. Wenn der erste Start mißlang, würde es kaum möglich sein, den Motor überhaupt in Gang zu bringen, das hatte sie die Erfahrung gelehrt. Sie würde die Fahrt zum Baumarkt doch noch verschieben, auf wärmeres Wetter warten. Vielleicht würde ja nächste Woche der April mit Macht den Frühling zurückbringen und sie bräuchte überhaupt kein Kaminfeuer mehr?

Die nächste halbe Stunde verbrachte sie mit dem Versuch, ihr altes Rad in Gang zu bringen. Es war auf beiden Reifen platt und wollte sich auch partout nicht aufpumpen lassen. Vielleicht waren die Ventile defekt. Jorind schob es resigniert zurück in den Schuppen und entschloss sich, dem Auto doch noch einen Versuch zu geben. Als es - sie hielt den Atem an - anstandslos und promt ansprang, spürte sie eine wilde Freude in sich aufsteigen.
„Alle Mann an Deck! Fertigmachen zum Entern!“ rief sie dem Hund zu, der schon auf die Rückbank gesprungen war, und fühlte sich in kindliche Abenteuerlust verfallen.

An der Kreuzung, an der sie auf die Bundesstraße einbiegen musste, hätte sie fast dem Gegenverkehr die Vorfahrt genommen und rief sich zur Ordnung.
Vorsicht, meine Hübsche, mahnte sie sich, ein Unfall ist das Letzte, was wir heute gebrauchen können!

Trotz der frühen Stunde herrschte auf dem Gelände des Baumarkts bereits reger Betrieb. Offenbar waren Gartenbesitzer und Heimwerker wild entschlossen, sich in alle möglichen Projekte zu stürzen. Wahrscheinlich war Jorind nicht die einzige, die sich fragte, wie lange der Markt überhaupt noch offen hatte.

Sie musste lächeln, als sie an einen Podcast dachte, den sie sich am Tag zuvor angehört hatte. Der SPD-Politiker und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach war gefragt worden, ob er denn schon mal gehamstert habe, und wenn ja, was?
Er hatte geantwortet: „Wenn, dann würde ich es nicht zugeben.“ Nein, gehamstert habe er nicht, aber sich gut bevorratet, „mit Haferflocken, Nüssen und Zimt. Damit kann ich monatelang auskommen.“

Der Tag fühlte sich an wie ein Hindernislauf. Jorind bekam den schweren Einkaufswagen nicht frei, seine Rollräder wollten sich nicht grade stellen. Promt kam ihr ein freundlicher Mann zur Hilfe, zerrte, dicht neben ihr stehend, den Wagen aus der Verankerung und zeigte ihr noch hilfsbereit den Trick, wie man mit einem kräftigen Ruck die Räder in die Gerade zwingen konnte.

Von wegen 2 Meter Abstand, dachte sie, wie soll das gehen, wenn alle hier so unbekümmert herumspringen? Sie steuerte auf die Ecke zu, in der die Holzbriketts zwischen Riesenbergen von Grillkohlesäcken ihren Platz hatten. Dort tat sich eine Lücke auf. Die Palette war leer. Es gab keine Holzbriketts mehr.
So ein Mist! Sie würde das teure Kaminholz nehmen müssen, Birken- und Buchenscheite. Oder gab es vielleicht in den Tiefen des Marktes, im Garten- und Außenbereich noch eine versteckte Palette Holzbriketts zu entdecken?

Sie kam nur langsam vorwärts. Die Gänge waren schmal, und wenn jemand stehenblieb, um sich etwas genauer anzuschauen oder gar in einem Regal herumkramte, gab es keine Möglichkeit, mit „2 Metern Abstand“ vorbeizukommen. Immer wieder musste sie warten, bis sich die Möglichkeit ergab, in einen Seitengang auszuweichen, um allzu engen Kontakt zu vermeiden. Allerdings, soviel sei der Wahrheit zuliebe gesagt, waren die meisten Kunden achtsam und umsichtig, einige aber eben auch betont sorglos und unbekümmert.

Sie verstand das gut, auch sie war im Grunde ihres Herzens Rebellin, vielleicht gar Anarchistin, auf jeden Fall eine Piratentochter, und würde sich nie unhinterfragt und widerstandslos irgendwelchen Anweisungen fügen.

Im Außenbereich angekommen, fragte sie den erstbesten Angestellten nach Holzbriketts. Der zeigte, ohne sich beim Kehren stören zu lassen, auf einen Kollegen, und Jorind wiederholte ihre Frage.

Der Mann verneinte. Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ich kann aber mal schauen, ob ich noch was finde.“ Er sprang von seiner Leiter und machte sich auf die Suche. Jorind wartete. Nach einer kleinen Ewigkeit tauchte er wieder auf und schüttelte schon von weitem den Kopf. „Alles alle!“, rief er, „ich weiß auch nicht, wann wir wieder was reinkriegen.“
Jorind bedankte sich artig. „Dann muss ich eben das teure Kaminholz nehmen.“
Sie war auf dem mühevollen Rückweg durch die vollen Gänge, als er plötzlich eilig hinter ihr her kam.

