Sollbruchstellen
Ein verlängertes Wochenende steht an- und so liefere ich für diejenigen, die sich (für Ästheten zweifellos naheliegender) spätestens Sonntag an "Den schönsten Brüsten" oder den größten ... (na- lassen wir das) satt gesehen haben, einen weiteren Schreibversuch. Gerne auch zum kritischen Reflektieren, Zerlegen und Räsonieren über den Sinn und Unsinn meines Geschmieres...Dann mal Feuer frei...
1. Abteilung: Bruchteilsgemeinschaft(en)
Eintauchen in Geschichtlichkeit. Schon seltsam, wie schlafwandlerisch ich die Schlaglöcher auf dem Verbindungsweg von der Dorfkneipe zum Gutshof mit meinem TT-RS umkurve. War es doch knapp zwanzig Jahre her, als ich mich das letzte Mal in dieses Kaff und schließlich in diesen Feldweg verirrte. An für sich wollte ich mich schon länger von meinem Spielzeug trennen. Aber der Allradantrieb leistet gute Dienste, wo ich doch in den letzten Monaten aufgrund des grassierenden Höfesterbens und der gleichzeitigen Krise in der Baubranche mindestens einmal in der Woche durch schlaglochdurchzogene Feld- und Bauwege fahren, schlimmstenfalls sogar durch knöcheltiefen Dreck stiefeln musste.
Als Insolvenzverwerter steht man sich heutzutage gut. Und wenn ich in meinem Metier etwas gelernt habe, dann eins: Alles, wirklich alles findet einen Käufer. Meistens zwei, die sich dann gegenseitig überbieten. Wenn man es gut anstellt.
Brücken brechen zuerst an den Fugen. Auch wenn die Zeit keine Sollbruchstellen kennt, so gliedert sich das Wesentliche am Gewesenen in den Bruchteilen, die sich scheinbar willkürlich trennen und wieder zusammenfügen. Bei aller Professionalität, die man offenbar an mir schätzt und zuweilen fürstlich honoriert, zuckte ich dann doch beim Anruf des Insolvenzverwalters zusammen, als er mir Grund und Adresse meines neuesten Auftrages nannte: Verwertung einer Domäne ohne Fortführungsperspektive mit umfassendem Nutztierbestand in der Gegend meiner Kindheit. Ein Heimspiel sozusagen. Was ich beschloss, dem Auftraggeber vorerst zu verschweigen.
Heimatabend - wenn auch mit einiger Zündverzögerung. Flüsterte mir doch mein Instinkt zu, dass neben langen Vollkadenzen auch mit schrägen Klängen zu rechnen war. Das Zeitfenster war knapp, hatte doch das Insolvenzgericht auf Drängen der kreisansässigen Bank umfassende Sicherheitsanordnungen erlassen. Am Vorabend noch waren im Büro Überstunden angesagt, nachdem mir bei Auswertung des via Email übersandten Prüfauftrages dämmerte, dass allein die Inventarisierung der Insolvenzmasse gut und gerne einen ganzen Arbeitstag umfassen dürfte.
Ein früher Aufbruch dann am Morgen. Dieser belohnt durch freie Straßen außerhalb der üblichen Erntesaison. Das Gekurve über tief vertraute Kreisstraßen mischt sich mit diesem miesen Empfinden verlorener Absichten und Bedeutungen und verliert sich in der Beugung des wolkenverhangenen Himmelszeltes in einer unwirklichen Aura des Befremdlichen.
Ich bin gut in der Zeit und so ist gegen Mittag noch genügend Zeit für einen Abstecher in die Dorfkneipe. Auch wenn ich weder Durst geschweige denn Appetit auf die fetttriefenden Schnitzel aus der heruntergekommenen Küche verspüre. Aber wie hieß es hier so schön: "Gohst jeden Tag inne Kneip, brüggst kiehn Radio".
Also: Herumhören und auf die richtige Relation von offenem Ohr und gezügelter Kehle achten.
Die Besucherfrequenz im Dorfkrug scheint seit Menschengedenken übersichtlich zu sein. So wie ich dann bereits kurz nach dem Betreten der Gaststube von dem Wirt und zwei Alten an der Theke gemustert werde, mutiere ich ungewollt zur Attraktion des Tages. Die Gesichter der Drei waren aufgeraut und narbig vom stetigen Nordwest, der ganzjährig über den Sommerdeich blies und Bäume und Hecken immer in dieselbe Richtung beugte. Eine Beugung, die sich in der geduckten Körperhaltung der Alten widerspiegelte und seit Generationen die Jungen stets in das Landesinnere zu treiben schien.
