Deportation
DeportationWie ein krummer Baum stand er vor der Tür seines alten Hauses. Alles hier wirkte etwas heruntergekommen. Nun ja, heruntergekommen ist relativ, es liegt im Auge des Betrachters. Er selbst wirkte genauso, schrumpelig, alt, ungewaschen, unrasiert und viel zu dünn und ausgemergelt. Alles hier war in die Jahre gekommen.
Herr Otto Normalverbraucher nahm Abschied. Abschied von seinem Haus und den vielen Erinnerungen, die er damit verband. Es waren viele Erinnerungen, gute und weniger gute. Hier war er vor fast 90 Jahren geboren worden. Hier hatte er den Großteil seines Lebens verbracht. Hier, war ein kleines Bauernhaus weit abgelegen. Ein kleiner Bach floss in der Nähe vorbei und ringsum waren Fichtenwälder. Es war schön hier.
Jetzt würde das Haus versteigert werden, zu einem Spottpreis natürlich, dann würde es abgerissen werden und irgendein reicher Städter würde hier ein Wochenendhaus bauen. Hier, auf seinem Land.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Der Krieg war jetzt seit über 60 Jahren vorbei und trotzdem hatte er das Gefühl, in die Mühlen der SS geraten zu sein. Er wurde deportiert. Weggerissen von seiner Heimat. Er hatte keine Rechte mehr. Dafür hatten sie gesorgt. Diese ach so fürsorglichen Leute, die meinte, er könne sein Leben nicht mehr meistern, nur weil er alt wurde, weil er schlecht sah, weil er nicht mehr so beweglich war, weil er oft der Vergangenheit nachhing und weil er tat was er wollte.
Nach dem Tod seiner Frau Maria (geboren Langlebig) war er in ein tiefes Loch gefallen. Er hatte sie in ihrer Krankheit gepflegt, für sie gesorgt, ihre Schmerzen geteilt und war sogar froh gewesen, als sie endlich ihrem Leiden erlag. Er hatte sie sehr geliebt, so sehr, das er sie hatte ziehen lassen. Noch immer konnte er es nicht fassen, dass Maria ihn gewählt hatte, ihn den armen Häusler, der ja doch nur zwei Kühe, eine Ziege und einige Schweine gehabt hatte. Allen Widerständen zum Trotz hatten sie geheiratet und dann auch zwei Kinder bekommen, die leider sehr früh gestorben waren.
Jetzt stand Herr Normalverbraucher vor der Tür seines Hauses und wartete darauf, abgeholt zu werden. Bald würden sie kommen. Er dachte daran, wie es zu diesem Verhängnis gekommen war.
Eines Tages, es war ein gutes halbes Jahr nach dem Tod seiner Frau, fühlte er sich nicht recht wohl. Er hatte Schmerzen im rechten Arm und einen unguten Druck auf der Brust. Er stieg in seinen alten Opel und fuhr zu seiner Hausärztin. Diese wies ihn sofort in die interne Abteilung des nahen Krankenhauses ein. Dort wurde eine Koronare Herzkrankheit festgestellt. Was die Schwestern noch feststellten, war, dass er nicht gewaschen war, dass er schlecht rasiert war, dass er zu wenig trank. Na, die hatten ja auch keinen Most im Krankenhaus, wie sollte er da was trinken. Der Tee war kein guter Ersatz dafür, also trank er nur sehr wenig. Die Umgebung war für ihn auch beängstigend. Diese vielen gleichen Gänge, die vielen Leute, alle gleich angezogen. Der stets „freundliche“ Umgangston mit den Patienten. Als ihn eines Tages eine Schwester mit „Herr Normalverbraucher“, ansprach antwortete er „Ich bin kein Herr.“ Da hielten sie ihn für verwirrt und behielten ihn noch ein paar Tage länger zur Beobachtung. Als er dann endlich entlassen wurde, musste er eine Menge Tabletten nehmen und zu seiner Überraschung und nachhaltigen Demütigung hatte das Krankenhaus dafür gesorgt, dass er eine mobile Betreuung bekam. Die Schwestern sollten dafür sorgen, dass er seine Medikamente nahm, dass er sich wusch, was „ordentliches“ trank und das Essen, das er von „Essen auf Rädern“ bekam, nicht für die Schweine in den Trog warf. Aber die arme Sau, die einsam in ihrem Stall hauste, hatte ja auch Hunger.
