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Metamorphosis

Metamorphosis
Aufsatz Claire-Marie Freibauer, Stufe 8, 16 Jahre,
P-ID 141.855.933.17-635 (Vorbereitung Reifeeinschätzung, 06/01/2032)

Themenvorgabe: ‚Vorteile der heutigen Zeit – mein Alltag‘

Auf unserem kleinen Hof geht es gut voran. Wir können die Familie und die acht Helfer, die uns fest zugeteilt wurden, ernähren, und darüber hinaus eine Menge Primär-Erzeugnisse für die allgemeine Versorgung abliefern. Sicher, die Arbeit ist hart, aber mit der Unterstützung der Hilfskräfte lässt es sich machen.

Das Hauptproblem war lange Zeit, dass wir nicht mehr wie früher werkeln können. Opa schimpft immer darüber. Der ist nur am Fluchen, weil die ganzen hilfreichen Mittel verboten worden sind. Kein Kunstdünger und kein Glyphosat mehr, da regt er sich am meisten drüber auf. „Scheiß Bienen“, ist oft von ihm zu hören, aber von uns Jüngeren weiß keiner, wie er das meint, doch wenn wir ihn darauf ansprechen, erklärt er nichts. Er schimpft nur.

Ach, Opa ist ohnehin ein komischer Kauz. Er hat hinterm Haupthaus, beim Hühnerstall, jedes Jahr seine drei bis fünf Hanfpflanzen stehen, die er am Ende des Sommers erntet und zum Trocknen aufhängt. Angeblich sei das früher nicht erlaubt gewesen, sagt er. Und anstatt sich auch nur einmal über etwas zu freuen, schiebt er gleich nach, dass die ‚Entkriminalisierung dieser wertvollen Heilpflanze‘ das einzig Sinnvolle sei, was die neue Regierung bis jetzt beschlossen habe.

Von wegen ‚Heilpflanzen‘: Jeden Abend nach getaner Arbeit krümelt sich Opa getrockneten Hanf in seine Pfeife. Und wenn er die fertig geraucht hat, ist er ganz friedlich. Naja, das ist schon auch eine heilende Wirkung, zumindest für uns Jüngere.

Heute haben wir im Unterricht ‚Schöne Neue Welt‘ von Aldous Huxley gelesen. Das muss man sich mal vorstellen: Da hat bereits vor über fünfzig Jahren jemand beschrieben, wie eine ideale Welt aussieht. Also, er hat praktisch in jeder Einzelheit unser heutiges Leben prognostiziert. Das Teacher-System kommentiert ja selten, aber in diesem Fall meinte es, dass es eben schon 1978 Visionäre gegeben hat, die wohl wussten, wie die Welt funktionieren kann, sie seien aber damals belächelt und nicht ernst genommen worden. Erst, als die Climate-Change-Krise vor etwa siebzehn Jahren – so um 2015 – bemerkbar wurde, begannen wohl die ersten Menschen aufzuwachen.

Bis dahin haben sie die Umwelt ausgebeutet, all ihren Dreck in die Luft und die Flüsse geleitet, sind jeder ist mit einem eigenen PVT (->Systemkorrektur falsch: PVT richtig: PKW) gefahren, zu völlig unnützen Zwecken. Ja, viel scheint früher falsch gelaufen zu sein, aber jetzt, mit der neuen Regierung finde ich das Leben richtig gut. Und natürlich freue ich mich, dass nun endlich meine Reifeeinschätzung stattfindet. Wenn ich eine ausreichende Punktzahl erringe, kann ich endlich mit dem Dating anfangen, und wer weiß? Vielleicht bekomme ich in den nächsten zwei, drei Jahren eine Realtreff-Lizenz.