„Ich hab doch noch eine Palette gefunden! Kommen Sie!“ Einigermaßen mühsam steuerte sie wieder zurück. Schließlich kamen sie wieder im Außenbereich an.
„Warten Sie hier“, wies er sie an, „Ich muss nur schnell einem Kunden den Hänger beladen. In drei Minuten bin ich wieder da.“


Aus den drei Minuten wurden zehn, aber dann war er wieder zur Stelle, führte sie zu seinem Fundstück von Palette und belud ihr den Einkaufswagen, obwohl sie beteuerte, dies auch selbst zu können, „falls Sie noch was Anderes zu tun haben“, meinte sie treuherzig. Er winkte nur ab und sie ergab sich darein, ihm beim Laden zuzuschauen.

Als sie sich verabschiedete, nicht ohne sich nochmal bedankt zu haben, war sie so froh, dass sie in einem Anflug von Flirtlaune sagte: „Da haben Sie heute jemanden sehr glücklich gemacht.“
Er behielt seine würdevolle Miene bei, schien sich aber doch zu freuen, denn als sie begann, den schweren Einkaufswagen mit 12x10 kg Holzbriketts vor sich her zu schieben, sprang er hinzu und zeigte ihr, wie man sehr viel besser zurechtkam, wenn man die Last mit einer Hand hinter sich her zog.
Seufzend folgte sie seinem Rat, denn sie wollte ihn nicht kränken, aber er konnte ja auch nicht wissen, dass sie seit ihrem schweren Reitunfall das Schieben leichter fand als das Ziehen.

An den Kassen gab es drei lange Schlangen, aber sie hatte Glück und konnte sich am Weinregal einreihen und ihren Holzbrikettberg mit zwei Flaschen krönen.

Sie war nämlich nicht abgeneigt, die erfolgreiche Suche nach Feuerholz mit einem Gläschen Glühwein zu feiern. *wein*
Wieder daheim
**********gosto Frau
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Ein triftiger Grund

Heute ist Jorind in Sachsen-Anhalt unterwegs. Von ihrem Dörfchen in Thüringen ist es nur ein Katzensprung nach Sachsen oder Sachsen-Anhalt, denn sie wohnt in einem Dreiländereck.
Hinter Zeitz mit seiner geschäftigen Zuckerfabrik liegt ein kleiner See mit einer Jugendherberge, die allerdings zur Zeit, wie so vieles, geschlossen ist.
Dem Pfad am See entlang folgend gelangt sie auf einen flachen Höhenzug. Hier hat man einen weiten Rundblick. Auf beiden Seiten des steinigen Feldwegs erstrecken sich endlose Rapsfelder in leuchtendem Gelb. Der Himmel wölbt sich wie eine umgedrehte Schüssel in makellosem Blau. Keine Kondensstreifen, die auf Flugverkehr hindeuten würden. In „normalen“ Zeiten sind hier Dutzende Flugzeuge gleichzeitig in der Luft, heute keins.
„Nicht eins!“, stellt Jorind fest und wendet sich an den Hund. „Schon ein wenig unheimlich, diese Stille. Und auch sonst ...“. Sie lauscht. Im Raps sind zwei Feldlerchen zu hören, die lebhaft diskutieren. Was fehlt?
„Die Insekten“, stellt Jorind fest, „in den Millionen Blüten müssten doch Millionen Bienen und Fliegen herumsummen. Bestimmt der kalte Wind ...“
Ja, das wird es sein. Wenn es etwas wärmer ist, wird die Summerei schon losgehen. Kein Grund, sich jetzt über das Insektensterben zu sorgen.

Auf der Rückfahrt durch Zeitz wird sie von einer Verkehrskontrolle zum Anhalten genötigt. Hinter zwei Fahrzeugen der Autobahnmeisterei Sachsen-Anhalt kommt ihr „kleiner grüner Frosch“ zum Stehen.

„Straßenbauamt Weißenfels“, glaubt sie zu verstehen, „Können Sie mir bitte Grund und Ziel Ihrer Fahrt sagen?“
„Ich fahre jetzt nach Hause“, sagt sie zu dem kleinen freundlichen Typen, der sie angehalten hat. „Ich war Wandern an der Jugendherberge.“ Sie fährt mir der Hand durch die Luft, um den Weg um den See anzudeuten.

„Ok, das ist ein triftiger Grund“, meint der Mann, „kann ich bitte Ihren Führerschein sehen?“
„Der ist hinten drin.“ Sie deutet mit dem Daumen über die Schulter. Auf sein zustimmendes Nicken hin steigt sie aus, öffnet den Kofferraum und kramt im Rucksack nach ihren Papieren. Sie hält ihm das lachsfarbene Dokument hin.
„Klappen Sie ihn bitte auf.“ Sie tut wie geheißen.
„Danke, das war`s schon. Ich wünsche Ihnen eine gute Weiterfahrt und einen schönen Tag.“

„Puuh, das war knapp!“, meint sie zum Hund, als sie sich betont entspannt auf die Bundesstraße einfädelt. „Bei einer normalen Polizeikontrolle wären wir nicht so glimpflich davongekommen.“

Aber in diesen Zeiten ist eben nichts normal. Seit vierzehn Tagen ist sie mit ihrem alten Diesel schon ohne TÜV unterwegs. Das „neue“ alte Auto, das sie kaufen will, kann nicht angemeldet werden, weil die Zulassungsstelle geschlossen ist.

Aber immerhin ist Wandern „ein triftiger Grund“, um unterwegs zu sein.
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