Sex oder Liebe?
„Sex interessiert mich nicht mehr wirklich“, sagte sie und bließ dabei den Rauch in kleinen Stößen aus.Sie lächelte. Wie abwesend. Keineswegs in meine Richtung. Eher ihrem Satz hinterher. Hinreißend.
„Verstehen Sie mich richtig: ich mag Sex. Sex ist etwas Schönes, er lässt die Hormone sausen, schützt vor Krankheit und Alter, lässt mich lachen, noch Tage danach – er tut mir gut. Aber ich kenne ihn. Zu gut.
Schenken Sie mir einen Jüngling, fantastisch gebaut, endlos potent... oder zwei...oder drei...einen für jede Körperöffnung... von mir aus noch ein paar Frauen dazu. Betten Sie mich auf Rosen, schaukeln Sie mich in einem Boot, schieben Sie mich durch kalten Schnee... Nehmen Sie mich in Autos, auf Wiesen, im Kino oder Hauseingängen...Kleiden Sie mich in Lack, in Leder , schälen Sie mich aus Seide oder einem nassen Baumwollhemd... fesseln Sie mich ans Bett oder verknoten mich mit Seilen... benutzen Sie Dildos, Peitschen, Vibratoren... was kann ich bekommen?
Einen Orgasmus. Einen wunderbaren Orgasmus womöglich. Vielleicht einen multiplen, vielleicht ein „Dauer-Orgasmus-Hoch“, das Minuten anhält. Alles, was ich kriegen kann, ist dieses eine Gefühl, diese Kontraktion, dieses Zucken und Beben ... und dann Entspannung... Müdigkeit... und vorbei.“
Sie nippte an ihrem Tee. Und sah mich an.
Ich hoffte, dass ich nicht errötete. Dass sie nicht sah, dass ich verlegen war. In schneller Bildfolge waren ihre Worte vor meinem geistigen Auge in erregender Deutlichkeit erschienen, Kopfkino der schönsten Art, und ich hatte einen Ständer. Wenn eine solche Frau solche Sätze sagt, kann Mann nicht anders. Ich konnte nicht anders. Das Wort „Orgasmus“ aus diesen Lippen jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken.
Ich nahm ihr das ab, was sie postulierte. Denn sie sagte es ruhig, mit einem Lächeln, so wissend, mit einem Hauch von Genuss, ein wenig spöttisch und irgendwie versöhnt.
Ich schob die drei noch eingepackten Kekse zu einer neuen Formation auf dem Tisch. Was sollte ich dem entgegnen? Dass sie mit mir noch einmal eine völlig neue Dimension Sex erleben würde? Ich bildete mir schon ein, ein ganz passabler Liebhaber zu sein, und diese Frau würde mich ja vielleicht sogar zu ungeahnter Hochform auflaufen lassen – aber ihrer Abgeklärtheit hatte ich nichts entgegenzusetzen. Was meiner Erektion keinen Abbruch tat. Ich rutschte auf dem gepolsterten Stuhl in eine andere Position.
Sie erlöste mich aus meiner Verlegenheit und sprach weiter.
„Liebe interessiert mich. Denn Liebe ist ein Wunder.“
Sie machte eine kleine Pause und lächelte wieder.
„Sex ist kein Wunder – sondern eine ziemlich berechenbare Konsequenz aus ein paar ineinander greifenden Faktoren. Wenn wir jetzt zum Beispiel nach zwei Gläsern Wein hier säßen, ich einen weiteren Knopf meiner Bluse öffnen würde, Sie auf eine bestimmte Art und Weise anlächeln würde – entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das jetzt mal einfach so unterstelle – Sie würden wahrscheinlich an möglichen Sex mit mir denken, und käme ich Ihnen ein wenig näher, beugte ich mich über den Tisch und sie sähen den Ansatz meines Busens – bekämen Sie wahrscheinlich eine Erektion. Ich wiederum würde ihre Erregung spüren, in Kombination mit dem Alkohol würde auch mein Blut schneller fließen und... na, den Rest des Abends können Sie sich sicher denken.“
Sie machte eine kleine Handbewegung und wischte damit mein Bild ihres zu mir gelehnten Busens vom Tisch. Ich hätte beinahe meine Hand ausgestreckt, um das Bild vorm Zerbrechen zu bewahren wie ein fallendes Glas. Aber zu spät. Das Thema hatte sie erledigt. Abgehakt. Dabei hatte ich mir die Situation wunderbar denken können und erst recht den Rest eines solchen Abends. Und hätte mir nichts Schöneres gewünscht. Ein Teil von mir war schon bereit, quasi schon in Stellung, und blieb es beharrlich.