Die Schwester war entsetzt als sie das erste Mal bei ihm zu hause vorbei schaute. Es war ein so genannter Erstbesuch. Die Schwester, sie hieß Ines Ibinda, war sehr freundlich. Sie schaute in jedes Zimmer, rümpfte die Nase und setzte sich nicht einmal hin. Sogar Frida im Stall besuchte sie. „Mögen Sie einen Most“, bot er ihr freundlich an. Er wollte ja kooperativ sein. Soviel wusste er, wenn er nicht mitzog würden sie ihn wieder wegbringen. Also nahm er die Hilfe an, die er nicht wollte und auch nicht brauchte. Die Schwester hatte keinen Most mit ihm getrunken. Sie hatte ihr Telefon genommen und seine Hausärztin angerufen, Frau Dr. Schaumamal. Wieso, das wusste er nicht. Er nahm seine Medikamente, er trank ausreichend, er aß Obst, in seinem Garten standen genug Obstbäume herum, von denen er sich im Sommer bediente. Schwester Ines, so sollte er sie nennen, redete auf ihn ein: „Herr Normalverbraucher, wir kommen dann ab morgen jeden Tag zu Ihnen. Einmal morgens und einmal am Abend. Ist Ihnen das Recht?“
‚Du scheinheilige Göre’, dachte er. ‚Natürlich ist mir das nicht recht. Schert euch zum Teufel und lasst mich in Ruhe.’ Er war zu schlau um das laut zu sagen. Aber etwas davon musste in seinem Gesicht zu erkennen gewesen sein, denn die Schwester funkelte ihn plötzlich scharf an. So nickte er nur ergeben.
Nach einer weiteren Inspektionsrunde, die diesmal ins Schlafzimmer und ins Bad führte meinte die Schwester: „Das Bad können Sie so nicht lassen. Da können meine Mitarbeiterinnen nicht arbeiten. Auch das Bett ist etwas unpraktisch. Wollen Sie sich kein Pflegebett zulegen? Ihre Pflegeprodukte sind auch nicht gerade das, was der Norm entspricht.“ So ging es weiter, sie hatte an allem etwas auszusetzen. Nicht in seinem Heim war ihr heilig. Alles wurde bekrittelt und hässlich gemacht. Da wurde es ihm zuviel und er wies sie aus dem Haus. „Gehen Sie jetzt Schwester. Ich muss mir das nicht gefallen lassen. Bis auf die Jahre, die ich im Krieg war und dann in Gefangenschaft, habe ich hier immer gelebt. Hier sind meine Kinder auf die Welt gekommen und gestorben, ebenso meine Frau. Es wird hier nichts verändert. Und jetzt raus hier und machen Sie gefälligst die Tür hinter sich zu!“ Frau Ibinda sah ihn entgeistert an. Er war selber auch erstaunt über seinen Ausbruch und setzte sich erstmal hin. Schwester Ines holte kurz Luft. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, nur einen Moment, dann hatte sie sich wieder gefasst. Sie zückte das Telefon und wählte eine Nummer. Als die Verbindung hergestellt war, ging sie hinaus.
Otto Normalverbraucher saß zusammen gesunken auf seinem Stuhl und hatte das Gefühl, eben sein Schicksal besiegelt zu haben. Er rang nach Atem. Dann beschloss er, dass es nicht mehr schlechter werden konnte und goss sich einen doppelten Korn ein. Das hatte ihn immer beruhigt. Maria hatte das gewusst. ‚Maria’, dachte er sehnsüchtig ‚warum bist du nicht bei mir?’
Die Schwester kam zurück, gerade als er das Glas in einem Zug leerte. ‚Jetzt hält sie mich für einen Säufer’, dachte er müde. Seine Schultern sanken nach unten und der Rücken krümmte sich noch mehr. Das Gewicht der Jahre lastete in diesem Moment wie ein großer Berg auf ihm. „Wir werden wie verabredet zweimal täglich zu Ihnen kommen, Herr Normalverbraucher. In den nächsten Tagen komme ich mit Herrn Dringlich von der Sozialbehörde wieder zu Ihnen. In der Zwischenzeit werden Sie wie abgemacht von meinen Schwestern besucht. Wie ich eben gesehen habe, sind Sie ja dem Alkohol nicht abgeneigt. Herr Dringlich wird sich dann mit Ihnen um Ihre finanziellen Angelegenheiten kümmern.“ Damit streckte sie ihm die Hand hin, die er automatisch ergriff. Das gehört sich so, das hatte er einmal gelernt, immer die Hand zu geben, wenn man grüßt.
