Die weinende Welt
Missbrauch hat viele Gesichter. Sofia lehnt sich zurück, lässt sacken, was die letzten 24 Stunden geschehen ist und lässt ihr Ich in die Welt hinaus schweifen, um sich von ihr ansprechen zu lassen. Sie möchte lauschen dem Wind, der ihr die Geschichten der Welt erzählt, so wie er es seit Ihrer Kindheit tut. Seit sie Kind ist, hört sie die Stimmen der Welt, fühlt die Stimmung der Welt. Der Wind trägt die Weltgeschichten an ihr Ohr."Der Mensch ist ein mächtiges Wesen," denkt Sofia, als sie dem Brombeerbusch im Garten gewahr wird. "Wie die Brombeere trachtet er nach oben, ins Licht und verschafft sich Raum. Der Brombeerbusch tut das, um zu überleben, um sein Da-Sein so gut wie möglich zu nutzen. Und der Mensch? Tut er nicht dasselbe? Strebt nicht auch er nach oben, ins Licht? Tut er nicht alles, was er tut, eines unsichtbaren, sinnvollen Zieles wegen, mag sein Tun auch noch so sinnlos scheinen?"
"Könnte es sein, dass der Mensch das tut, was er tut, deswegen tut, damit er geliebt, gebraucht, geachtet wird, damit er zu Menschen dazugehört? Könnte es sein, dass Mensch das tut, weil der Mensch im Vergleich zum Brombeerbusch ein soziales Wesen ist, welches Menschen braucht um Mensch zu sein und Mit-Mensch zu werden? Ist der Mensch damit nicht ein kleines, bedürftiges Wesen, welches Menschen braucht, um an Größe und Stärke zu gewinnen?" denkt Sofia so in sich hinein und streichelt ein wenig das dornige Gestrüpp des Brombeerbusches.
Geschehen nicht gerade wegen dieser unbewussten Ziele der Menschen und der damit einhergehenden Frustrationen und Enttäuschungen, auch die schrecklichsten Verbrechen? Geschehen nicht deswegen sämtliche Missbräuche dieser Welt und sogar schlimmeres? Sofia lässt den Blick schweifen und der Wind säuselt um ihr Ohr. Sie hört die Welt wie sie leise weint. Fast tonlos, aber es ist ein Weinen, wie das von einem Kind. Ab und an kommt ein kleiner Schluchzer und mit ihm schickt der Wind, Sofia eine Weltgeschichte.
Zunächst ihre Eigene. Hatte der Fremde der sich als Freund ausgab das Recht, ohne sie zu fragen, ohne ihr Fragen zu stellen, ohne sie überhaupt auch nur annähernd zu kennen, ihr so nahe zu treten, sich ein Urteil zu bilden, sich solch ein schräges Bild von ihr zu machen? Hatte sie selbst das Recht, ihn so barsch zurück zu stoßen, dass er sich erschreckt zurückzog? Hatte die Fremde das Recht, ohne sie zu fragen, ohne sie um Erlaubnis zu bitten, ihre Liebesgeschichte einfach zu nehmen und in ein anderes Forum zu tragen, um sich dort damit zu schmücken? Hatte die andere Fremde das Recht, sich selbst mit fremden Federn zu schmücken und sich andere zu Dienste zu machen, um sie beklatschen zu lassen?
Wie sagte in den letzten 24 Stunden eine Freundin in einem ähnlichen Zusammenhang: „Wenn man, so sehr „missbraucht“ wurde, ist das hart, sehr hart.“ Das Wort klingt seitdem in ihren Ohren nach. So hart hat sie selbst das Geschehene doch gar nicht ausgedrückt, geschweige ihr Eigenes als Missbrauch gewertet. "Aber vielleicht geht es tatsächlich darum?" denkt Sofia. "Vielleicht sind viele Phänomene dieser Welt ein einziger Missbrauch, doch nur wenige sehen ihn und noch weniger Menschen handeln."
