Die Welt der Anderen – Vorsicht: Extrem bissig!
Sie spürte es nicht nur, nein, sie wusste es, dass sie anders ist. Schon seit ihrer Kindheit an, schien sie die Welt und die Gesellschaft mit anderen Augen zu betrachten, als die Gleichaltrigen. Das scheinheilige, aufgesetzte „wir sind so, weil alle so sind und das schon immer“, hasste sie abgrundtief.Angefangen bei harmlosen Dingen: um 8 Uhr Frühstück, Mittagessen um 12, Kaffee und Kuchen gegen 15 Uhr, 18 Uhr wird es Zeit zum Abendbrot. Könnte ja sein, dass man gegen 20 Uhr, wenn die Spielfilmzeit in der Glotze beginnt, noch mal Lust auf eine Pizza oder Knabberkram bekommt oder, Samstags dann, bevor Papi über Mami im Dunkeln rüberrutscht, Mami noch brav zum Essen in ein feines „Resdorang“ ausführt. Dann sollte der Magen vorher wohl schon wieder etwas leerer sein.
Mami eingezwängt in einen beigefarbenen Kunstfaserpullover, den sie nur für „schicke“ Situationen im Schrank lagerte, übrigens jahrelang. Extra die Nägel lackiert mit potthässlichem Altrosé, frau will ja schliesslich nicht auffallen. Eine dunkelbraune Hose mit Bügelfalte und bequemen Schuhen, damit die später am Abend geschwollenen Knöchel nicht so drückten. Hohe Absätze waren sowieso nur für eine gewisse Sorte Frauen. Für die, die sich auch die Nägel knallrot lackierten.
Mamis Lippenstift ganz dezent, nur nicht auffallen. Ein gehauchtes Tröpfchen des Parfums, das Papi vor ein paar Jahren als Gedankenblitz zu Weihnachten Mami schenkte, statt der üblichen Pralinen oder Küchengeräte. Nur nicht auffallen, und den Stopfen der Parfumflasche großzügig über die Haut unterm Ohr streichen. So machen es die blonden Tussis in der rosa-Welt-Werbung. Also macht Mami das auch.
Doch sich dann nach der ganzen Völlerei wundern, woher die Rettungsringe kommen, Diabetes und die üblichen Wohlstandskrankheiten. Egal, wofür sind denn Ärzte und die Medizin da? Fress ich halt zu meinen 10 000 Tageskalorien noch ein paar Tablettchen. Nur nicht verzichten müssen auf irgendeinen Genuss.
Es widerte sie an. Warum sollte sie essen, wenn sie doch gar nicht hungrig war? Eine Uhr, ein von Menschen geschaffener Zeitenmesser, sollte ihrem Körper vorschreiben dürfen, wann sie was zu tun hätte? Zählte ihr Körpergefühl denn gar nichts?
Ganz übel fand sie die Volksmusiksendungen in der Volksverdummenden Flimmerkiste. (ohne Namen zu nennen und ohne eingefleischten Fans auf die Füße treten zu wollen )
Meistens Playback gesungene Schnulzen von Trallala und heiler Welt, echter Liebe und Treue, gejodelten Hymnen auf die verschneiten Berge.
Bäääh, das konnte einfach nicht glaubhaft rüberkommen. Diese geschniegelten Troubadoure (die garantiert an versauten Sex dachten, während sie den langweiligen Text leierten), die prallen Maderln in Dirndln (die an den Schweinebraten dachten, den sie am Sonntag in der Früh in die Röhre schieben mussten, damit sie nach dem Kirchgang sofort die Raubtierverwandschaft füttern konnten), nichts dagegen zu sagen, wem es gefällt, doch warum muss das so sein und wird von anderen verlangt sich anzupassen?
Im Sinne der Kleidung wäre es wohl schwer, eine Jodel-Sendung aus dem Jahr 1975 von einer aus dem Jahr 1990 unterscheiden zu können, wenn da nicht der modische Zwang der Mattenzähmung wäre. In den 70ern, die Arschfickerleiste bei den Kerlen und die lange Bombenlegermähne, die langen, glatten Haare, a lá Abba-Agneta oder Breitmaulfrosch Katja Ebstein, bei den Mädels. Doch nicht bei den Trällerkehlchen. Da war alles noch so wie aus der „guten alten Zeit“. War die eigentlich wirklich besser, oder gaukelt das Hirn nur was vor, indem es negative Erinnerungen vergessen lässt?
Um Gottes Willen, nur nicht auffallen, nur nicht sich aus der Masse hervorheben. Die Devise der Fische im Strom.
Doch nicht mir ihr. Am meisten liebte sie die Provokationen, als sie im rüpelhaften Teenie-Alter war. Diese entrüsteten Gesichter, abwertendes Kopfschütteln der übergewichtigen, 8UhrFrühstück12UhrMittag15UhrKaffeeundKuchen18UhrAbendbrot-Fraktion, gaben ihr die Bestätigung, dass sie auf dem Weg war, ihr eigenes Selbst zu finden.
Nach Kanada wollte sie damals abhauen, in eine Blockhütte an einem klaren See. War wohl der meistgeträumte Wunsch, damals in den 80ern. Nur wenige Andere waren an ihrer Seite. Nur wenige, die ebenso dachten und Protest lebten.