Der Thekenwirt Hellmut stützt sich wie seit Jahrzehnten auf die Zapfanlage und poltert mir entgegen:
„Ach - kiek mol an. Wo kümmst jieh denn mittenmaal her?“
Ich drehe mich nur kurz auf dem Absatz um und brumme ihn entgegen:
„Na, süsst doch - von buten!“
Dem mittlerweile gut 80 Jahre alten Wirt sagte man bereits seit Jahrzehnten nach, dass er dem Teufel für eine Flasche Doppelkorn täglich seine Seele verkaufte und deshalb unsterblich sei. Hellmut fletscht die Zähne zu einem flächigen Grinsen und nickt mir zu.
„Na, Jung. Dann sett dih man hin. Gifft Kaffee konkret.“
Auf mein Nicken hin schüttet er ein abgestandenes, schwarzes Gebräu aus einer beschlagenen Kanne halbhoch in einen Kaffeebecher. Die fehlende Hälfte zum Becherrand wird wie üblich aufgefrischt durch den obligaten Hullmannschen. Doppelkorn- Geschmacksverstärker und Desinfektion in einem.
„Nu, Jung. Wat drieft dih denn in düsse Gegend? Hässt dih verfohren?“
„Nee, verforhen künn ick mih ock woanners. So wie man mih vertehlt hett, gifft hier jo tur Tied ´ne Menge Land to köpen, oder?“
Ein Wirkungstreffer, so wie ich in die betretenen Mienen der Anderen Mutlosigkeit und unterdrückte Verzweiflung herauslese. Ausdruckslose Gesichter, in denen sich die Schwere des Kleibodens abzeichnete, der den Weiden und Wiesen reiche Ernte bescherte und doch die Stiefel so tief im Boden versinken ließ, dass ein Fortkommen, ja selbst ein Entkommen nahezu unmöglich erschien.
Mein Stuhlnachbar räuspert sich und setzt an, bevor der listige Kneipenwirt ihm einen Maulkorb verpassen kann.
„Wat förn Schiet. Hier goht so temlich allens övern Kopp. Sogar de Gutshof kümmt unnern Hammer…“
Mit einem gekünstelten Erstaunen setze ich nach:
„Wie jetzt: Dat Anwesen von de schattrieke* Lü?“
„Ach. De junge Godsherr hett nix dögen. Nix als fieren, söpen und achter de Deerns hinnerher. Runner gewirtschaftet hedder den Hof. Un als de Mölkpries in Keller gung, da hett de Bank dann de Kredite gekündigt. Upknöhpt hett he sich dann un sihn Frau mit de ganze Schiet in Stich loten.“
Hellmut nickt und beugt sich zu mir vor.
„De Lüdde brögt Help oder ´nen Wunner. Jih kennt jo doch sieht de Kindheht. Schast mal vorbeikieken, was mehnst?“
Ich winke ab und stürze den letzten Schluck aus dem Kaffeebecher herunter:
„Ah wat - lang is her und allens vergeten und vergeben …“
Der Barhocker quietscht auf dem vergilbten Holzboden, als ich mich erhebe und mich mit einem kurzen Tippen des Fingers an der Stirn verabschiede.
In der Absicht steckt oft ein Zwiespalt zwischen Zweck und Bestimmung…
©Einar_VonPhylen 060920
Fußnote:
• schattrieke Lü: => steinreiche Leute (in diesem Kontext: Scheißreiche Leute)
2. Abteilung: Ochsen und Esel
Erinnerungen sind halt nichts anders als eine Zeitmaschine in Vergegenwärtigung.
Zügig lasse ich den Dorfkern oder das, was mal Dorf war, hinter mir. Ein Ort, wie so viele Dörfer, in denen man sich an das sichtbare Sterben gewöhnt hat. An der Landmaschinenwerkstatt wuchert der Efeu bereits mannshoch an Zaun und Mauerwerk. Die groben Dachlatten, die mehr als dürftig die Fensterfront des SB-Markts verdecken, hängen bereits teilweise an der verwitterten Hausfassade herunter. Zeugnisse eines hoffnungslosen Kampfes, der bereits vor Jahrzehnten gegen die Billigdiscounter und Baumärkte in der nahe gelegenen Kreisstadt verloren wurde. Ein schon gewohntes Bild, sich seit Jahren scheinbar ständig vor meinen Augen wiederholend. Blaupause für so viele Dörfer und Kleinstädte, durch die mich meine Geschäfte der letzten Jahre führen.
