Endlich zu Hause angekommen
Sie roch den unverkennbaren Duft seines heißen Schweißes, der noch von der Hitze der vergangen Stunden im Zimmer stand. Sie spürte noch immer die Wärme seines Körpers auf ihrer Haut, obwohl er schon lange neben ihr lag und friedlich schlief. Die Erinnerung war immer noch so lebendig, obwohl er Meilen entfernt, auf der anderen Seite des Bettes lag.
Er war in ihren Armen eingeschlafen und seine wirren Haare lagen dicht an ihrer Schulter.
Ihre Blicke trafen fast scheu sein wehrlos offenes Gesicht, als würden sie ein Heiligtum entweihen, das sie zu hüten hätte, aber nicht betreten durfte.
Sie fühlte sich wie eine Schauspielerin in einem Theaterstück, welches ein Abenteuer zum Besten gab, dass nichts mit ihrem Leben zu tun hatte.
Als sie die Augen aufschlug umfing sie die Nacht. Obwohl es eine heiße Augustnacht war, fröstelte sie unter ihrer Decke.
Sie konnte nicht mehr schlafen.
Sie stand auf und ging barfuß zum Fenster. Die Scheinwerfer eines einsamen Autos streiften ihr Gesicht, in welchem noch die Röte und die Hitze der vergangenen Stunden gefangen waren. Sie schaute in die Nacht und erblickte den sanften Schein des Mondes. Sie lauschte den Geräuschen des Hauses und hörte das Lied der schlafenden Großstadt. Einen Schauer überlief sie und es fühlte sich wunderbar an. Sie liebte diese Stadt, ihre Stadt.
Sie ging wieder ins Bett und lag auf ihrer Decke. Sie konnte nicht schlafen. Ihr Herz pochte wie wild gegen ihre Rippen und als sie ihren Kopf zur Seite drehte sah sie sein vertrautes und geliebtes Gesicht.
Dieses Gesicht kannte sie schon sehr lange, eigentlich ihr ganzes Leben. Zum ersten Mal hatte sie es vor über 45 Jahren gesehen. Damals, auf der Straße. Er gehörte zu den großen Jungs, er war der beste Freund ihres Bruders. Ein wilder, schmutziger, ungezähmter Frankfurter Gassenbub. Mutter wollte nicht, dass sie mit ihm spielten. Aber es scherte ihren Bruder nicht, denn Tom hatte die wildesten Ideen, kannte die gefährlichsten Spielplätze, kletterte auf die höchsten Bäume, hatte eine unbändige Phantasie und kannte die schlimmsten Schimpfworte. Sie wollte auch mit ihm spielen, aber er sagte immer: „Du bist noch zu klein, spiel mit Deinen Puppen und warte auf den Weihnachtsmann.“ Wenn sie dann hinter ihm her rannte, so schnell wie ihre kleine Beinchen vermochten, drehte er sich um und zog ihr die Unterhose nach unten. Als sie sie dann wieder nach oben gezogen hatte, um weiter laufen zu können, waren die beiden Jungs weg. Sie hörte noch ihr freches Lachen in der Straße verhallen und war mit ihren Puppen allein. So gerne wäre sie dabei gewesen, wenn die Beiden ihre Abenteuer erlebten und durch die Straßen des Großstadtdschungels strichen.
Die großen Junges bauten sich Seifenkisten und fuhren Rennen. Und immer wenn sie um die Ecke kam, wurde sie weg geschickt. Hau ab Kleine, riefen sie hinter ihr her. Aber eines Tages, da durfte sie mit ihm fahren, mit Tom. Er nahm sie auf den Schoß und fuhr die Straße nach unten. Sie fühlte sich so unendlich geborgen in seinen Armen und hoffte, dass diese Sekunden des Glücks nie vergingen. Sie hörte sein raues Lachen in ihrem Ohr und fühlte es zum ersten Mal. Dieses Pochen in ihrem Brustkorb. Fast bist zum Haaransatz und hinunter bis zu den Knien. Es erfüllte ihren kleinen Körper und kribbelte in ihrem Magen. Sie wusste nicht was es war, doch sie wusste wer der Urheber war.
