Körperkontakt
Es war ein sonniger Winternachmittag. Über dem Amalienhof wölbte sich ein hoher blassblauer Himmel. Eine leichte Schneeschicht bedeckte den gefrorenen Boden. Die Pferde standen aufgehalftert und angebunden an der Einzäunung ihres Auslaufs aufgereiht.
Livia und Domena hatten die Köpfe gesenkt, ein Hinterbein leicht auf die Hufkante abgestellt und genossen die Sonnenwärme auf ihrem Fell. Die Ohrmuscheln waren zur Seite gedreht und zuckten leicht, auch in der Entspannung verfolgten die beiden Stuten alles, was um sie her vor sich ging.
Anna-Lena stand in ihrer gefütterten Winterjacke vor der Umzäunung und rieb sich die behandschuhten Hände warm. Sie sah Jorind zu, die dabei war, der jungen Capira die Hufe hochzuheben. Auch Jorind trug dicke Handschuhe und auf dem Kopf eine alte Wollmütze. Die schwere Reitjacke hatte sie ausgezogen und an einen Aststumpf der Pappel gehängt, die über ihren Köpfen kahl in den Himmel ragte.
Sie stand dicht an der Pferdeschulter, strich mit einer Hand am Pferdebein abwärts, griff in die Fesselhaare und hob den Huf an. Mit beiden Händen führte sie ihn in eine schnelle Kreisbewegung und setzte ihn wieder ab. Das wiederholte sie mit den übrigen Beinen. Danach richtete sie sich auf und streckte sich. Sie drehte sich zu dem Mädchen um, legte Capira den Arm über den Rücken und lehnte sich an sie. Das Pferd wandte den Kopf und schnoberte an ihrer Kleidung.
„Sag mir mal zuerst, warum, glaubst du, ist es so wichtig, dass ein Pferd die Hufe gibt?“
„Naja, damit man sie auskratzen kann. Die Erde setzt sich drin fest, oder ein Stein kann eingeklemmt sein. In den Furchen entsteht manchmal Huffäule, wenn das Pferd nass steht. Und wenn der Schmied kommt und die Hufe ausschneiden oder Eisen aufnageln will, muss das Pferd gelernt haben, ruhig stehenzubleiben. Für junge Pferde ist es manchmal schwierig, längere Zeit auf drei Beinen zu stehen und ihr Gleichgewicht zu halten.“
Jorind warf dem Mädchen einen anerkennenden Blick zu und lächelte.
„Gib‘s zu, du hast mal wieder in einem Pferdebuch geschmökert.“
Das Mädchen lächelte zurück, warf den Kopf in den Nacken und strich sich mit beiden Händen ihren üppigen rotblonden Pferdeschwanz glatt.
„Stimmt. Aber viel weiß ich auch schon aus Erfahrung.“
„Okay. - Und alte Pferde haben manchmal Probleme mit den Hüften und wollen die Hinterbeine nicht so hoch nehmen, wie der Schmied das für seine Arbeit haben will. Jetzt komm mal rein und zeig mir, wie du die Hufe hochnimmst.“
Anna-Lena suchte sich einen Hufkratzer aus dem Putzkasten, schwang sich lässig über die oberste Zaunstange und trat neben die junge Stute. Jorind machte ihr Platz. Das Mädchen klopfte dem Pferd auf Hals und Schulter, strich dann am Bein entlang und umfasste das Fesselgelenk.
Capira hob den Huf und schwang ihn mit kraftvollem Schwung nach vorn, doch Anna-Lena hatte damit gerechnet und bremste mit ihrem Knie das Pferdebein ab. Geschickt und energisch räumte sie den Huf aus und stellte das Bein wieder ab.
„Benissimo, cara!“ Jorind war hochzufrieden. „Aber was ist mit der Hinterhand? Würdest du‘s dort auch so machen?“
Anna-Lena warf ihr einen entsetzten Blick zu. „Nein, sie schlägt doch.“
Jorind stellte sich an die Seite der Stute und strich mit der Hand über die Kruppe. Sie kam bis zum Sprunggelenk, dann schlug Capira blitzschnell aus, hoch und weit zur Seite. Jorind hatte genug Abstand gehalten und wurde nicht getroffen. Sie lachte nur und kraulte das Pferd unterm Kinn.
„Und jetzt schau her. Ich zeig dir mal was.“ Sie lehnte sich an die Pferdeschulter und klopfte Capira kräftig auf den Rücken, strich mit festem Druck über die Kruppe, bewegte ihren Körper dabei weiter am Pferdekörper entlang, lehnte sich an die Flanke, stand schließlich direkt neben dem Hinterbein, eng an das Pferd gedrückt.
„Immer Körperkontakt halten, siehst du?“ Langsam bückte sie sich, fuhr mit der Hand am Bein entlang und griff zu. Capira hob den Huf ein Stück an und ließ ihn in der Luft schweben, Jorind klopfte leicht dagegen und setzte ihn wieder ab.
„Sorry, auskratzen geht noch nicht. Vielleicht nächste Woche.“
„Wie haben Sie das gemacht? Cool!“ Anna-Lena war beeindruckt.
„Pferde wollen nicht festgehalten werde. Das ist ihnen angeboren. Sie müssen immer fliehen können. Pack sie am Bein, sie ziehen es weg. Wenn du Pech hast, wirst du getreten. Der Körperkontakt beruhigt sie, gibt ihnen Sicherheit. Sie entspannen sich.
Noch besser klappt das, wenn auf der anderen Seite auch einer steht. Das Pferd fühlt sich dann von der Herde eingerahmt. Komm, wir probieren das gleich mal.“
Sie stellten sich zu beiden Seiten der jungen Stute auf und kraulten ihr Hals und Mähne. Als Anna-Lena ihr den Arm über den Rücken schob und sich eng an sie drückte, hob Capira ein Hinterbein und stampfte kräftig auf den Boden. Das Mädchen fuhr erschrocken zurück.
„Sie hat es mir verboten!“
„Sie kennt dich noch nicht genug. Das wird schon. Komm, wir fahren erst mal zu mir nach Hause, auf einen Cappuccino.“
(to be continued)
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