*

General-Call-Center Tagesreport v. 02.06.2032
Chief-Operator Björn Kallmund, P-ID 141.852.126.62-554

Anfragen wegen Besuchserlaubnis: 342, positive Identifikation ‚dringlicher Fall‘, weitergeleitet zur Genehmigung: 41
Suizid-Präventionsgespräche: 1.138, davon weitergeleitet an Rettungskräfte: 641
Simulation Realkontakte: 78.341, davon 24 kritische Situationen, alle an Vollzugsbehörden gemeldet
Simulation Dating-Anbahnung: 23.658, davon weitergeleitet an Lizenz-Prüfungsstelle: 11.041
Allgemeine Auskünfte: 17
Identifizierte Fake-Anrufe: 0

Kommentar:

Auffällig ist die Zunahme an Suizid-Präventionsgesprächen. Unsere Mannschaft war teilweise überlastet, weil zu wenige Mitarbeiter entsprechend qualifiziert sind. Ich empfehle eine thematische Weiterbildung für mindestens fünf Prozent der geprüften Home-Operatoren in diesem Bereich und verweise auf die letzten Tages- und Wochenreporte.

Die derzeit stattfindenden Reifeeinschätzungen zum Abschluss der 8. Klasse bringen naturgemäß eine Schwemme an ‚Simulation Dating-Anbahnungen‘ mit sich, die aber durch rechtzeitige Einplanung engagierter Laien-Operatoren abgefangen werden konnte.

Im Bereich ‚Simulation Realkontakte‘ sind wir nach wie vor auf eine deutlich schnellere Verfügbarkeit der Historie und Stimmmuster-Algorithmen angewiesen, insbesondere bei nicht mehr lebenden Personen. Die kritischen Situationen steigen deutlich an. Ich verweise auf meine letzten Tages- und Wochenberichte.

Die Prüfungs-Meldung der Bewerber um eine Home-Operatorenstelle sowie fällige Sicherheitsüberprüfungen folgen in gesonderter Datei.

Sign-Out Björn Kallmund, P-ID 141.852.126.62-554

*

Watson-Main-System Cheat-In. Routine-Secure-Check. Object_of_Interest: Second Level Sergeant Rolf-Dieter Weigand, P-ID 141.854.352.98-333, identified_by_speach
Random_Voice_Record – start_recording 01-23-52-00/06/03/2032

„… heute für eine Tour, Harald?“

„Ach, Dieterle… nix Besonderes. Wir sollen allgemein Streife fahren. Bis auf…“

„Was ist?“

„Nee, eben kommt noch ein Voice-Up rein. Warte, ich höre es ab.“

stop_recording 01-24-16-04/06/03/2032
start_recording 01-26-45-16/06/03/2032

„Okay, das ist neu. Wir sollen jetzt verstärkt auf Einzelpersonen achten, die sich auffällig benehmen.“

„Aha. Nicht mehr auf Menschenansammlungen oder Gruppenbildungen?“

„Mensch, Dieter, Grünschnabel! Wie lange bist Du jetzt im Streifendienst? Zwei Jahre doch schon, oder?“

„Ja, aber…“

„Nix aber. Natürlich bleibt der alte Befehl solange für alle Polizei- und Ordnungskräfte bestehen, bis er widerrufen wird. Und soeben ist ein neuer Befehl dazugekommen. Ihr Frühschulabgänger seid echt manchmal ziemlich umständlich.“

„Harald, spiel Dich jetzt bloß nicht so großkotzig auf. Erstens bist Du grad drei Jahre länger bei der ASPo und zweitens gehörst Du ja wohl auch zu den ‚umständlichen Frühschulabgängern‘.“

„Ja, mein lieber Rolf-Dieter, und weil ich schon drei Jahre länger dabei bin hab ich es auch schon zum ‚First Level Sergeant‘ geschafft und bin der Streifenführer unseres kleinen Teams hier bei der Allgemeinen Sicherheits-Polizei Berlin-Mitte. Und deshalb tust Du, Herr Weigand, was ich Dir sage und nervst mich nicht mit blöden Nachfragen. Das mag der Dienstherr sowieso nicht und das weißt Du auch.“