Mit 11 war sie der größte Fan der Kickermannschaft ihrer Straße. Die Jungs trainierten ständig und fochten richtige Turniere mit anderen Straßenmannschaften aus. Kein Tag, da ihr Bruder nicht mit blutenden Schürfwunden nach Hause kam. Tom war der beste Spieler von Sachsenhausen, das Viertel in dem sie wohnten. Manchmal, wenn sie mit ihren Puppen am Spielfeld stand, winkte er ihr zu und sie spürte dieses wilde Pochen in ihrer Brust.
Die Jungs rauchten manchmal und sie durfte nichts ihrer Mutter sagen. Sie musste einen Bluteid schwören und wenn sie ihn jemals brechen sollte, passierte etwas ganz Schlimmes.
Tom sagte ihr, er würde sie in den Keller sperren, keiner würde es merken und sie musste für alle Zeiten dort ausharren. Nur Herr Minera von gegenüber würde es merken, aber der würde sie bestimmt nicht befrei, er hasste Kinder. Vor allem, wenn es kleine Mädchen waren, die taugen eh nichts, diese kleinen Schlampen.
Sie hätte Tom sowieso nie verraten, denn Tom war ihr großes Vorbild. Wenn sie mal groß war, wollte sie genauso werden wie er. Wild, ungezähmt und frei.
Mit 13 sah sie Tom mit einem anderen Mädchen. Er küsste sie und hielt ihre Hand. Ihr wurde schlecht und sie musste ständig weinen. Sie konnte nichts mehr essen und wollte nur noch im Bett bleiben. Sie spürte eine nicht enden wollende Traurigkeit, einen körperlichen Schmerz, so als ob ihr Herz in zwei Teile zerreißen wollte.
Irgendwann war Tom weg. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern wann und warum. Er hatte sich ganz leise aus ihrem Leben geschlichen. War einfach nicht mehr da und eines Tages hatte sie ihn gänzlich vergessen. Als hätte er nie existiert. Als wäre er nie ihre erste große Liebe gewesen.
Zur Hochzeit ihres Bruders sah sie ihn wieder. Es war ein Hippie aus ihm geworden. Er hatte weiße Jeans an, mit extrem weitem Schlag, so eine, die vorne im Schritt mit Lederriemchen geschnürt wurde. Dazu ein weißes Leinenhemd, welches er lässig über der Hose trug. Er war überall mit Ketten aus Holzperlen geschmückt, um den Hals, an den Handgelenken und an Fesseln seiner Füße. Er hatte nackte Füße welche in Jesuslatschen steckten und die mittlere Zehe des rechten Fußes zierte ein silberner Ring.
Schwarze lange Ringellocken fielen ihm über die Schultern und umspielten sein gebräuntes Antlitz. Er strich seine Haare aus dem Gesicht und sie erblickte diese ebenso dunkel wie faszinierenden Augen. Mit Verzückung stellte sie fest, dass die mediterranen Züge seines Gesichtes sich zu einem Lächeln verzogen, als er sie erblickte.
Sofort hatte sie wieder weiche Knie, fühlte ein brennendes Prickeln auf der Haut und Jumbos flogen im ihrem Magen Loopings.
Sie tanzte die ganze Nacht mit ihm.
Ihre Mutter war außer sich und bekam einen hysterischen Anfall.
Mitten auf der Tanzfläche, sie beide tanzten gerade eng umschlungen zum Titel von Lobo „I'd Love You to Want Me“ da wurde plötzlich heftig an ihr gezerrt, sie wurde mit ohrenbetäubender Lautstärke angeschrieen und sie spürte das Brennen einer Ohrfeige auf ihrer Wange. Sie war wie versteinert, entsetzt. So langsam drangen die Worte ihre Mutter in ihr Ohr. „ Du bleibst weg von diesem Spaghettifresser, von diesem dreckigen Italiener, diesem Halbstarken Tagedieb, schau Dir doch nur an wie der rumläuft und tätowiert ist er auch. Der gehört bestimmt zur Mafie. Geh und setzt Dich auf Deinen Platz, sofort.“
Sie blickte in seine Augen, welche sich mit Tränen füllten und sie fühlte seinen Schmerz, fühlte seine Traurigkeit, seine Enttäuschung, seine Kränkung. Ihrer beider Hände verloren sich, sie wollte noch nach ihm greifen, doch er wich langsam zurück. Er drehte sich um und ging zur Tür. Sie konnte ihn nicht mehr klar sehen, es war alles verschwommen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er drehte sich noch einmal zur ihr um, berührte mit Zeige- und Mittelfinger seine linke Brust und richtet dann diese beiden Finger auf sie. „Ich liebe Dich, schon immer“ sagte er ihr und verschwand.