Missbrauch, ein Begriff aus dem Mittelhochdeutschen der soviel bedeutet, wie, eine Sache oder eine Person entgegen ihres Zwecks oder ihrer Bestimmung falsch oder fehl zu gebrauchen oder einzusetzen. Die Sache oder der Mensch werden quasi zweckentfremdet. Hinter dieser Zweckentfremdung stehen wiederum Menschen. Menschen, die klein, bedürftig sind, sich minderwertig fühlen und sich bewusst oder unbewusst nicht anders zu helfen wissen, als zu miss-brauchen. Das Schändliche und Verletzende an Missbrauch ist der Raub der Selbstbestimmung, denkt Sofia.
Ja, ihr ist Unrecht geschehen, in den letzten 24 Stunden, die eine Missbrauchskomponente haben. Es ging um das schmücken mit fremden Federn, um sich selbst in ein besseres Licht zu stellen, ein wenig Sonne abzukriegen, also das sich vergehen an einer Sache und diese Zweck zu entfremden. Auch ging es um Missbrauch an dem Menschen dieser Sache selbst, zu dem Zweck, diesen Menschen zweck zu entfremden und einem eigenen Zweck unterzuordnen. Ziel solch eines Missbrauchs ist es stets, sich selbst zu erhöhen und sich selbst Lorbeerkränze aufzusetzen. Dahinter steckt eine tiefe Bedürftigkeit nach Aufmerksamkeit, Bedeutung und Zu-Neigung. Dafür gehen einige Menschen auch über Leichen!
Statt weiter zu grübeln, zieht es Sofia vor, dem Wind und seinen Geschichten über den Missbrauch in der Welt zu lauschen. Dazu muss sie ganz still und aufmerksam sein, sich öffnen und hingeben an die Welt und mitfühlend dem lauschen, was der Wind an ihr Ohr trägt. Sofia lauscht...
Viele Geschichten sind es gewesen, die der Wind an Sofias Ohr trug, als die blaue Nacht herbei kam, um den Wind abzulösen. Bis tief in die Nacht, erzählte die Welt ihre vielen traurigen Geschichten.
Die Welt weint, denn sie fühlt sich so, wie eine geschundene, missbrauchte Frau.
- Ihre Wälder werden abgeholzt, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Menschliche Profitgier steht hinter dem Missbrauch. Sie nehmen sich, was sie glauben, dass es ihnen gehört.
- Ihre Meere werden leer gefischt. So viel Fisch wie täglich gefangen wird, kann gar nicht gefressen werden, doch den Menschen kümmert das nicht. Geld heiligt die Mittel.
- Ihre Luft wird verpestet so, dass die Polkappen langsam abschmelzen. Auf sie und ihre Kinder wird keine Rücksicht genommen. Luft, Erde, Wasser, die Tiere, die vielen Menschen….Die Brombeermenschen kennen keine Gnade.
- Die Weltwirtschaft, eine unsichtbare Geliebte vieler Menschen ist mächtig und herrschend geworden. Ihr wird gerne gedient. Ihr werden gerne viele Dinge missbräuchlich in die Hände gespielt, die eigentlich der Welt gehören.
- Selbst ihr Verwandter, der Weltfrieden, muss herhalten für so manchen Missbrauch mit Kalkül, damit sich Leute mit ihm schmücken können, Staaten mit ihm brüsten, eine Legitimation für Krieg gefunden ist.
Die Welt weint, weil sie selbst als Mutter Erde, die Menschen auf ihr und an ihrer Mutterbrust weinen hört. Missbrauchte Menschen, jeglichen Alters, jeglicher Couleur.
- Sie hört den 2 monatigen Klaus, wie er in seinem Bettchen liegt und einsam vor sich hin weint. Seine Eltern sind an der Glotze und wollen sich nicht stören lassen. Klaus Ruf nach Liebe, Zuwendung bleibt ungehört. Klaus Da-Sein wird zweckentfremdet. Er soll den Eltern gemäß existieren. Er wird missbraucht.
