Aus der Erzählung: " Im Leben danach "
Die erste Nacht am anderen MeerDoris verließ den Flieger Punkt 9:00 Uhr. Das nasskalte Deutschland tauschte sie nach etwas mehr als drei Stunden mit der Sonne. Damit waren nicht ausschließlich die Maitemperaturen und der Regen gemeint. Diesmal sollte es kein üblicher Badeurlaub werden. Doris war ausgerissen nach der Pleite ihres eigenen kleinen Ladens. Abgehauen, von Peter ihrem Nochmann, der sie nicht nur um gemeinsames Geld betrogen hatte. Vor allem aber lief sie vor sich selbst weg. Der einzig fassbare Lichtblick in ihrer Ohnmacht war das Verlangen weit weg zufahren, zu schwimmen oder zu fliegen, um irgendwie wieder anzufangen zu leben.
Der Linienbus kroch die Serpentinen weiter in Richtung Süden. In den zwei Bergdörfern kurz vor der Ebene verließen die meisten Passagiere das Gefährt. Nur noch zehn Soldaten begleiteten Doris hinab wieder dem Meer entgegen. Erst mit der einsetzenden Leere nahm sie die jungen Männer richtig wahr. In erster Linie entsprang ihre Aufmerksamkeit dem Geruch süßlicher Strenge vermischt mit allerlei Körperchemie, die jetzt den Raum einnahm. Den kannte sie aus ihrer Kindheit, wenn Vater nach Hause kam. Alle getragenen Uniformen der Welt entfesseln wohl diese Erscheinung. Natürlich wuchsen ihr jetzt Zweifel, ob sie wohl den richtigen Ort gewählt hatte.
„Viel Auswahl bleibt nicht, wenn man nach Entfernung, Flugpreis und billigem Quartier mit open end sein Ziel bestimmt.
Im Internet stand verträumtes Fischerdorf, einsame Strände, erholsame Natur…aber nicht kulturlose Einöde“, waren die harmlosesten Gedanken die ihr kamen.
Der plötzlich weite Blick auf die bewaldete hüglige Landzunge, die zwei Meere teilte, lenkte sie nicht wirklich ab. Einer der Jungs, schräg neben ihr, himmelte sie förmlich an, hielt aber ihrer Augenantwort nicht stand.
„Na wenn schon, dann angele ich mir so einen Helden. Es wird ja auch solche in passendem Alter geben. Dann ziehe ich eben in Ermanglung von Häusern mit ihm um die Bäume.“
Dieser Gedanke schönte ein wenig ihre scheinbar trostlose Situation.
Der Bus verließ die glatte Straße und holperte nach zwanzig Biegungen durch den Wald direkt an einen kleinen Hafen. Hier war aber alles wieder glatt, großzügig und neu. Das Blau-Weiß der Fischkutter schien mit den gleichen Farben der grob geschätzt fünfzig Häuser um die Wette zu strahlen. Unter einer großen Platane auf einem kleinen Platz mit Kappelle, Taverne, Post und Supermarkt war dann Endstation. Doris empfand richtig freudige Erwartung auf ihr Quartier. Ihre Stimmung kippte zusehends ins Positive. Sie fand die kleine Pension schnell und bekam ganz ohne Meerblickaufschlag ein helles Zimmer zum Wasser. Nur Strand gab es sichtbar nicht. Das musste sie den freundlichen Wirt, der sie in einer halben Stunde zu einem Ortsspaziergang eingeladen hatte, unbedingt fragen. Noch bevor es losging gab es eine Unterhaltung bei der es Doris stellenweise unheimlich wurde. Der Gastgeber gab ihr ein Plastikkärtchen mit ihrem Bild und Personaldaten. Sie verwunderte, dass ihr Geburtsdatum und Passnummer korrekt wiedergegeben waren, die aber bei ihrer Buchung gar nicht abgefordert waren. Die Rückseite enthielt ein Ausstellungsdatum weit vor ihrer Ankunft und einen merkwürdigen rosa Stempel, der eine Gültigkeit für den Monat Mai bescheinigte. Die Begründung, dass dies eine Art Hausausweis sei, der