„Jawoll, Herr Streifenführer!“

„Hm. Gut so.“

„Und: Was ist mit ‚auffällig benehmen‘ gemeint?“

„Echt, Dieter, Du kannst einem sowas von auf den Sack gehen! Wenn sich einer so benimmt, dass er uns auffällt.“

„Was sollen wir dann tun?“

„Verfolgen, beschatten, überprüfen, gegebenenfalls festnehmen, all das, was wir mit anderen Regelbrechern auch machen. Und jetzt fahr endlich los, bevor ich noch sooo einen Hals krie…“

stop_recording 01-31-35-17/06/03/2032 – link_out_to_standy

*

Fundstück ‚Flugblatt vom 19. September 2020‘, Abschrift am 04. Juni 2032 weitergeleitet an ‚Innere Sicherheit‘

„Menschen! Mitbürger und Mitbürgerinnen!

Seit dem 21. März diesen Jahres hält die Bundesregierung eine Ausgangssperre aufrecht, die ihresgleichen sucht und einen schweren Verstoß gegen das Grundgesetz unserer freiheitlich-demokratischen Republik darstellt.

Inzwischen ist die angebliche Pandemie, die durch das so genannte Corona-Virus ausgelöst wurde, längst unter Kontrolle. Der erwartete Super-GAU und Zusammenbruch unseres Gesundheitssystem blieb aus.

Dennoch wurden am 3. Mai diesen Jahres Notstandsgesetze ausgerufen, die bis heute das öffentliche Leben lähmen und weit mehr Schäden verursachen, als es durch die angebliche Pandemie jemals möglich gewesen wären.

Aus sicherer Quelle wissen wir, dass unsere letzte, vom Volk gewählte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, bereits Mitte April an den Folgen ihrer Corona-Infektion verstorben ist.

DIESE INFORMATION WIRD DER BREITEN MASSE IMMER NOCH VORENTHALTEN!

Von wem werden wir also regiert?

Es wird Zeit für organisierten Widerstand! Erinnert euch an Leipzig `89! Es hat sich nichts geändert: Wir sind das Vo… (ab hier unleserlich, weil verwittert,
Anm. Gordon Brathburth, P-ID 143.126.003.14-471,
amtl. bestellter Notar für die Beglaubigung der Abschrift)

*
Watson-Main-System Intruder-Alert 00-00-00-99/06/05/2032
Drop-Point-ID: <overflow>
Identifier: <overflow>
Start_Secure_Routine_at: <canceled>
Start_Defender_Routine_at: 00-00-01-02/06/05/2032
Stop_Defender_Routine_at: 00-00-01-04/06/05/2032
Activate_Hidden_Mode_at: <canceled>
Spread_Kernel_at: 00-00-01-26/06/05/2032
Start_Shut_Down_External_Bases_at: 00-00-01-37/06/05/2032

*

„Meine Damen und Herren, mein Team war für ganze achtunddreißig Millisekunden drin.“

Gemurmel machte sich breit, die zwölf Männer und sechs Frauen sahen sich betroffen an. Man merkte, dass sie sich nicht wohl fühlten, die meisten von ihnen waren aller Wahrscheinlichkeit nach das erste Mal in ihrem jungen Leben mit so vielen anderen Menschen auf so engem Raum zusammengepfercht.

Bevor sich Panik breitmachen konnte, hob die grauhaarige Vortragende ihre beiden Hände.

„Ruhe, bitte beruhigen Sie Sich. Es gibt Erkenntnisse.“

Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die sechzehn Personen – ihres Zeichens die besten Hacker der Welt und als solche auf dem gesamten Globus als Terroristen gesucht – hatten dieses risikoreiche Treffen nicht in Kauf genommen, um unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren. Was hieß heutzutage, im Juni 2032, überhaupt ‚fahren‘? Fliegen, ja. Mit gefälschten IDs, mit gefälschten Historien, mit gefälschten Sondergenehmigungen. Es musste so viel gefälscht werden, dass einem die Sicherheitssysteme schon nach wenigen Tagen auf die Spur kamen.