Von diesem Tag an war sein Leben vollends aus den Fugen geraten. Schon früh am Morgen brauchte er sein Stamperl nur um die fremden Frauen in seinem Haus auszuhalten. Immer wollten sie ihn waschen, ihm sein Frühstück richten. Er mochte aber keine Semmeln und er mochte den wässrigen Kaffee aus der Maschine nicht. Otto hatte seinen Kaffee immer selber aufgegossen. Er war so stark, sein Kaffee, da blieb ein Löffel drin stecken, hatte seine Frau immer mit Lob in der Stimme gesagt. Und jetzt bekam er das wässrige Zeug vorgesetzt und durfte überhaupt nichts mehr selber machen. Er war verzweifelt. Diese ewige Wascherei, wie er es nannte, ging ihm gewaltig auf den Geist. Was ging diese Weiber sein Schniedel an? Was hatten sie überhaupt ungefragt daran herum zu fummeln? Sie entmannten ihn, jawohl, genauso fühlte er sich. Entmannt, entrechtet.
Am Schlimmsten wurde es, nachdem Herr Dringlich da gewesen war. Herr Dringlich hatte festgestellt, dass Otto mit seinem Einkommen alleine nicht auskommen konnte und eine Sachwalterschaft in Auftrag gegeben. Da er keine Verwandten hatte, die das übernehmen konnten, würde Otto mit einem Anwalt vorlieb nehmen müssen. „Was kostet das“, hatte er zu fragen gewagt. Herr Dringlich hatte ihn konsterniert angesehen und gesagt: „Darüber müssen Sie sich ab jetzt keine Gedanken mehr machen. Ihre Geldangelegenheiten wird sofort der Anwalt Dr. Meindsgut übernehmen.“ Daraufhin hatte Otto den Mann vor die Tür gesetzt, geändert hatte das an der Situation allerdings nichts, er hatte sich nur besser gefühlt.
So vergingen die Wochen langsam im Einerlei, nichts durfte er mehr machen. Alles wurde von der Behörde und dem Hilfsdienst übernommen. Herr Normverbraucher hatte nicht das Gefühl, Hilfe zu brauchen. Er fühlte sich gut, bis auf die Stunden, in denen der Hilfsdienst da war und ihn quälte. Niemand verstand, dass er sich gepeinigt fühlte, in seiner Freiheit beschränkt, sein Leben war beendet.
Eines Nachmittags spazierte er am Bach entlang. Er hörte den Vögeln zu. So einen schönen Gesang hatte er lange nicht mehr gehört. Das Wasser plätscherte über Steine, Grillen zirpten. Schon lange hatte er sich nicht mehr so friedlich gefühlt. Er nahm auf einem Stein platz und sog die Freiheit in sich ein. Er fühlte sich wie ein trockener Schwamm, der sich mit Wasser füllte und wieder zu leben begann. Ein Lächeln zierte das gefurchte Gesicht, Freudentränen perlten über pergamentartige Wangen. Das Gesicht begann zu blühen. So fand ihn die Schwester des Hilfsdienstes am Abend, friedlich am Bach sitzend vor. Ein Lächeln auf den Lippen, die Augen geschlossen, saß er da und genoss den Sommer.
„Herr Normalverbraucher“, rief die Schwester schon von weitem. „Endlich habe ich Sie gefunden. Was treiben Sie denn hier? Sie wissen doch, dass wir um diese Zeit kommen!“ Ihre Stimme war atemlos und aufgeregt laut. Die Schwestern mochten es nicht, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah.
Als sich diese „Vorfälle“ häuften beschlossen der Sachwalter, die Oberschwester und die Ärztin, dass er nicht mehr alleine leben konnte. Sie suchten kurzerhand nach einem Pflegeheimplatz für ihn.
Nun stand er da, Otto Normalverbraucher, weil Herr war er keiner, und wartete auf seine Deportation.
(c) Herta 6/2009
Ich freue mich wieder auf konstruktive Kritik von euch