sie berechtigt sich auch nach 23:00 Uhr in der Umgebung zu bewegen und den Strand zu benutzen, der eigentlich im Sperrgebiet liege, beruhigte sie nur teilweise. Das sie ihr Handy und andere elektronische Geräte, selbst ihren Discman, nicht dorthin mitnehmen sollte, fand sie schon wieder mehr als absonderlich. Beim folgenden Rundgang vergaß Doris zeitweilig alle Ungereimtheiten. Joseph, so hieß der Wirt und wollte zukünftig auch nur noch so genannt werden, schritt stolz wie ein Hahn neben ihr. Er zeigte ihr alle Sehenswürdigkeiten im Schnelldurchgang und lud sie auf einen Rotwein in die Taverne ein. Die Tatsache, dass ihre Vorstellung gegenüber den Anwesenden so klang, als habe er sie persönlich erobert und hierher geschleppt, nahm sie amüsiert hin. Das Willkommen der fünf älteren Herren fiel herzlich aus. Besonders der Hafenkommandant hatte sie gleich in sein Herz geschlossen, als er erfuhr, dass sie von der Ostsee kam und das Meer liebte. Sie sollte unbedingt mit ihm am Wochenende zum Fischen hinausfahren. Auch der Apotheker, der nebenbei eine kleine Bibliothek und das Internetcafe betrieb, lud sie zu einem baldigen Besuch ein. Die griechische Gastfreundschaft hatte Doris eingefangen und vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Joseph hielt sein Wort und nach dem einen Glas brachen sie wieder auf. Mit der Offenbarung ihrer neuen Eindrücke und mit einem Kuss auf die Wange bedankte sie sich bei ihm für den Empfang. Joseph, sichtlich gerührt von diesem Überschwang, kündigte nach der Rückkehr zum Haus noch eine Überraschung an. Gegen eine wirklich kleine Gebühr durfte sie einen Motorroller nutzen. An dieser Stelle war dann der zweite Kuss fällig. Die Spitze von Josephs Schnurbart kitzelte ihre Lippen und ließ sie zusätzlich lachen. Obwohl der Abend schon heraufzog, begab sich Doris sofort auf Tour. Den Weg zum Strand fand sie schnell. Nach nur vier Minuten Fahrt durch den Wald stand sie vor der Felswand und dem beschriebenen Durchbruch mit der geöffneten Pforte. Sie stellte den Roller neben einem Dutzend Fahrrädern ab und übergab dem herbeikommenden Posten ihre Plastikkarte. Nach einem kurzen Blick steckte er das Teil in eine Art übergroßes Handy das nach fünf Sekunden piepte.
„Vielen Dank, Frau Dietrich, bitte denken sie daran, dass der Strand in gut drei Stunden geschlossen wird!“
Ihrer Verwunderung, ob seines starken berliner Akzentes, entgegnete er gleich ungefragt:
„ aufgewachsen in Kreuzberg, jetzt Wehrdienst in Griechenland und im nächsten Jahr Studium in Frankfurt. Wünsche ihnen viel Spaß“, und gab ihr den Ausweis zurück.
Der Weg wurde zur Felsspalte.
„Ein Entgegenkommer mit mehr als siebzig Kilo wäre wohl nur durch übersteigen zu passieren.“
Es kam aber niemand, bevor plötzlich die Berge zurückwichen. Vor ihr lag ein etwa zwei Kilometer langer Strand nur unterbrochen durch übergroße Steine. Teilweise lagen sie übereinander und bildeten romantische Höhlen und Tore. Die untergehende Sonne färbte den feinen Sand fast rot. Sanfte Wellen brachen sich am flachen Ufer. Die ganze Bucht umgaben schroffe Felsen. Nur landeinwärts, in der Mitte, schien hinter Hecken und Mauer recht üppige Vegetation zu sein. Davor standen ein flaches Gebäude und eine Strandbar. Um sie herum verteilten sich Schirme bedeckt mit Palmenblättern, die Liegen überdachten.
„Das stand nicht im Reiseführer“, war sich Doris sicher.