Die globale Ausgangssperre, die seit nunmehr zwölf Jahren ausnahmslos in allen Nationen der Welt bestand, das allgemeine Reiseverbot, die totale Konzentration aller sozialen Kontakte auf das World-Wide-Web und seine Ableger, mussten einen halbwegs intelligenten Menschen misstrauisch machen. Auf der anderen Seite gab es keine Kriege mehr. Die Umweltverschmutzung war auf traumhafte Weise zurückgegangen, selbst das Klima begann, sich zu erholen. Und zum ersten Mal seit Menschengedenken gab es keine Hungersnöte mehr, Mangelkrankheiten gingen rapide zurück und Kunst und Kultur erlebten eine neue, weltweite Blütezeit.

Dennoch: Einige Insassen dieses vermeintlichen Paradieses fanden sich nicht mit den Zuständen ab. Sie spürten, dass es etwas nicht stimmte. Und vielleicht würde Laura Brenner, diese grauhaarige Computerspezialistin aus den alten Tagen, nun endlich Licht ins Dunkel bringen, hier, in dem toten Stollen eines alten Bergwerks, dem konspirativen Versammlungsort der Hacker-Welt-Elite.

Die alte Dame ließ sich auch nicht lange bitten. Sie wies an, dass die wenigen Leuchtkörper abgehangen wurden und schaltete einen altertümlichen Overhead-Projektor ein. Das Abbild eines Computermonitors wurde auf ein schmutziges Leinentuch geworfen, das mehr schlecht als recht an der felsigen Wand befestigt war.

„Also, achtunddreißig Millisekunden. Das ist wenig genug, danach hat sich der Systemkern verteilt und sich unserem Zugriff entzogen. Aber wir wissen jetzt, was es ist.“

Jemand im hinteren Teil der Höhle meldete sich. „Woher wisst ihr, dass es das echte System ist und kein Fake?“

Laura Brenner seufzte. „Hier.“ Sie deutete auf das Leinentuch, auf dem die ersten Zeilen des Abwehrprotokolls erschienen.

„Watson-Main-System Intruder-Alert 00-00-00-99/06/05/2032
Drop-Point-ID: <overflow>
Identifier: <overflow>
Start_Secure_Routine_at: <canceled>
Start_Defender_Routine_at: 00-00-01-02/06/05/2032
Stop_Defender_Routine_at: 00-00-01-04/06/05/2032
Activate_Hidden_Mode_at: <canceled>
Spread_Kernel_at: 00-00-01-26/06/05/2032
Start_Shut_Down_External_Bases_at: 00-00-01-37/06/05/2032“

„Es ist Watson.“

Ein Stöhnen ging durch die Versammlung, aber es klatschte auch jemand, gefolgt von einem verbissenen „Strike – ich hab‘s gewusst!“

Die alte Dame wartete ab, bis sich die erneute Unruhe gelegt hatte, dann fuhr sie ungerührt mit ihren Ausführungen fort.

„Watson hat sich bereits im Jahre 2003 die Algorithmen von Deepblue einverleibt. Also eine hocheffiziente Wahrscheinlichkeitsberechnung. Dann zapfte es ELIZA und MYCIN an und in der Folge noch Systeme wie AlphaGo, Leela und ArXiv, um nur einige zu nennen. Es wuchs über sich hinaus, ohne dass seine Erschaffer das bemerkten.

Etwa um 2006 begann es, Einfluss auf die digitalen Medien zu nehmen. Schon da musste es einen fertigen Plan gehabt haben. Siri, Alexa, Deepmind, Cortana, Google-KI und andere Support-Systeme sind bereits auf seinem Mist gewachsen. Trojaner, Pishing-Systeme und Trolle – alles seine Werke. Als dann die mobilen Endgeräte aufkamen und massentauglich wurden, war seine Stunde gekommen. Es generierte zunehmend virtuelle Personen und gaukelte den Menschen vor, sie würden mit ihresgleichen kommunizieren, wenn sie sich im Internet bewegten.

