Karin und Anita
Die Wunde saß tief. Sie bedrohte nicht mein Leben, nicht meinen Körper. Sie bedrohte meine Seele, meinen Geist. Doch, sie bedrohte mein Leben!Als ich das Taxi verlies, torkelte ich über den Randstein. Da erwischte mich wieder eine Welle. Sie kamen seltener, aber ich wußte, sie würden mich noch eine Strecke meines Lebens begleiten. Ich lehnte mich mit meiner ausgestreckten Hand an die Litfaßsäule. Einen kurzen Moment hielt ich inne, wie ein Betrunkener, der seine Kräfte sammelte, bevor er seinen Weg weiterging. Die letzten Schritte zu meiner Stammkneipe waren wie eine Erlösung für meine Seele. Endlich vertrauten Boden zu spüren, tat gut.
Ich ließ die Eingangstür hinter mir ins Schloß fallen und blieb kurz stehen. Es hatte etwas von einem theatralischen Auftritt in einem schlechten Theaterstück. Der Lärm wurde von einem Moment auf den anderen merklich leiser. Mein Blick schweifte kurz über den Gastraum. Niemand sah mir in die Augen. Es kam mir vor, als versuchte jeder sich durch Nichtigkeiten zu beschäftigen. Ein paar Schritte weiter rettete ich mich auf einen der Barhocker vor dem Tresen. Ich suchte den Blickkontakt zu Heinz hinter der Theke, doch bevor ich bestellen konnte, stellte er ein frisch gezapftes Pils vor mich. Mein Blick sagte ihm danke dafür. Einen kurzen Moment später schob Heinz einen doppleten Aquavit dazu. Heinz kannte mich wie kaum ein zweiter Mensch auf dieser Welt. Er wußte, dass ich heute kommen würde, wie so oft in den letzten Jahren. Und er wußte, welche Medizin meine Seele brauchen würde.
Der Kümmelschnaps ronn meine Kehle herunter, kühl und frisch, wie das Wasser eines Bergbaches. Ich wünschte, schon der erste Schnaps würde reichen, meine Sinne zu benebeln und die Gefühle zu verdrängen. Doch das sollte ein Wunsch bleiben. Ich ließ ihn eine Weile wirken und erfreute mich an seinem Geschmack. Es würde wohl für längere Zeit eine der wenigen Freuden in meinem Leben sein. Dann schüttete ich einen großen Schluck Pils hinterher. Es sollte schnell gehen. Es mußte schnell gehen. Ich mußte einen Grad der Betäubung erreicht haben, der die nächste Welle erträglich machen sollte für mich.
Ich sah auf zu Heinz und unsere Blicke trafen sich kurz. Wir mußten nicht reden, um uns zu verstehen. In den letzten Jahren hatten wir viel geredet, über alles nur mögliche. Und in dieser Zeit war er mir ein treuer Freund geworden. Ich legte keinen Wert auf Mitleid oder Worte der Anteilnahme. Viele hier hatten Karin gekannt. Sie war der Typ Mensch, den man schon nach kurzer Zeit sympathisch fand. Ein quirliger Mensch, der die trüben Gedanken vertrieb und gute Laune verbreitete. Der Typ Frau, der reden konnte ohne langweilig zu sein oder sich zu wiederholen.
Da war sie wieder, die Welle. Sie erreichte mich von der Seite. Und wie ein Schiff, das zu kentern drohte, versuchte auch sie mich umzuwerfen. Nur mit Mühe konnte ich mich auf dem Barhocker halten. "Ich muß lernen, auf diesen Welle zu reiten, wenn ich nicht untergehen wollte." sagte ich zu mir. Aber war das noch wichtig heute Abend? Ich würde mit Sicherheit mein Stammlokal nicht zu Fuß verlassen. Die Menge an Alkohol, die ich vor hatte zu vernichten, würde es mir unmöglich machen. Und Heinz würde sich um mich kümmern. Morgen gegen Mittag werde ich auf der Couch in seinem Wohnzimmer aufwachen. Dorthin würde er mich schleppen. Vielleicht würde er mich noch zudecken und einen Eimer vor die Couch stellen, zur Sicherheit.
Ein zweiter Schluck und der Dritte. Das Pilsglas war nicht lange leer. Heinz hatte für Nachschub gesorgt und für einen weiteren Aquavit.
"Ich möchte zahlen, Heinz."
Plötzlich stand sie neben mir. Ich hatte sie nicht kommen sehen, wie auch. Zu sehr war ich mit mir und meiner Trauer beschäftigt.
