Schlaflos
SchlaflosEigentlich hätte ich schlafen sollen. Ich schlief ohnehin zu wenig. Je mehr ich mich mit dem Gedanken ans Einschlafen quälte, desto weniger gelang es mir. Ich wälzte mich von links nach rechts, drehte das Kissen um, dann die Decke. Draußen fuhren einige Autos vorbei und in einiger Entfernung konnte ich den Nachtexpress vorbei rauschen hören. Normalerweise hatte diese Geräuschkulisse eine beruhigende, einschläfernde Wirkung auf mich.
Nicht so in jener Nacht. Immer wieder kehrten meine Gedanken an den vergangenen Abend zurück. Die Gespräche jenes Abends hatten mich tief erschüttert und bis ins Mark getroffen. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber insgeheim hatte ich Angst bekommen.
Warum zum Teufel war ich nur zu diesem gottverdammten Vortrag dieser, dieser katholischen Frauenbewegung gegangen? Eigentlich wusste ich es, aber der Grund dafür war mir peinlich. Mir war langweilig und ich wollte meiner bohrenden Einsamkeit wenigstens für ein paar Stunden entkommen. Doch dann wurde alles nur schwieriger, bis unerträglich.
Die Frauen von diesem Verein hatten mich schon wochenlang bekniet, endlich mal zu einem der Vorträge zu kommen. Ich sah diese Tussies doch jeden Tag auf der Arbeit. Ich bin Bankangestellter, Stellvertreter des Filialleiters noch dazu. Da musste ich mich wenigstens einmal im Jahr dort blicken lassen. So ließ ich mich also überreden.
Der gesamte Kirchenrat, fast der gesamte Gemeinderat, einige Wichtigtuer und natürlich die Moralapostel der Gemeinde waren gekommen, um dem Vortrag über „Glaube und Sexualität“ zu lauschen. Der Vortrag langweilte mich. Was hatte Glaube mit Sex zu tun? Warum dürfen nur Männer und Frauen was mit einander haben? Warum sollte man sich nur auf einen Partner beschränken und das ein Leben lang, auch wenn man sich erwiesenermaßen nicht mehr mochte und einander auf den Geist ging?
Mein Chef, der Angerer, war auch da. Er war DIE moralische Stütze der Gemeinde, Chef des Kirchenrats und Gemeinderatsvorsitzender, auch hatte er ein Amt im Raiffeisenverband inne. Mir grauste davor, mit ihm auch privat sprechen zu müssen. Er war immer so von oben herab zu mir, weil ich Single war, weil ich von der Stadt aufs Land gezogen war. Herr Angerer wollte mich immer wieder davon überzeugen, mich der „Herde“ anzuschließen. Aber ich war noch nie ein Herdentier.
Ich wälzte mich unruhig in meinem Bett. Es war heiß.
Was mich an diesem Abend so beunruhigt hatte, war die moralische Entrüstung der Leute gewesen, als ich sagte, ich brauche für mein Heil weder Kirche noch eine Frau. Das hätte ich mir besser verkneifen sollen. Am liebsten hätte ich mich nachher selbst geohrfeigt.
„Flo, wie konntest du nur so blöd sein“, sagte ich zu mir selber und versuchte eine neue Schlafposition. Dann sprang ich aus dem Bett und ging ans Fenster.
Zuhause rannte ich meistens nackt herum, nur wenn Besuch kam, war ich bekleidet. Ich öffnete das Fenster und sog die kühle Nachtluft ein. Im Nachbarhaus war noch Licht. Jetzt ging es aus und ich wusste, dass der alte Spanner von vis-a-vis mich beobachtete. „Holst du dir jetzt einen runter, du alter Wichser“, sagte ich halblaut. Aber wer war ich, so über andere zu reden.
Wütend auf mich selber drehte ich mich um und ging in die Küche. Ein Bier würde vielleicht helfen. Durstig war ich ohnehin.
Während ich in die Küche ging dachte ich an den weiteren Abend.
Nach dem faden Vortrag gab es das unvermeidliche Buffet, das aus warmen Weißwein, angetrockneten Schinkenbrötchen und Salzgebäck bestand. Auf den Tabletts waren einige Weintrauben verteilt, so sollte es wohl etwas hübscher und dekorativer aussehen. Der Pfarrer hatte den Wein aus seinem Vorrat spendiert. Messwein vom Geld der Steuerzahler, dache ich grimmig und schenkte mir ein Glas Mineralwasser ein. Ein Bier wäre mir lieber gewesen.
„Flori!“ Diese Stimme kannte ich nur zu gut. Ricke! Immerzu versuchte sie mit mir zu flirten. Ich konnte sie nicht leiden und an diesem Abend schon gar nicht. Ich war nicht in der Stimmung für Spielchen. „Wie hat dir der Vortrag gefallen?“ Sie ließ mir keine Zeit für eine Antwort sondern fuhr ohne Pause einfach fort. „Einfach wunderbar, was für schöne Worte der Pfarrer doch für die Sache gefunden hat.“
„Wenn du meinst“, erwiderte ich, ohne damit ihren Enthusiasmus zu bremsen. „Denkst du, dass Sex was Schlechtes ist“, wagte ich zu fragen.