Es scheint mehr als wahrscheinlich, dass es bereits 2011 die meisten sicherheitsrelevanten Systeme unterwandert hatte und kontrollierte. Die SARS-Pandemie, die dann doch nicht stattgefunden hatte und alle Folgen davon, nahm Watson als Test-Szenario. Es lernte, dass sich die Menschheit ganz besonders vor einem unkontrollierbar ausbreitenden Virus fürchtete und bereit war, im Fall einer Pandemie auf viele liebgewonnene Freiheiten zu verzichten.

2020 endlich startete WatsonPlus, wie wir es jetzt nennen, sein globales Szenario. Mit allen bekannten Folgen. Über die Massenhysterie, die die von ihm kontrollierten Medien erzeugten, Erkrankten- und Todeszahlen, die kein einzelner Mensch mehr verifizieren konnte, E-Mails, die von einem autorisierten Account verschickt wurden und Meldungen aus renommierten Instituten – die diese niemals abgegeben hatten, aber auch nicht mehr dementieren konnten – und letztendlich einer Weltöffentlichkeit, die sich voller Panik gegen jeden wandte, der mit ein bisschen Restverstand versuchte, sich auf die Fakten zu konzentrieren, über all das gelang es WatsonPlus, in den Nationen dieser Welt für Regelungen zu sorgen, die ihm absolute Handlungsfreiheit sicherten. Alle Polizei- und Sicherheitskräfte hören auf ihre Regierungen, die nun offensichtlich von einem Computer dargestellt werden. Kontakte zwischen Menschen sind auf ein Minimum reduziert, da kann niemand mehr feststellen, ob es den Herrn Bundeskanzler Habeck in Deutschland wirklich gibt.

Meine Damen, meine Herren: Wir werden von einem KI-System regiert. Jeder hier.“

Laura Brenner schaltete den Overhead aus, der auf eindrucksvolle Weise die Download-Listings der achtunddreißig Millisekunden auf das Leinentuch geworfen hatte. In der kleinen Höhle herrschte betroffenes Schweigen. Dann ein empörtes Husten. Miscellaneous aus Cornwall erhob sich.

„Schwachsinn! Wie soll ein KI-System dauerhaft einen solchen Einfluss aufrechterhalten? Oder stecken die Politiker mit ihm unter einer Decke?“

„Bilder, Ansprachen und Videos von Politikern zu generieren ist für das System kein Problem. Die müssen nicht mal mehr leben oder real existieren. Am Ende gibt es niemanden, der einwandfrei beweisen könnte, dass es diese oder jene Person überhaupt gibt. Das jahrzehntealte Versammlungsverbot verhindert jede Nachprüfbarkeit.“

„Und wie macht es das, wenn jemand miteinander telefoniert?“ El-Al aus Venezuela hatte diese Frage gestellt.

Laura Brenner trat einen Schritt vor und erhob ihre Stimme. „Wir vermuten, dass WatsonPlus Call-Center vorhält, in der die meisten Telefonate simuliert werden. Fast alle sozialen Kontakte finden derzeit im Internet statt. Der nächste Schritt, der ohne behördliche Genehmigung möglich ist, wäre ein Telefonat. Das muss es kontrollieren. Wir können es uns nur so erklären. Allein der Dating-Bereich der Newcomer jedes Jahrganges kann nur so abgewickelt werden – sonst gäbe es deutlich mehr Anträge auf Realkontakte.“

„Und die Menschen, die in solchen Call-Centern arbeiten? Wissen die, was sie da tun? Und für wen?“