Der Verbindungsweg von der Dorfkneipe zum Gutshof nötigt den Stoßdämpfern meines Wagens einiges ab. So schlimm, wie das Aufsetzen des Wagenunterbodens es mir offenbart, kam mir der Feldweg meiner Erinnerung nach niemals vor. Wenn ich mich damals mit meinem Fahrrad auf dem Weg in die Kreisstadt an den äußersten Fahrbahnrand drückte, um das Sportcabrio von Michael, dem Gutsbesitzersohn, passieren zu lassen. Ich hatte bei Michael einen Stein im Brett, seitdem ich in diesem Freundschaftsspiel gegen die verfeindete Kreisstadtmannschaft seine ungewollte Rückgabe so gerade eben von der eigenen Torlinie kratzte. Und so zog er das Cabrio stets in Schrittgeschwindigkeit an mir vorbei. Immer begleitet mit einem kumpelhaften Wink. Gerade so langsam, um mir einen Blick auf die johlende Gesellschaft zu gestatten, die es sich bei lauter Musik aus den Wagenlautsprechern so richtig gut gehen ließ. Und Perdita mittendrin. Eine andere und für mich befremdliche Welt. Damals.
Hatte mich dann auch lange gefragt, was dieser umtriebige blonde Sonnenschein dann an mir so reizvoll fand. Und nie so richtig eine Antwort gefunden. Wieso auch? Als ich Perdita nach diesem einem Herbstabend auf dem heimischen Heuboden dann so beiläufig fragte, lächelte sie mich nur an.
„Du bist anders als alle anderen, die hier wohl den Rest ihres Lebens vergammeln werden. In deinen Augen ist dieser Hunger nach Weite. Du machst eben dein Ding.“
Ein seltsamer Herbst seinerzeit. Es war wohl dieser bereits feste Entschluss des Aufbruchs in meinen Augen, der Perdita seinerzeit gleichzeitig faszinierte und mir offenbar etwas Exotisches verlieh. Und mir doch nach einigen gemeinsamen Wochen auf dem Heuboden die wohl notwendige Distanz zum Absprung in die nächstgrößere Welt verschaffte…
Perdita stockt beim Überqueren des Hofs, als sie mich aus meinem TT steigen sieht. Nach einem kurzen Verharren am Torbogen geht sie ein paar Schritte auf den Neuankömmling zu und stoppt dann abrupt ab, als sie meine Gesichtszüge erkennt. Rätselnd wechselt ihr fast hilfloser Blick zwischen meinem Sportwagen und mir hin- und her. Je näher ich mich auf sie zubewege, desto deutlicher zeichnet sich das Bild vorzeitigen Alterns bei ihr ab. Stumpf und starr wirkt ihr Blick, der sich mir aus rotgeränderten Augen entgegenstreckt. Durchsetzt von einem leichten Anflug von Zorn und gleichzeitig auch von dieser Klarheit, die ich noch von damals kannte. Und doch verrät dieser mystische Ausdruck in ihren rehbraunen Augen, dass da irgendwo noch immer dieses Wildpferd in ihr siedelt.
Sie verharrt am Gatter der Pferdekoppel, auf der neben einem betagten Puliesel zwei Hannoveraner Hengste und zwei Haflinger grasen.
Die Biegsamkeit des Schreckens schien weder für sie noch für mich eine Option. Nach einem kurzen Moment des Zauderns erstarkt in Perditas Wesen wieder diese abgeklärte, ja nüchterne Zugänglichkeit, die sie bereits damals von allen anderen abhob und mich vergessen ließ, dass wir beiden von vollkommen gegensätzlichen Planeten zu stammen schienen.
Perdita findet recht schnell ihre Fassung wieder. War ihr doch bereits seit einer Woche durch mein Büro die heutige Bestandsaufnahme mit dem Insolvenzverwalter bekannt gegeben. Und ihr war letztlich klar, dass ich einen bestimmten Ruf genoss und allemal nicht zu reinen Höflichkeitsbesuchen aufgelegt sein konnte. Zumal mir meine Eltern bereits vor deren Tod nicht vorenthielten, welch abenteuerliche Gerüchte über mich und meine dubiosen Geschäfte im Dorf kolportiert wurden.
Perdita schweigt, als ich meine Hand auf ihren Arm lege und sie mustere. Die Pferde streunen unruhig am anderen Ende der Koppel herum und lediglich der Esel strebt mit sichtlicher Neugier auf die beiden Zaungäste zu. Ich stutze, als meine Hände über das zerzauste Fell des alternden Esels streichen.