- Sie hört die 6 monatige Luisa. Sie will keine Karotten essen, doch ihre Mutter kennt keine Gnade. Ihr wird die Nase zugehalten, so dass sie den Mund aufmachen muss. Das Essen wird ihr so eingegeben, bis alles leer ist…jedes Mal, wenn du Mutter meint, dass Essenszeit ist. Luisa wird missbraucht.
- Sie hört den 2 jährigen Niclas, der gerade freudig die Welt erobern möchte und auf ein Klettergerüst steigt. „Geh da runter, du fällst“ schreit die Mutter ihn an. Niclas soll der Angst der Mutter dienen. Er wird missbraucht.
- Sie hört die 4 jährige Jasmin. „Du kannst noch keine Schuhe binden. Lass mich das machen“, sagt die Mutter. Jasmin wird missbraucht, damit die Mutter wichtig und bedeutsam bleibt.
- Sie hört die 7 jährige Kerstin. „Du musst mir aber bei den Hausaufgaben helfen, das kann ich nicht.“ Die Mutter von Kerstin wird missbraucht, um dem Kind ungebührliche Aufmerksamkeit zu schenken.
- Sie hört die 9 jährige Tina. „Wenn du nicht sofort das und das für mich tust, dann bist du nicht mehr meine Freundin.“ Carola, ihre Freundin wird missbraucht.
- Sie hört den 12 jährigen Tim. „Du bist ein Streber und Streber gehören nicht zu unserer Clique; nur wenn du uns das ganze nächste Jahr abschreiben lässt und uns zu guten Noten verhilfst.“ Tim wird missbraucht.
- Sie hört die 14 jährige Amelie. „Ich mag dich, aber ich will nicht mit dir schlafen. Bring mich nach hause.“ Eine Stunde später hört man sie schluchzen. Sie wurde von einem 19 jährigen vergewaltigt, der sagte er würde sie lieben…Amelie wurde missbraucht.
- Sie hört die 20 jährige Gerlinde. „Ich liebe dich, Clemens“ Was sie nicht sagt. „Ich will deinen Status und deine dicke Brieftasche“. Clemens wird missbraucht.
- Sie hört die 30 jährige Tabea. „Der Papa ist abgehauen. Jetzt spreche ich eben mit dir über meine Probleme. Du verlässt mich niemals.“ Der Sohn von Tabea wird als Partnerersatz missbraucht.
- Sie hört den 40 jährigen Stephan. „Ich verlasse dich, weil du meine Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr erfüllst.“ Stephan missbraucht seine Freundin, weil sie sich nicht mehr missbrauchen lässt.
- „Bis morgen haben Sie mir das Konzept auf den Tisch zu legen.“ Chefs missbrauchen ihre Angestellten, weil sie diese nicht fragen, bitten, sondern diese unterwerfen.
- Mehr als die Hälfte der Angestellten großer Unternehmer sind nicht nach ihren Talenten eingesetzt. Sie werden auf Positionen gestellt, die nicht ihren Neigungen entsprechen. Sie werden missbraucht.
- „Ich habe keinen Bock mehr, mir hier meinen Arsch aufzureißen. Ich mache hier gar nichts mehr und warte auf meinen Urlaub.“ Hier wird eine Arbeitsstelle missbraucht, um Urlaub auf Kosten Anderer zu machen.
- „Du bist“….eine Missbrauchskeule der besonderen Art. Sie stellt den Menschen als Bild in eine fremdbestimmte Ecke. Der Mensch ist dagegen macht-los und missbraucht, vom Du bist-Sager und seinen Zwecken. Die Welt erzählt, dass das in jedem Land dieser Erde täglich milliardenfach geschieht. You are silly….tu est un idiot…stronzo…Es hallt in Sofias Garten. Für eine Weile hört Sofia den Wind nicht mehr, so laut ist dieses Getöse.