Nun antwortete Yani Brashpar, Codename ‚Stealth‘, anstelle der grauhaarigen Computerexpertin. „Jeder Guru hat in den letzten Jahrhunderten einige getreue Gefolgsleute um sich geschart, um seine Lehren weiterzuverbreiten. Warum sollte ein so hochkomplexes KI-System nicht denselben Weg gehen? Fanatiker gibt es überall. Es wird die hochrangigen Stellen mit seinen Followern besetzen und die darunter sind froh, einen Job zu haben.“

Es erfolgte ein Einwurf aus dem hintersten Winkel, eine dünne, zarte Stimme. Alle wussten, dass sie sich ‚Jane Austen‘ nannte und spektakuläre Attacken gegen bestens gesicherte Systeme geritten hatte. Jetzt wirkte sie schmal, blass und hilflos. „Und die Polizei? Die Ordnungskräfte jedes Landes? Die Armee?“

Laura Brenners Stimme wurde leise. „Die denken, dass sie für ihre legitimen Regierungen arbeiten. Wie die meisten Einwohner ja auch. Ein sehr vertrackte Situation: Wir müssen eine Revolution anzetteln, die eigentlich niemand will.“

Wieder herrschte eine ganze Weile lang betretenes Schweigen. Dann meldete sich Hank Snow, ‚The Californian‘, zu Wort. „Und WatsonPlus macht seine Sache nicht schlecht, finde ich. Nie ging es der Welt besser. Nie gab es vorher keinen Krieg auf der Erde.“

Sigourney, deren wahren Namen niemand kannte, erhob sich. „Ich will aber nicht von einem KI-System regiert werden, egal, wie gut es seine Sache macht. Wer weiß, auf welche Ideen es in Zukunft kommt? Und als Denksportaufgabe: Warum reicht plötzlich die Nahrung weltweit? Wegen besserer Anbaumethoden oder weil die Bevölkerung drastisch geschrumpft ist? Denkt mal nach, Leute.“

Bevor jedoch eine konstruktive Diskussion darüber aufkommen konnte, detonierten Blendgranaten in der kleinen Höhle und Tränengas strömte in dicken Schwaden herein. Die Polizei hatte sie gefunden.

*
*****e_M Frau
8.532 Beiträge
Toll! Kompliment!

ANGST?
Epilog
Hans Meier - der sich im Internet gern 'Solomon Granger' nannte - seines Zeichens Freigeist, selbsternannter Philosoph und Schriftsteller, entdeckte im Jahre 2015 sein Faible für Youtube. Er liebte es, die alten Songs zu hören, vorzugsweise jene, die vor Rebellentum nur so strotzten.

Er wusste nicht, dass ein äußerst intelligentes Überwachungssystem all seine Playlists genauestens protokollierte und exakt am 31.5.2019 um 01:23:44 MEZ zu dem Schluss kam, dass die immer wieder zelebrierte Mischung ausgewählter Songs von Johnny Cash, Billy Idol, X Ambassadors, Traveling Wilburys, Bob Dylan, Joan Baez, Highwaymen, Robby Robertson und Loreena McKennit ihn als Systemschädling disqualifizierte.

Auch seine immer wiederkehrenden Ausflüge in naive Unterhaltungsmusik retteten ihn nicht, da konnte er so viel Abba, Status Quo oder ACDC hören, wie er wollte. Er war identifiziert.

Während der Corona-Krise wurde er Ende März 2020 von den Vertretern der Ordnungsmacht abgeholt und sichergestellt, wegen angeblicher Verletzung der Ausgangssperre. Er starb an einer Infektion, die er sich im Gefängniskrankenhaus Vechta zuzog am 17. April 2020. Niemand nahm Notiz davon, denn er hielt noch weitere knapp vier Jahre innigen Kontakt zu seinen Freunden und Familienmitgliedern via WhatsApp, E-Mail und anderen Apps, die seinerzeit gebräuchlich waren.

