Hunger , Vorwort und Prolog
Hunger© 2004 by Thomas R. Buntrock
Hunger?
Haben Sie einmal über den Sinn des Lebens nachgedacht? Sicherlich. Manche glauben, der Sinn des Lebens wird uns auf immer und ewig verborgen bleiben. Mag sein. Aber eine der wesentlichen Triebfedern des Lebens ist Hunger. Kaum geboren, haben wir Hunger. Wie Verdurstende laben wir uns an den mütterlichen Zitzen, saugend, nuckelnd und verleiben uns den Lebensspendenden Saft ein. Und wenn wir gehen müssen, verzweifeln wir meist am Hunger nach dem Leben an sich.
Der Protagonist dieser Geschichte verzweifelt an einem ähnlichen Hunger, dem Reiz – Hunger. Eine Art Hunger, der nur noch vom Hunger nach Anerkennung übertroffen werden kann, wie sich herausstellen wird.
Die Vorstellung vom Reiz-Hunger deutet darauf hin, dass die am stärksten favorisierten Reiz-Faktoren diejenigen sind, die von der physischen Intimität ausgehen. Eine Schlussfolgerung, der ich aufgrund meiner Erfahrungen zustimme.
Man hat bereits vor langer Zeit festgestellt, dass eine soziale als auch eine sensorische Deprivation physische Auswirkungen auf den Menschen hat. Wer gelernt hat, seine Mitmenschen zu beobachten, und zwar vorurteilsfrei und leidenschaftslos, kommt beinahe Zwangsläufig zu diesem Schluss. Einzelhaft zum Beispiel ist ein gutes Beispiel dafür, denn selbst die härtesten Schurken mögen die soziale Isolation ganz und gar nicht.
Mithin zeigt der Reiz-Hunger nicht nur im biologischen, sondern auch im psychologischen Bereich erschreckend kausale Zusammenhänge zum Hunger nach Nahrung. Begriffe wie: Unterernährung ( mangelnde Zuwendung ), Übersättigung ( Langeweile ), Gourmet („Schürzenjäger“), Bulimie ( Soziopathie), Meisterkoch ( Dominus ) etc lassen sich problemlos in den emotionalen Bereich übertragen.
Wenn zum Beispiel ein Kind früh von der Mutter getrennt wird, aus welchen Gründen auch immer, was geschieht dann? Man sagt: wenn man nicht gestreichelt wird, verkümmert das Rückenmark. Das Kind sieht sich nach der Beendigung der „Mutterperiode“ allein gelassen und fragt sich, wenn auch unbewusst, ständig, gegen welche Klippen sein Lebenswille und sein Geschick permanent ankämpfen muss. Dieses Kind wird in dem immerwährenden Bemühen stehen, der mangelnden Zuwendung der Mutter quasi auf dem zweiten Bildungswege habhaft zu werden. Das ist die Triebfeder, der Motor und auch die Tragik dieser Menschen.
Prolog
Harald stürmte als erster aus dem Klassenraum, denn heute war Freitag. Und wie immer Freitags stand sein großer Marsch an.
Harald lebte aufgrund räumlicher Enge bei seinen Großeltern, die aber immerhin einen Garten hatten. Ein typisches Vorstadthaus. Nicht besonders üppig, aber den Wert einer eigenen Immobilie weiß ein Drittklässler nicht wirklich einzuschätzen.
Dennoch ging Harald gemessenen Schrittes nach Hause, denn er wusste seine Leistungsfähigkeit mittlerweile einzuschätzen. Den knappen Kilometer ging er zielstrebig und ohne sich von Ritter´s Hund ablenken zu lassen, der immer spielen wollte und ohne auf Oma Kriegers Geschimpfe zu achten. Obschon er es gern hörte wie Oma Krieger schimpfte. Oma Krieger hatte den alten Polnisch-Stettiner Dialekt drauf, und je mehr sie sich echauffierte, desto vergnüglicher war es für Harald.
„Haraldchen, wäißte, wennde mal jrouß bist, dann wirste de Jundula häiraten, das ist en joutes Mäidchen!“
Ernst nahm sie niemand so richtig und allein die Vorstellung Gundula heiraten zu müssen, trieb ihm die Lachfalten ins Gesicht. Diese Konfiguration war einfach zu abstrakt und zu lächerlich. Wer unterwirft sich schon freiwillig jemand, den man kaum kennt? Und sich wissentlich und willentlich in ein Abenteuer zu stürzen, dessen Folgen die Scheidungsrichter alltäglich auf den Tischen haben ist nicht nur dumm, sondern ebenso ignorant wie selbstmörderisch.
Nein, zu dieser Zeit träumte Harald, man glaubt es kaum, von Emma Peel.
Die Leder – Emma, die Karate – Emma. Die: Fass mich an und du bist Toastbrot – Emma.
Ach, warum wollen Sie wissen? Ich dachte mir, dass sie das wissen wollen! Nun gut. Harald musste beobachten und aufpassen. Immer schon. Auf seine Schwestern. Auf seine Oma, bei der er lebte, weil sie manchmal ein wenig „tüdelig“ war. Auf seine Mutter. Auf seine dicktittige Tante besonders. Er tat dies nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern ebenso aus dem Gefühl heraus, sie vor irgendetwas schützen zu müssen. Eine diffuse Gefahr, die er selbst nicht wahrnehmen konnte, aber irgendein archaisches Relikt einer genetischen Programmierung darstellte.
Deswegen mochte er Emma. Weil Sie stark genug war und intelligent. Weil sie selbst auf sich aufpassen konnte und weil es ihn bereits als Kind anmachte, dass sie in Leder herumlief. Und weil Emma, im Gegensatz zu seinem eigenen weiblichen Umfeld, wenig sprach und dennoch mit diesen wenigen Worten viel sagte, im Gegensatz zu den Politikern der Neuzeit. Und, wie sich später herausstellte, weil es für ihn eine Herausforderung wäre, diese oder eine gleichartige Frau zur Gefährtin zu haben. Weil Emma Peel das Klischee, das er als weibliches Verhalten erlernt hatte und das aus Genusssucht, Trägheit, Desinteresse, Geschwätzigkeit und Widerwillen geprägt war, wie ein Rauschwamm einfach fortwischte.
Harald war ein guter Beobachter. Alles, was seine Festplatte aufzeichnete, wurde sofort mit einem visuellen Muster belegt. Und da Harald mit einem Eidetischen Gedächtnis verflucht war, vergaß er einmal gefasste Grundsätze nie. Unabhängig davon, ob er sie nun befolgte, oder nicht.