- „Ich will dir doch nur helfen“, sagen viele, vielleicht gar unzählige „Freunde“. Als „Hobby-Therapeuten“ ohne Auftrag, missbrauchen Sie ihre Freunde, um sich selbst wichtig zu machen und zu erhöhen und um ihre eigene Hilflosigkeit und Bedürftigkeit zu überdecken.
- Ihre Idee gefällt mir, aber zahlen möchte ich dafür nichts. Ideenklau, Urheberrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Die Kreativität von Menschen wird missbraucht, um sich selbst zu bereichern; monetärer oder ideeller Art. Wie sagte vor drei Tagen eine bekannte Anwältin zu Sofia mit einem bitteren Lächeln im Gesicht.“Ein Gutes hat das ja. ICH werde nie arbeitslos, es sei denn, alle Kreativen stellen plötzlich ihre Arbeit ein. Dann gibt es keinen Klau mehr aber wahrscheinlich auch nichts Schönes mehr in der Welt.“
Es ist schon 23.00 Uhr, als der Wind aufgehört hat, Geschichten an Sofias Ohr zu tragen und draußen macht die Welt die Pforten auf und schickt einen mächtigen Regenguss auf die Veranda zu Sofia herab. Jetzt ist der Regen bereits ruhiger geworden, wie die Tränen, die langsam das bittere weggewaschen haben und mit seinem Wasser das frische, neue, saubere hineinlassen. Sofia bleibt trotzdem draußen und ganz und gar offen für die Stimme und Stimmung der Welt. Sie selbst weint ebenfalls Tränen, Tränen des Abschieds, Tränen der Erneuerung und des Mitgefühls. Tränen der Liebe für sich selbst, für die missbrauchten Menschen und die weinende Welt selbst.
Gleich einer großen Mutter schickt Sofia der Welt ein Stück ihrer Herzenswärme und umarmt sie ganz sanft und zärtlich, wischt ihr gedanklich eine Träne aus dem Gesicht und bleibt einfach ganz still in ihrem Schoß sitzen und schweigt.
Als der Regen und die Tränen aufgehört haben, erzählt Sofia der Welt eine Geschichte, eine gute Nacht Geschichte, wie sie es sooft tut.
Und plötzlich hört sie, wie andere Sofias in Nah und Fern dieser unserer geschundenen Welt, unserer großen Mutter Erde, ebenfalls eine gute Nacht Geschichte erzählen. Viele, viele Geschichten
zum lachen, zum staunen, zum träumen, zum denken, zum schmunzeln, zum lieben, zum lebendig sein, um wieder aufzustehen, den Weg nicht aus den Augen zu verlieren, um angeregt oder erregt zu werden, um Lust zu bekommen, mit dem geliebten Partner Liebe zu machen, um die Menschen in ferne Länder zu entführen, um die Fantasie anzuregen, um Zeit zu verschwenden an ein 8-Worte-Spiel, weil es einfach Freude macht und Muse einfach ein wertvolles Stück Lebensqualität bedeutet, weil das Leben bereits ernst genug ist...
…und um einfach mal zu vergessen
vergessen was war,
vergessen was ist,
vergessen was sein wird
und sich wohlig in Morpheus Arme zu legen und zu schlafen.
„Mensch ist Mensch, ist Mensch, ist Mensch,“ flüstert die Welt und wünscht uns allen eine gute Nacht.
(Diotimavera 21.06.09)
************
und ich Euch eine sonnige Sommerwoche, voller guten Ideen.
Gerne nehme ich heute mal Kritik entgegen, frei nach dem Motto: "Das war schon ganz gut"...
Aber auch Tipps wo ich mal wieder die Zeiten nicht stringent beachtet habe. Das ist für mich eine echte Knacknuss...