Seit dieser Zeit haben sie sich nicht mehr gesehen.
Sie hat oft an ihn gedacht, auch am Tage ihrer Hochzeit. In vielen schlaflosen Nächten, ein halbes Leben lang. Mittlerweile hat sie einen Sohn groß gezogen, eine berufliche Karriere und ein beachtliches Leben aufgebaut. Ihre Ehe wurde geschieden und sie hatte ein beschauliches Dasein. Manchmal dachte sie, eigentlich ein zu langweiliges Leben, ich bin noch viel zu jung dafür und manchmal spürte sie da so eine Sehnsucht. In manchen Nächten sah sie Toms Augen vor sich, dunkel und faszinierend, die dunklen Locken, wie sie seine Schulter umspielten. Aber meistens konnte ihr Gedächtnis dieses Gesicht nicht rekonstruieren. Sie konnte vor ihrem inneren Auge nur schemenhaft die mediterranen Züge erahnen und an diesen Tagen fühlte sie sich sehr einsam.
Als sie heute Morgen zum Flughafen fuhr, um die Kollegen zum internationalen Kongress abzuholen streifte ihre Blicke die ankommenden Passagiere. Sie wartete in der Halle des Ankunftsbereichs. Hier war es immer prickelnd
und sie spürte eine gewisse Anspannung. Menschen aus aller Herren Länder waren hier mit den kleinen und großen Dingen ihres Seins beschäftigt. Gepäck abholen, sich orientieren, geliebte Menschen umarmen, ankommen.
So stand sie da, versunken in den Geschichten der anderen, als sie in ein paar vertraute Augen schaute. Dunkel und faszinierend. Sie wusste, dass es unmöglich war. Die Augen vor erstaunen weit geöffnet, schaute sie in sein Gesicht. Es konnte nicht sein, er musste doch gealtert sein. Das Gesicht, das sie jetzt sah, war um keinen Tag reifer. Die Haare so schwarz wir vor 30 Jahren. Sie starrte ihn an. Dem jungen Mann waren ihre Blicke sichtlich unangenehm, er senkte sein Haupt und versuchte diesen zu entgehen. Wie in Hypnose schritt sie auf ihn zu und fragte: „Tom?“ „Nein, nein“ antwortete der junge Mann und ein Schwall von italienischen und deutschen Wörtern ergoss sich und sie verstand kein Wort. Als ihre Gefühle zur Ruhe kamen, hatte sie ein Zettel mit einer Handynummer in der Hand und stand alleine auf der kalten Halle.
Langsam nahm sie ihre Umwelt wieder war und registrierte, dass ihre Kollegen angekommen waren.
Am Abend saß sie vor ihrem Telefon und tippte diese Nummer. Sie hörte das Freizeichen.
„Pronto“ hörte sie am anderen Ende der Leitung. Sie konnte kein Wort sagen, ihre Zunge war schwer und ihr Hals war trocken. „Hallo?“ hörte sie erneut.
Das einzige was sie in diesem Augenblick sagen konnte war: „Tom?“
Es wurde still am anderen Ende der Leitung und sie hörte nur das ungleichmäßige Atmen eines alten Mannes.
Es raschelte, sie hörte schlürfende Schritte und eine greise Männerstimme die „Thomaso!“rief.
Es raschelte wieder und sie hörte erneut „Pronto“.
Sie fragte wieder „Tom?“
„Ja!“
„Ich bin’s, Betty“.
10 Minuten später schaute sie ungläubig in dunkle, faszinierende, von lustigen Fältchen umspielte Augen. Die dunklen Locken waren mittlerweile grau und seine mediterranen Gesichtszüge, markant und sehr männlich.
Und da war es wieder…
Das brennende Prickeln auf ihrer Haut, Jumbos die in Ihrem Magen Loopings flogen und sie wusste, sie war endlich zu Hause angekommen.