„Aber- das ist jetzt nicht…?“
Sie lacht auf und schüttelt den Kopf.
„Nein- das ist nicht unser El Burro* . Der ist schon vor 8 Jahren gestorben, hat allerdings seine Gene an diesen Gesellen weitergegeben. Gene, die dich wohl wiedererkennen, wie es scheint.“
Der Puliesel knabbert an meinem Anzug herunter und scheint zunehmend Gefallen an den albernen, regenbogenfarbenen Gummistiefeln zu finden, die ich am frühen Vormittag noch hastig aus einem Baumarkt an der Autobahn herausschleppte. Mit einem leichten Anflug von Bitternis lächelt Perdita mich an, als sich der Puliesel an meine ausgebreitete Hand drückt und auch die beiden Hannoveraner ihre anfängliche Scheu mir gegenüber aufzugeben scheinen.
„Immer noch dieser Pferdeflüsterer. Und jetzt auch noch Rosstäuscher.“
Sie schmunzelt und in ihren ansonsten so stumpfen Augen blitzt für einen Moment wieder dieses Wildpferd auf, dass mir vor gut 30 Jahren den Schlaf und in den gemeinsam durchfeierten Nächten den Verstand raubte.
Mein Blick schweift über den Vorplatz, durchmisst das Haupthaus und die Stallungen. Scheinbar unverändert breitet sich der Gutshof vor mir aus und es fällt mir für ein paar Augenblicke schwer, mich vom Abgleich vergangener Erfahrung zu lösen und auf meinen Auftrag zu konzentrieren. Ich atme kurz durch und blinzele Perdita schmallippig zu.
„Du wüsst, weswegen ik daar bün?“
Sie nickt kurz und wir nehmen zunächst schweigend die Koppel sowie die vom Gutshaus abzweigenden Wirtschaftsgebäude in Augenschein. Die räumliche Vertrautheit bringt es mit sich, dass die Bestandsaufnahme nahezu schweigend abläuft und lediglich durch kurze Kommentare und Fragen durchsetzt ist. Der Rundgang wird regelmäßig nur dann unterbrochen, wenn ich abwechselnd meine Kleinbildkamera oder das Lasermessgerät ausrichte und die Mess- und Zählergebnisse auf meinem Laptop eingebe.
Ein leichtes Zögern, als wir dann durch das Scheunentor treten. Sie hatte Michael am frühen Morgen in der Scheune entdeckt und Feuerwehr, den Hausarzt und die Polizei informiert. So wie mir zugetragen wurde, alles mit einer scheinbar gespenstischen Souveränität und Abgeklärtheit. Schon lang bevor die Hausbank sämtliche Kreditlinien zusammen strich, schien in der Ehe der beiden sämtlicher Kredit verspielt. Der Hofherr vermochte sich dem allen dann nicht mehr zu stellen und so musste dann die örtliche Feuerwehr mit der Drehleiter ´ran, um ihn mitsamt des Stricks von der Firstfette des Scheunendachstuhls zu lösen. Hässlich wars, wie dann der leblose Körper die gut acht Meter ungebremst der Erdmitte entgegensauste. Ihre Beine gaben dann einfach nur nach. Und dann breitete sich Dunkelheit aus, welche sich die weiteren Wochen und Monate in ihr Gesicht grub…
Ich beschränke mich auf eine Besichtigung und Erfassung des lebenden und seelenlosen Inventars hinter den verwitterten Backsteinwänden des gut 300-jährigen Hofs. Ein kurzes Aufmerken nur, als ich im Maschinenhaus den alten Deutz-Fahr D40.1 entdecke, der seit Jahrzehnten nach einem Riss der Pleuelstange achtlos unter dem Trockenboden des Maschinenhauses vor sich hindämmert. Eine schon fast mystische Begegnung mit einem verschüttet geglaubten Alter Ego.
Nach drei Stunden endet der Rundgang wieder an der Koppel, wo uns die fünf Vierbeiner bereits mit neugierigen Blicken erwarten. Perdita stützt sich aufs Gatter auf und nagt an ihren Lippen.
„Gahn de Peer dann ock wech?“
In ihren Augen sammeln sich erste Tränen und ich muss mich beherrschen, sie nicht zu umarmen.
„Nee, glöv ik nich. In de Papere steiht doch, dass de Peer und de Esel noch tum Hof von diehn Ellern tohören.“
Sie nickt und scheint sich aus einer inneren Verwerfung zu lösen.
