Schülers Rache
Dann will ich hier auch mal eine kurze Geschichte von mir einstellen.Unser Musiklehrer besaß nur ein Auge. Das linke hatte er im Krieg verloren.
Dennoch traf er. Die Töne sowieso, aber auch die Schüler. Wer schwätzte,
bekam die Kreide ab, die er zielsicher bis in die fünfte Bankreihe warf. Manchmal
flog auch sein Schlüsselbund.
Es liegt mehr als 50 Jahre zurück; zu lang, um mich daran zu erinnern, ob er ihn
uns auch an den Kopf warf. Aber es war eine Zeit, als Lehrer noch züchtigten.
Ob sie es durften? Sie taten es.
Einer meiner Grundschullehrer schlug mit dem Rohrstock, der Musiklehrer am
Gymnasium züchtigte nicht nur, in dem er Kreide warf oder seine Schlüssel,
sondern animierte uns qualvoll, die Töne korrekt zu singen, in dem er an den
Ohren drehte. Nach hinten bedeutete höher, nach vorn tiefer. Lehrers Liebling
war, wer sofort die richtigen Töne von sich gab. Nur wenigen Mitschülern
(Mädchen eingeschlossen) gelang das auf Anhieb.
Für uns, die wir 13, 14 Jahre alt waren, bedeutete der Unterricht Mobbing. Und
obwohl zu jener Zeit keiner diesen Begriff kannte – einfach, weil er noch nicht
erfunden war – waren die Folgen dieselben wie heute. Angst vor dem Unterricht,
und mit der beginnenden Pubertät wuchs die Aufsässigkeit.
Zusammen mit den keimenden Studentenprotesten vor allem in Berlin, die wir in
den Nachrichten verfolgten und im Deutschunterricht diskutierten, formte sich
auch in uns der Wille, uns zu wehren.
Doch wie sollte der Widerstand aussehen, nachdem der Direktor unsere
Beschwerde abgetan hatte mit: »Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre!« Auf
der Straße zu demonstrieren brächte nichts in einem Bundesland, in dem
Tradition und Konservatismus tief verwurzelt waren. In einem Land, in dem der
Protest der Studenten im fernen Berlin als Aufstand, Revolution und
kommunistisch gesteuert bezeichnet wurde. Davon abgesehen, dass es
niemanden interessierte, wenn sich 40 Schüler über die Lehrmethoden eines
Schulmeisters beklagten. Schulmeister war die abfälligste Bezeichnung, die wir
für ihn fanden.
Da war nicht nur seine Intoleranz, mit der er versuchte, uns unsere Musik zu
vergällen: »Der Hottentotten-Lärm ...«, nein, es war auch die Art, wie er
Lehrinhalte vermittelte. Und wie er uns immer wieder in primitivster Form
beschimpfte, wenn beim Eintreten ins Klassenzimmer die Tür mit lautem Knall ins
Schloss fiel.
Wir wollten für das intolerante Benehmen billige Rache. Wir wollten ihm zeigen,
dass wir uns wehren konnten. Er sollte erfahren, was es heißt, jeden Einzelnen
von uns zu schurigeln, seine Persönlichkeit nicht zu respektieren, ihn als das zu
behandeln, was wir längst nicht mehr sein wollten: unmündige, wehrlose Kinder.
Jeder Klassenkamerad, der diese Wut in sich trug, sollte sich persönlich
revanchieren können.
Während diejenigen, die sich an unserer Rache nicht beteiligten, zur nächsten
Stunde pünktlich das Musikzimmer betraten, begann unsere Vergeltung. Der
erste Schüler trat ein, grüßte höflich; mit lautem Schlag krachte die Tür zu. Noch
während sich der Lehrer darüber aufregte, kam der zweite Schüler. Hinter ihm
knallte die Tür. Der dritte Schüler schmetterte die Tür zu. Hinter dem vierten
Schüler flog die Tür ins Schloss.
Nachdem der elfte eingetreten war, wankte der Lehrer, der sich zuvor am Klavier
abgestützt und alle Farbe im Gesicht verloren hatte, aus dem Raum. Kurz darauf
klang vom Hof die Sirene eines Krankenwagens.
Erst Monate später kam er wieder. Er weigerte sich, unsere Klasse auch nur zu
betreten. Wir erfuhren nie, was passiert war. Nach Gerüchten hatte er einen
Zusammenbruch, der sich auf sein ohnehin geschwächtes Herz auswirkte. Und
nach den Sommerferien kehrte er nicht an die Schule zurück.