Ich versuchte ein überlegen süffissantes Lächeln und räusperte mich.
„Liebe? Ein weiter Begriff, oder?“
„Oh ja“, sie nickte energisch.
„Haben Sie schon mal geliebt, so wirklich, mit Haut und Haar?“
Wollte sie jetzt Liebe von mir? Wo ich einfach nur scharf auf sie war. Ich wollte nicht mehr reden, nicht mehr denken müssen, und bestimmt keine Beziehung. Davon hatte ich nun wirklich die Nase gestrichen voll.
Sie zog ihre Bluse nach unten, die sich dabei wunderbar über ihren Brüsten spannte.
„Eine feste Beziehung im landläufigen Sinne meine ich dabei nur am Rande. Ich meine Liebe ganz allgemein. Die große strömende Liebe, die über die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zum Kind oder Eltern, ja über alle Lebewesen hinaus, die Welt und das ganze Sein umfasst. Darüber weiß ich noch viel zu wenig.“
Sie lächelte nicht mehr, sie strahlte förmlich. Ich starrte hingerissen in dieses leuchtende Gesicht. Was wollte mir diese Frau sagen? Außer dem, was mir dieses lebendige Gesicht und der wahrscheinlich herrliche Körper signalisierte. Eine gewisse Art von Liebe interessierte mich doch auch, jetzt und hier, ich wäre sofort bereit.
„Dabei fühle ich“ fuhr sie fort, „dass diese Liebe ja schon lange da ist, mich umgibt wie eine Hülle, mich trägt und beschützt. Aber ich habe nicht auf sie geachtet. Ich habe so oft gedacht, dass etwas fehlte, dass es nicht genug an Liebe für mich gäbe und immer mehr gefordert, und oft das Falsche. Und wenn ich sie einmal spürte, diese wundervolle Liebe, dann wusste ich sie nicht zu schätzen. Dann passte mir bald irgendetwas nicht.“
Sie zog die Stirn in Falten, als ärgerte sie sich über einen Gedanken. Doch dann strahlte sie wieder, als habe sie eine Eingebung.
„Ich habe noch lange nicht genug geliebt!“ teilte sie mir geradezu erfreut mit, und schon hofffte ich, ich könnte ihr bei der Behebung dieses Defizits behilflich sein.
„Die Liebe war immer außen, kam in guten Momenten in mich hinein, aber jetzt, jetzt will ich sie in mir finden und nach außen strömen lassen. Ich will alles lieben – und selbst wenn es nur in der Form von Akzeptanz ist. So viel Liebe muss man jedem Menschen und jedem Ding zugestehen, finden Sie nicht auch?“
Ich nickte. Dieser Frau konnte ich nichts entgegen halten – nichts Vernünftiges jedenfalls. Ich hätte ihr gerne noch etwas gesagt, aber ein Kompliment schien nicht mehr angebracht. Sie erhob sich, strich sich ihren engen Rock glatt und lächelte mich noch einmal an.
„Es war nett mit Ihnen zu plaudern. Dann gehe ich jetzt mal wieder auf meinen Posten. Ihnen noch einen schönen Tag!“
Und damit stöckelte sie zur Tür des Personal-Bistros. Ich ließ die Kekse in meine Jackettasche gleiten und tippte meinen Pressebericht fertig.