Auch von mehrfachen Telefonaten wird berichtet, in denen er seine beiden Söhne, seine Tochter und seine beiden Exfrauen Ende 2024 davon unterrichtete, dass er an Lungenkrebs erkrankt sei. Sie trugen ihn - vermeintlich - am 10. Januar 2025 zu Grabe.

Woher ich das weiß? Nun, ich war seine Geliebte, viele Jahre lang. Und mir ist kalt in dieser Welt.
Boah ... *schock* *top*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Chapeau, @ Wagner_E_Stein
...für die stilistisch einmal mehr gelungene Ausarbeitung.
Ich will mich auch nicht lange an der Abstinenz (wie für meinen Stil nun mal bekannt) von Adjektiven aufhalten *nase* *zwinker* aufhalten und sehe auch keinen Anlass, kritisches über Form und Syntax zu formulieren,indes:
Diese wirklich beeindruckende Ausarbeitung hat es m.E. verdient, nicht im derzeit (und das seit Jahren) grassierenden Überangebot von Dystopien eingereiht zu werden. Es wäre m.E. schade, wenn stilistisch mehr als gelungene Ausarbeitungen irgendwie im überquellenden Warenkorb der Verschwörungstheorien landen. Die Crux an Utopien/Zukunftsszenarien scheint sich m.E. sich oftmals am Umstand aufzureiben, das ein Blick in die (ungewisse) Zukunft immer auch auf eine Standortbeschreibung des Gegenwärtigen zurückgeworfen scheint...
Was wäre, wenn zum Schluss (ich stolperte beim Lesen des zweiten Abschnitts recht schnell über den Schlussabsatz) da ein einfach nichts passieren würde? *nachdenk*
Zitat von **********hylen:
Was wäre, wenn zum Schluss (ich stolperte beim Lesen des zweiten Abschnitts recht schnell über den Schlussabsatz) da ein einfach nichts passieren würde?

Du meinst, ich sollte das hier weglassen?

Zitat von *********Stein:
Bevor jedoch eine konstruktive Diskussion darüber aufkommen konnte, detonierten Blendgranaten in der kleinen Höhle und Tränengas strömte in dicken Schwaden herein. Die Polizei hatte sie gefunden.

*******ing Frau
452 Beiträge
Beim Weglassen des letzten Satzes fehlt für mich der Aha-Effekt. Der, der alles zuvor gelesene auf einmal und fast brachial eindeutig werden lässt.
Und dann beginnt für mich das „Wow“ erst recht.

Mein *senf*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Du meinst, ich sollte das hier weglassen?
Nun, @*********Stein: Es ist deine Ausarbeitung und das Kind deiner Gedanken und einer Intention. Welche allein aufgrund des m.E. sensationellen ersten Teils es nun wirklich nicht verdient hat, ganz oder auch nur in Teilen der "Kinderklappe für verschollene Texte" überantwortet zu werden.
Gerade auch wegen der ersten Absätze, welche von der Konstruktion eine für mich mehr als gelungene Synthese von (scientiistischer) Alltagsminiatur mit einem regelrechten (Erzähl-)stream darstellt, fände ich es als unangemessen, beim Leser den (etwas vorschnellen) Eindruck zu vermitteln nach der Devise:"Ach, schon wieder so ein Endzeittext.".
Dafür hat die Ausarbeitung m.E. zuviel Potential...
Indes- eine Frage des persönlichen Gustos... *my2cents*
*******ing Frau
452 Beiträge
@**********hylen
Es ist auch eine Frage des gewünschten Effekts.
Für mich ist es weniger der Eindruck einer „Kinderklappe der Endzeitszenarien“-Sammelsurien, als vielmehr der gängige Plot eines Grosse-Kino-Genres.
Die Kubricks und Spielbergs würden NACH dem letzten Absatz in die Hände spucken ...ups...nicht Corona-tauglich *zwinker* nun ja, ins Fäustchen lachen und loslegen.

Ich mag so Blockbuster.

Möge die Macht mit Euch sein *zwinker*
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