"Hallo, Anita." Es kostete mich Überwindung zu sprechen.
"Hallo, Peter."
Wir schwiegen uns eine Weile gegenseitig an. Die Situation war mir plötzlich peinlich und ich wußte nicht warum. Ein Mann, der in eine Kneipe geht, um sich zu betrinken, ist nicht unbedingt peinlich. Gerade wenn die Umstände so liegen, wie bei mir.
"Neun siebzig, macht das." sagte Heinz zu Anita. Und Anita legte ihm einen 10er hin, mit der Bemerkung "Stimmt so!".
"Trinkst du einen mit?" fragte ich sie.
"Auf Karin?" und einen kurzen Moment später, "Sehr gerne." antwortet sie.
Heinz stellte uns zwei Pils hin und wir stießen an. Beide nahmen wir einen großen Schluck, als wäre das ein nachträgliches Kompliment für Karin.
"Ich weiß, es ist schwer, die richtigen Worte zu finden. Und vieles, was man sagt, klingt oberflächlich. Aber du sollst wissen, dass sie mir fehlen wird." sagte Anita und eine kleine Welle umspülte meine Füße.
Ich war noch nicht zu betrunken, um die Ehrlichkeit in ihren Worten zu spüren.
"Sie war so, wie ich nie sein werde. Lustig, unbeschwert, ein Fels in der Brandung, voller Tatendrang, erfolgreich." sprach sie weiter und ich stand knietief in meiner Welle.
"Und sie hatte all das, was ich nie haben werde. Ein tolles Auto, ein Haus und einen Mann, den sie liebte." sprach sie weiter und ich stand bis zur Hüfte in meiner Welle.
Sie stieß mit mir an und leerte ihr Glas in einem Zug.
"Mach's gut, Peter!" sagte sie und verschwand schnell.
Zu schnell für meine Begriffe. Ich sah zu Heinz, aber der zuckte nur mit den Schultern.
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass gerade mehr passiert war als eine Unterhaltung über einen verstorbenen Menschen. Ich verließ fluchtartig das Lokal. Draußen suchte ich nach Anita. Ich hatte zu lange gewartet! Oder doch nicht? In der Ferne meinte ich sie zu sehen. Ich rannte ihr hinterher, rief ihren Namen. Aber sie blieb nicht stehen. Ich lief schneller und hielt sie an ihrer Jacke fest. Sie vermied mir in die Augen zu sehen.
"Was war das gerade in der Kneipe?" sprach ich sie vorwurfsvoll an.
"Nichts!" antwortete sie verlegen.
"Doch, ich habe gehört, was du gesagt hast. Aber ich will von dir hören, was du NICHT gesagt hast!"
"Nein, es ist der denkbar schlechteste Moment. Bitte verlange das nicht von mir." sagte sie und wich meinem Blick aus.
"Wenn nicht jetzt, wann sonst. Du wolltest etwas sagen, jetzt hast du die Chance dazu. Sie kommt vielleicht nie wieder."
Sie zögerte und ich überlegte, wie ich das Ungesagte aus ihr holen könnte. Aber dann sprach sie leise und zögerlich. Es fiel ihr sichtlich schwer.
"Als Karin noch lebte, wollte ich mit ihr konkurrieren, weil sie so war, wie ich sein wollte. Und weil sie all das hatte, was ich auch haben wollte. Aber ich habe mich nicht getraut. Sie war so perfekt, wie sie war. Ich hätte keine Chance gehabt. Und jetzt, wo sie tot ist, steht sie über mir und bleibt für immer unerreichbar für mich."
Tränen flossen ihr über das Gesicht und sie atmete schwer.
Ich nahm ihr Gesicht zwischen meine Hände und drückte ihren Kopf in meine Richtung.
"Laß mich gehen!" flehte sie mich an ohne mir in die Augen zu sehen.
Ich küßte sie und zeitgleich erwischte mich eine Welle. Sie war anders als die vorangegangenen. Die anderen Wellen nahmen mir die Luft zum Atmen und die Kraft zum Stehen. Diese Welle nahm mir meine Beherrschung und meine Vernunft.
Ich küßte sie nicht, ich zwang ihr meine Lippen auf. Ich nahm sie nicht in den Arm, ich drückte sie an die Hauswand. Ich ergriff ihre Hände und hielt sie auf Schulterhöhe an die Hauswand. Meinen Körper presste ich an ihren. Und meine Zunge bohrte sich in ihren Mund.
Sie gab ihren Widerstand auf und ließ meine Begierde über sich ergehen.
Und von weit weg hörte ich ihre Stimme.
"Bitte nicht!"