Die Marmeladen-Prinzessin
Berry Straw fuhr mit ihrem Wagen über Land. Sechs Tage die Woche und das 52 Wochen im Jahr, abzüglich der Feiertage, stand sie auf den immer gleichen Wochenmärkten auf den immer gleichen Standplätzen. Ein wackeliger Tapetentisch, hinter dem sie auf einem plastikbezogenen Klappstuhl Platz nahm, musste reichen, um die Erdbeermarmelade, die ihre Mutter und ihre Großmutter samt Tante Thelma herstellten, gewinnbringend an die Frau zu bringen. Klassische Erdbeermarmelade lief allerdings nicht sonderlich gut, was nach ihrer persönlichen Beobachtung schlicht und ergreifend daran lag, dass die Frauen im ländlichen Raum sie selbst herstellten.„Vielleicht liegt es auch an Deinem langweiligen Aussehen.“
Sie zuckte zusammen. Wer hatte das gerade gesagt? Sie schaute hoch und zischte empört. „Das ist ja wohl meine Sache“.
Stahlblaue Augen blickten sie aus einem wettergegerbten Gesicht an. „Was ist ihre Sache, Mam?“ Ein Schrank von einem Kerl blickte voller Ernsthaftigkeit auf sie herunter. Sie errötete und stand auf. Inwendig zitternd antwortete sie mit möglichst fester Stimme. „Ich habe nicht Sie gemeint“. Gleichmütig orderte der Mann ein Glas Marmelade, zahlte und ging.
An diesem Abend fuhr Berry nicht sofort nach Hause. Sie strich durch die Straßen der Stadt, schaute sich zum ersten Mal bewusst die Auslagen der Schaufenster an. In einer kleinen Seitengasse stand vor einem Trödelladen ein großer Spiegel. Es war wirklich nichts besonderes, was sie da sah: rotblonde, wirre Haare, zu einer Art Zopf zusammengewürgt und – sie war ehrlich genug, es sich einzugestehen – ein Sack von einem Pullover unter einer nicht vorteilhafteren Latzhose. Würde sie sich selbst Marmelade abkaufen? Tränen rannen über ihre Wangen und erschöpft ließ sie sich am Bordstein nieder. Um sie senkte sich Dunkelheit. Der Trödler holte den Spiegel herein und schloss sein Geschäft. Noch immer saß Berry gedankenverloren am Boden, bemerkte nicht die Kälte, die langsam in ihre Knochen zog.
Am gegenüber liegenden Haus klapperte eine Tür. Sie schreckte hoch und traute ihren Augen nicht. Eine Frau in hohen, schwarzen Stiefeln führte einen Mann an einer Hundeleine auf die Straße. Ihr stockte der Atem. Sie floh mit klopfendem Herzen, eilte zu ihrem Wagen zurück und machte, dass sie nach Hause kam.
„Wo hast Du den ganzen Abend gesteckt?“ Ihre Mutter schaute sie rügend an. „Du hättest anrufen können, dass es später wird. Du wusstest doch, dass heute Tante Gerda's Neffe herkommt.“
„Vergessen“, murmelte sie und wollte nur noch in ihr Zimmer.
„Nichts da“, intervenierte ihre Erzeugerin. „Sag ihm wenigstens guten Abend“. Widerstrebend ließ sie sich in die Wohnküche zerren und blickte in stahlblaue Augen.
„Das ist Paul Ginger, meine Tochter Berry. Paul ist ein Sohn aus der ersten Ehe von Tante Thelmas Bruder Floyd.“
„Wir sind uns schon begegnet. Allerdings war mir nicht klar, dass die Marmeladen-Prinzessin vom Wochenmarkt eine weitläufige Verwandte von mir ist.“
Der weitere Abend lief an ihrem inneren Ohr weitestgehend vorbei. Sie saß stumm in der Ecke, nuckelte ein wenig am Kirschwein und kriegte die Szene in der Gasse nicht aus ihrem Kopf.
„Liebes, nun sag doch was! Paul findet die Erdbeermarmelade zu süß. Er meint, sie bräuchte eine scharfe Note.“
„Wir können ja morgen in der Viehküche ein paar Versuche anstellen“, murmelte sie. „Vielleicht ein wenig Ingwer und Chili dazutun.“
„Ob das funktioniert?“ frage er, jetzt mit einem leicht ironischen Unterton, nach.
„Wenn ich es sage, tun wir es“, fauchte sie.
Die Spottlust in seinen Augen verschwand. „Ja, Mam. Natürlich.“
Grollend verschwand sie in ihr Zimmer. Was der Kerl sich einbildete. Tauchte hier einfach so auf, machte die Marmelade schlecht. Und erst recht diese Augen. „Morgen lese ich ihm die Leviten“, murmelte sie, schlüpfte in ihren Baumwollschlafanzug und kroch endlich ins Bett und versank im Zwischenreich der Wachträume.
Gummistiefel? Oder solche mit hohen Absätzen, wie die Frau sie trug? Wie die sich wohl anfühlten? Sie würde morgen mächtig viel Chili in die Marmelade tun und diesen Schnösel von einem Paul probieren lassen. Sie würde ihn die Mischung selbst herstellen und komplett aufessen lassen. So ein Bastard! Ein Teller ist noch zu gut. Haben wir da nicht noch den alten Hundenapf?
So, ja genau so, würde es morgen passieren, und zwar, wenn die anderen in der Kirche waren. Sie würde dafür sorgen, dass er den Topf umwarf und ihn dann dafür bestrafen.
Mit einer unverhohlenen Mischung aus Spott und Amüsement beobachtete sie seine entgleisenden Gesichtszüge. Hilflos blickte er der zähen Masse hinterher, die sich träge aber unaufhaltsam in den Fugen des Kachelfußbodens verteilte.
„Zunge oder Zahnbürste“, fragte sie gefährlich leise.
Alles in ihm schrie „Zahnbürste“, aber wenn er die Tausende und Abertausende winziger Erbeernüsschen ansah, wusste er, dass es sinnlos war. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht.
„Zunge“, flüsterte er und beugte widerstrebend seinen Kopf in Richtung Boden. Sie blickte an sich herunter. Sicher, so schwarze, hohe Stiefel wären schicker gewesen, aber die aus Gummi taten es auch.
„Ich rate Dir, bring das in Ordnung, bevor die Suppe meine Stiefel erreicht!“ Sie streichelte liebevoll ihre Gerte, bevor sie sie mit leise zischend durch die Luft sausen ließ. Voller Überraschung spürte sie den heißen Strahl, der sich aus ihr ergoss, um sich auf dem Fußboden mit der Erdbeermarmelade zu vermählen.
© sylvie2day, 01. August 2009
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Das kommt dabei raus, wenn das gefallene Engelchen nicht mit der Sprache rausrückt