Ihre Eltern wollten sie in „hübsche“ Kleidchen mit Rüschen packen, eine geschniegelte Frisur verpassen und ihren Geist stutzen, damit er in die Schubladen passte. Das wäre einem innerlichen Selbstmord nahegekommen, daher kämpfte sie mit allem was sie hatte und ignorierte diese Klamotten, die sowieso von „guten Freunden“ stammten, deren Töchter sie vor ein paar Jahren ablegten. Na klar, warum wohl? Potthässlich und inzwischen bereits unmodern.
Mühsam kratzte sie sich ihr Taschengeld zusammen, jeden Monat kam irgendein neues Teil zu ihrer modischen Ausstattung. Die, die ihr gefiel. Zwar dürftig, für ein Mädel, doch war sie stolz auf jedes einzelne Teil. Jeans, knalleng und weite Hosenbeine. Das ging schon in die Rockerszene, bzw. damals waren es die Punker. Neidisch betrachtete sie diese Jugendlichen, die auf der Fußgängerzone abhingen. Yesssss, die haben es durchgezogen. Als Ersatz dafür, weil sie sich feige für diesen endgültigen Schritt fühlte, pinnte sie sämtliche Sicherheitsnadeln aus dem spießigen Nähkasten ihrer Mutter an ihre Jeans. Mit Kugelschreiber forderte sie ihr ganzes künstlerisches Talent herauf, um Totenschädel und Grabhügel samt Kreuz, auf die Oberschenkel zu kritzeln. T-Shirts, weiße, aber meist schwarze, natürlich ohne einen BH drunter, weit und labberig.
Scharfe Turnschuhe – Sommers wie Winters, Schweißfüße heldenhaft ignorierend, bis sich irgendwann flappschend die Sohle ablöste. Doch das war kein Drama, im Zeitalter von Uhu-Kleber. Solange die halbe Sohle noch dran war, lief man auch auf dem Stoffeinsatz:
Allrounds – das waren die Knaller damals. Knöchelhoch, weiß und mit ewig langen Schnürsenkeln, die um die Knöchel um den Schuh gebunden wurden. Goil!!
Leider sahen das die meisten Spießer gar nicht so. „Du siehst ja aus wie ein Junge“ bekam sie meistens zu hören (von den Nachbarinnen, denen meine Mutter das Ohr voll laberte und hoffte, ich würde auf diese Tratschtanten hören).
Ihr war das Gejammer nur Recht. Sie kippte einfach ihren Kopf nach vorne, und der schulterlange Pony fiel über ihr ganzes Gesicht.
So; Außenwelt abgeschnitten. Basta. Macht doch was ihr wollt! Ich mach es ja auch!
Mit Mädchen konnte sie eh nicht viel anfangen. Die waren alle auf dem Schmink – und Klamottenkaufen-Trip. Mit Jungs konnte sie besser abhängen. Naja, dafür kam sie öfters in Prügeleien, die sie jedoch meisterhaft überstand. Sehr zum Leidwesen ihrer Eltern. Besonders, wenn sich das Elternpaar eines Jungen bei ihren Eltern über die ungezogene Göre beschwerte.
Aus ihrer Mini-Anlage dröhnte jeden Tag AC/DC. So laut es nur ging. Bis ihre Eltern, seltsamerweise ging das erstaunlich schnell, ein paar Kopfhörer besorgten. So konnte sie sich nun ganz in ihre Welt vertiefen. Damals knallten Status Quo, Sweet, Kiss und vor allem QUEEN durch ihren Schädel und sie fühlte sich frei. Frei von den ätzenden Zwängen, die ihr tagtäglich auferlegt wurden.
Die ersten sexuellen Erfahrungen ließen bei den regelmäßigen Jungenkontakten nicht lange auf sich warten. Auch wenn sie Probleme hatte, sich als weibliches Wesen zu sehen, spürte sie doch die Lust und die Sehnsucht nach einer gewissen Art des Erlebens. Keiner der Jungs war in der Lage ihr dieses zu geben. Viel zu wild und ungestüm war sie – als Mädchen.
Und wieder ein Punkt, der sie in die Welt der Anderen versetzte. Dies war für sie schon Realität. Sie nahm es hin, weil sie fast täglich Erfahrungen damit machte, anders zu denken und zu fühlen. War sie wirklich so schwierig, wie ihre Eltern ihr es Tag für Tag vorjammerten? Es war wohl eher das Gefühl der Machtlosigkeit über diese unzähmbare junge Frau.
Was sollte denn aus ihr nur werden? Mit diesen Haaren, mit dieser Einstellung, ihrem Musikgeschmack und schon gar mit diesen Klamotten würde sie nie einen Mann finden.
Neeeeeee, ganz sicher nicht. Nicht so einen, den sich ihre Eltern vorstellten: mit zusammengekniffenem Arsch vor ihren Eltern schleimend und kriechend. Ätzend.
Die Kerle, die sie anschleppte, waren immer genau ihr Ding. Natürlich das Gegenteil des Elternwunsches. Wer damals bereits den Mut besaß einen Ohrring zu tragen, der war faszinierend in ihren Augen. Coole Punker eben, mit groben Stiefeln, zerfetzten Jeans, einer Frisur, die sich nicht entscheiden sollte, ob sie lang oder kurz sein sollte.
Doch dafür waren einige darunter, die sie als Mädel wirklich mochten und akzeptierten, mit all ihren angeblichen Macken.
Nach einem kurzen Absturz in die Feindeswelt – man muss ja wissen, worüber man lästert – lebt sie inzwischen wieder als Unzähmbare.
Eine Blüte, die durch ihre Natürlichkeit betört und doch einzig(nicht)artig ANDERS ist.
Greetz an Joe und Mo