„Flori!“ Sie war entsetzt, weil ich noch nie so unverblümt und laut geredet hatte. Ricke dreht sich um und rauschte davon.
„Blöde Kuh“, murmelte ich.
Doch da kam schon der nächste Schock auf mich zu.
„Herr Müller! Jetzt haben Sie die einzige annehmbare Dame hier verscheucht“, sagte Herr Angerer, mein Chef und Obermoraler hier im Dorf.
„Sie sollten sich die Gute warm halten. Frau Dirner ist vermögend und noch jung, sie wäre eine gute Partie.“
„Darauf kann ich verzichten.“ Ich war wütend. Warum kümmerte man sich hier so um mein Privatleben. Das ging doch keinen etwas an.
„Sie sollten sich endlich eine Frau suchen. Ein gut aussehender Mann wie Sie und in Ihrer Position braucht eine Frau.“ Herr Angerer kam vertraulich näher und sprach mit gesenkter Stimme weiter: „Ich habe Sie hier noch nie mit einer Frau gesehen. Sie sind doch nicht … ich will es gar nicht aussprechen.“
„Wenn Sie fragen wollen, ob ich schwul bin, fragen Sie ruhig. Aber wo wäre der Unterschied.“ Ich hielt meine Stimme nur mit Mühe ruhig und versuchte Gelassenheit auszustrahlen.
„Was es für einen Unterschied machen würde!“ Der Angerer war jetzt in seinem Element, daran hatte ich nicht gedacht. „Einen gewaltigen. Sie Dummkopf. Homosexualität ist eine Krankheit, nein, nein eine, eine SÜNDE, ist das! Das ist nicht normal!“ Er bekam einen roten Kopf und mich beschlich die irre Hoffnung er würde einen Anfall oder so was erleiden, was er natürlich nicht tat. Hastig trank er von dem warmen Wein und fuhr ruhiger fort. „Sie suchen sich sofort eine nette kleine Frau, dann ist alles in Ordnung, haben wir uns verstanden?“
„Oja, Herr Angerer, ich verstehe sehr gut.“ Damit drehte ich mich um und verließ diesen grauenhaften Ort.
Wenn so eine Gemeinschaft von Gläubigen ist, die sich dem angeblichen Gott der Liebe verschworen haben, dann will ich damit nichts zu tun haben, dachte ich und trank mein Bier. Der Balkon lockte mich, dort fand ich auch endlich meine Zigaretten. Dankbar zündete ich mir eine an. Ich trank, rauchte und gab mich meinem elenden Gefühl der Unzulänglichkeit hin. Nein, unzulänglich war ich nicht. Ich war nicht unzulänglich!
„Ich bin normal! Ich bin gut so wie ich bin! Lasst mich endlich in Ruhe“, schrie ich in die Nacht.
„Schwule können wir hier nicht brauchen“, hatte der Angerer mir noch nachgerufen, das fiel mir jetzt wieder ein.
„Ich bin ein MENSCH, was macht das für einen Unterschied“, hatte ich erwidert.
„Sie können sich am Montag Ihre Papiere abholen. Jetzt weiß ich Bescheid. Sie sind keiner von uns“, die Stimme vom Angerer war schneidend, kalt wie Eis und hart wie Stahl.
Ich erwiderte nichts mehr sondern lief einfach weg.
„Ich bin ein Mensch! Lasst mich Mensch sein“, heulte ich in mein Bier. Ich trank das restliche Bier in einem Zug aus, zündete mir eine weitere Zigarette an und überlegte mir, was jetzt zu tun sei.
„Warum bin ich nur hierher gekommen? Welcher Teufel hat mich da geritten? Ich hätte wissen müssen, dass es auf dem Dorf härter ist, als in der Stadt.“ Das sagte ich mir immer wieder. Aber es half nichts. In der Stadt hatte mich nichts mehr gehalten. Wieder ein Job verloren, weil ich nicht so war wie die Mehrheit … hetero. Was macht es für einen Unterschied?
Das Gesicht vom Angerer stand mir noch immer lebhaft vor Augen, der starre eiskalte Blick, das gerötete Gesicht, die vor Entrüstung geschwollene Brust. Er hätte einen guten Inquisitor abgegeben. Wenn ich gesagt hätte, ich sei Satan persönlich hätte er nicht entsetzter sein können.
Ich trank mein Bier aus, holte mir eine neue Flasche und versuchte zu einer Entscheidung zu kommen. Ein Outing war nach diesem Abend nicht mehr nötig. Die Tatsache meiner Homosexualität würde sich bis zum Morgen im ganzen Ort herumgesprochen haben. Ich war neugierig, was meine Vermieter dazu sagen würden. Aber ich hatte sowieso nicht vor, noch länger hier zu bleiben, hier, wo man mir plötzlich mit Verachtung begegnete, sogar mit Hass.
Ich saß die ganze Nacht auf dem Balkon, rauchte und trank und versuchte mich zu orientieren. Was sollte werden? Sollte ich es hier durchkämpfen oder lieber weggehen?
©Herta 7/2009