Mit schnellen Schritten lief sie zum Wasser. In ihrem Rücken verließ lärmend eine Gruppe Jugendlicher den Strand. Es musste die Fahrradtruppe gewesen sein. Zum Baden war es zu spät, aber die Bar blieb ihr immer noch. Sie entschloss sich barfuss im Wasser bis zum Ende dieses Naturereignisses zu gehen. Genau mit Sonnenuntergang kam sie dort an. Sie setzte sich auf einen Stein und beobachtete versonnen das Farbenspiel. Als es dunkelte lief sie auf gleichem Weg zurück. Sie war noch auf Höhe jener Steintore und unschlüssig, ob sie noch zur Strandbar gehen solle, als laute Musik von dort sie verhalten ließ. Auf dem Holzboden vor den Hockern tanzte engumschlungen ein ungleiches Paar. Sie, Asiatin, unterbrach mehrfach abrupt die Tanzschritte, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste leidenschaftlich ihren Tänzer. Er, grauhaarig, bestimmt unpassend zwanzig Jahre älter und an seiner Kleidung als Barkeeper erkennbar, hatte dieses Auf und Ab schließlich satt. Er hob sie an den Pobacken auf Kopfankopfhöhe. Sie nutzte das, um sich trotz wilder Drehungen vollends an ihm festzusaugen. Unterhaltung zwischen beiden konnte sie nicht verfolgen, die Entfernung war zu groß und herüberwehende Fetzen klangen sehr ausländisch. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Noch bevor der bekannte Kuschelsong von R.W. zu ende war, setzte er sie ab. Das Mädchen drehte ihm den Rücken zu und schob eine seiner Hände über den hochgerutschten Rock hinweg direkt in ihren Slip. Doris stand wie vom Blitz getroffen. Nicht die momentanen Einblicke hatten sie verunsichert. Da schien sich trotz unanständigen Altersunterschiedes echte Zuneigung mit Zärtlichkeit voneinander zu verabschieden. Wie der Schluss eines unbedeutenden Urlaubsflirts sah das nicht aus. Sie hatte Angst, dass jede weitere Bewegung sie in den Lichtkegel bringen könnte und ihre Entdeckung den Akteuren vielleicht peinlich war. Die letzten Takte verhallten. Die Asiatin drehte sich zurück, zog ihren Rock über die wieder unberührte Scham und lief auf die Hecken zu.
„Bye Vaa, …und vergiss mich bis September.“
Er machte noch einen Schritt in ihre Richtung, verhielt und winkte nur noch.
„Vaa“, Doris war sich nicht sicher ob sie den Namen richtig verstanden hatte, winkte ohne sich umzudrehen zurück. Vielleicht hieß sie Vanessa und gab ein Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Der Mann kam, in dem er sich äußerlich straffte, wie aus einem Traum zurück und lief zur Bar. Als er wieder im vollen Licht stand hatte Doris das Gefühl, dass sie ihn von irgendwoher kannte. Bei dem Mädchen, war sie sich nach kurzer Überlegung völlig sicher, sie ist diese japanische Pianistin, die gerade eine Tournee durch Europa macht. Monatelang stand in allen bunten Klatschzeitungen etwas von Drogen, Magersucht und Absturz. Das muss aber schon zwei Jahre her sein. Ihr Comeback wurde nicht kommentiert. Sie wurde wieder gefeiert, als war sie nie verschwunden.
Der Weg zum Tresen verbat sie sich. Zudem machte die bevorstehende Sperrzeit den Rückweg unumgänglich. Das Grübeln über die Begegnung, vor allem über den bekannten unbekannten Mann, verließ sie bald.
In ihrem Quartier hatte Joseph eine Flasche Rotwein bereitgestellt. Sie nahm diesmal mehr als ein Glas und schlummerte zufrieden ein.
Der schöne Tag war in die Nacht und einen Traum gewachsen. Kein böser Alptraum, der wie in Deutschland sie oft schüttelte und unsanft erwachen ließ. Die glücklichen Bilder des Tages vermischten sich mit solchen aus ihrer Kindheit und Jugend. Da war plötzlich auch eine Szene am Marinekai im Rostocker Breitling. Ein Mann stand vor ihr im schwarzen Neoprenanzug und erklärte irgendein Sauerstoffgerät, das keine Luftblasen aufsteigen ließ. Als sie kurz darauf munter wurde schien die Sonne hell durch die Vorhänge. Sie stand auf und erinnerte sich, den Mann den gestern die hübsche Pianistin küsste, kannte sie. Sie hatte ihn im Traum genauso deutlich gesehen wie alive. Freilich müssen beide Begegnungen fast zwanzig Jahre auseinanderliegen. Sie faszinierten damals nicht die technischen Details seiner Ausrüstung, die er beschrieb. Es war die männliche Erscheinung. Der schwarze schlanke Körper, seine Stimme und die Gesten übten eine unbekannte Anziehungskraft auf sie aus.
„Ich war unschuldig heimlich verliebt in diese Gestalt“, resümierte Doris ihre damaligen Empfindungen nachträglich belustigt.
Nach dem Duschen und einem ausgiebigen Frühstück brach sie zum Strand auf.