Ilse Bilse, keiner willse
„Ich sitze im Zug“, sagte Ilse und wackelte mit ihrer Hakennase über dem Hosentaschencomputer, während eine Stimme ihr aus dessen Lautsprecher entgegenblökte. „Ich sitze im Zug und bin nicht am Zug“, fuhr sie fort. „Oder vielleicht doch?“, überlegte sie.
Die Stimme aus der Sprechtüte des Computers im Hosentaschenformat hörte ihr überhaupt nicht zu, sondern blökte noch immer, wie der Bock in der Herde, der von dem Weidezaun umzäunt war, aber gern das Gatter dazu mit seinen Hörnern aufstoßen hätte.
Ilse wackelte erneut mit ihrer langen Nase über dem Bildschirm ihres Computers, der bequem in die Hosentasche passte, während ihre dürren Finger wie die Spinnenbeine eines Weberknechtes das Gerät umfangen hielten.
Sie stellte sich gerade vor, dass ihr über den Lautsprecher eine Trilliarden Ohren zuhörten und ihre Worte für bahre Münze nehmen würden. Diese Ohren bildeten in ihren Gedanken viele Haufen von Ohrensternen, Ohrensternensysteme und ganzen Ohrengalaxien sowie Ohrengalaxienhaufen, Ohrennebel und, und, und …
Und sie saß mitten drin in dieser Phantasie und war die auseinandertreibende Kraft ihrer ihr zuhörenden Ohren, bis diese Kraft nicht mehr in die entferntesten Winkel ihres Ohrenuniversums reichte und alles rasant von außen nach innen zu implodieren begann und in den Sog der Welt eines einzigen Sandkorns hineingesaugt wurde, um schließlich erneut die Grenzen des Sandkorns im Getriebe dieser Welt zu sprengen.
Ilse war wie paralysiert von diesen Gedankengängen und bildete sich ein, dass sie schon am Zug sei, aber die Gegebenheiten so schnell an ihr vorbeirasten, weil sie gerade im ICE nach Hintertupfingen unterwegs gewesen war, dass sie gar nicht wusste, wohin sie zuerst zupacken sollte.
Der Schafbock blökte noch immer aus dem Lautsprecher ihres Minicomputers und begann mit seinen stimmlichen Hörnern immer stärker gegen dessen Gehäuse zu stoßen, so dass das Gerät immer stärker zu zappeln begann und sich in alle Richtungen ausbeulte. Es hatte schon die Größe einer moderneren Dame-von-Welt-Handtasche angenommen, als Ilse mit ihrer Hakennase darauf stieß, erschrocken aus ihrer Gedankentrance erwachte und wie ein Kind, das etwas Verrücktes getan hatte, hinter der vorgehaltenen Hand ihrer weltbesten Freundin zu kicherte.
Dann nahm sie ihre Beine in die Hand und hetzte, als der Zug endlich an ihrem Zielort in seinen Bahnhof eingefahren war, auf und davon. Sie rannte, als ob der Teufel hinter ihr her gewesen wäre, über das lebensgroße Schachbrett ihres Traumes auf und davon, bog an der Seuf(z)erbrücke nach Links ab und traf sich selbst in der hohlen Gasse an, die hin zu ihrer Herzgrube führte.
Dort kam sie schließlich ihrem Devil-in-me gegenüber zum Stehen und wunderte sich nicht darüber, dass dieser ihr seine spitze Zunge entgegenstreckte und darauf ihren Hosentaschencomputer balancierte, der inzwischen auf die Größe eines alten Schrankradios angeschwollen war.
Niemand außer ihm reichte ihr die Hand, und er fragte sie mit rauer Stimme, ob sie nicht Freunde seien wollten, die sich einander liebten. Ilse war ganz gerührt von dieser Vorstellung und tänzelte ein wenig um ihre eigene Achse herum, schlug schließlich aber doch in seine Klauenhand ein.
So kam es, dass auch Ilse einen Freund abbekam, wenn auch nur sich selbst.
© CRK, Le, 09/2020