„Hest noch Tied förn Tee?“
©Einar_VonPhylen 030920
3. Abteilung: Prosekutor
Der Anspruch ist das Pflegekind des Zweifels.
Gold gaben wir für Eisen. Immer noch der alte, wuchtige Eichenholztisch, an dem wir in der Wohnküche Platz nehmen. Ich durchforste die bereit liegenden Ordner, während Perdita sich schweigend am Herd zu schaffen macht. Als der Tee dann dampfend vor mir steht, rückt sie mit ihrem schweren Holzstuhl eng an mich heran. Mein Blick fällt unweigerlich auf Perditas gespreizte Beine, welche den Stoff ihres wildgeblümten Sommerkleids dehnen. Die ausladenden floralen Motive des Kleides verlieren sich nahezu konturlos in der Blässe ihrer muskulösen Oberschenkel, die bei jeder Bewegung des Kleides zu beben scheinen.
Das wird jetzt zu billig, denke ich mir noch. Jetzt bloß nicht melancholisch werden und diese alberne Jugendliebeattitüde aufleben lassen. Krampfhaft versuche ich, mich auf die ausgebreiteten Flurkarten und Bestandslisten zu konzentrieren. Unerwartet streicht ihre Hand über meinen Arm und zwingt mich zu einem kreuzenden Augenblick.
„Erinnerst du dich, was wir uns geschworen haben, als du mich kurz vor deinem Aufbruch das vierte Mal gefickt hast? Ehrlich zu sein- egal wie schlimm die Wahrheit dann auch sein mag.“
Ich nicke ihr zu.
„Ich habe auch nicht vor, dir irgendwelchen Scheiß zu erzählen.“
„Dann is man god.“
Perdita scheint es nichts auszumachen, dass ich meine Augen für einen Moment nicht von ihr lösen kann. Und mich dabei erwische, meinen Blick für ein zu langes Moment unweigerlich auf ihre ausladenden Brüste zu werfen, um dort womöglich noch sich abzeichnende Konturen zu entdecken. Nichts, bis auf ihren offenen Blick, dieser aber frei von jeder Verurteilung oder Missbilligung. Das einzige, was fehlt, ist dieses verspielte Lächeln, welches sie mir immer an diesem einen Spätsommer zuwarf. Wenn mein Blick vielleicht etwas zu lange über ihren Körper wanderte. Dieses verschmitzte Lächeln, wenn sich dann beim Baden im nahe gelegenen Quellsee die Konturen des Piercings leicht unter ihrem Bikini abzeichneten.
Ihr Brustpiercing war damals unser Geheimnis. Aus einer für Perdita so unverwechselbaren Laune heraus geboren. Genauso spontan seinerzeit wie ihr Entschluss, mich zum Ohrlochstechen in der großen Stadt zu begleiten. Ein Industrial mit vier Kettenringen sollte es damals für meinen linken Lauscher sein. Für mehr war kein Platz mehr. Vehement winkte ich ab, als der Ladenbesitzer mir ein benefit für das fünfte Piece anpreiste und ich kopfschüttelnd auf meinen geschwollenen Lauscher zeigte. Kein Problem, meinte der Piercer - es gäbe ja noch andere Körperstellen. Und sein Blick wanderte zu Perdita, die mit geweiteten Augen bereits seit einer Viertelstunde die Schaubilder vor der Vitrine studierte ...
An diesem Sommer verzichtete sie deswegen als eine der Wenigen auf das Nacktbaden im See. Bis auf das eine Mal in dieser bereits herbstfrischen Septembernacht. Als wir im Schutz der Uferböschung kichernd in das eiskalte Wasser eintauchten. Noch berauscht vom vorherigen Gelage beim Feuerwehrball, von welchem wir uns bei erster Gelegenheit unauffällig davonstahlen. Die eiskalten Fluten ließen uns schlagartig ausnüchtern und ich spürte ihre erregten Brustwarzen immer dann, wenn sie sich jauchzend an mich drückte. Unser lautes Lachen, als ich versuchte, in den eisigen Fluten des Sees in sie einzudringen. Eng war sie, auch wenn ich bereits seinerzeit wusste, dass sie keine Jungfrau mehr war…
Der massive Holzdielentisch verkommt zusehends zum Rastplatz für verlorene Seelen.
Wir konzentrieren uns auf die Bilanzen und Bestandslisten für Vieh und Gerät. Und Perdita scheint es dankbar anzunehmen, dass ich ihr offenbar unverständliche Buchwerte und –Positionen näher auseinandersetze. Sie nimmt meinen besorgten Blick nicht so recht wahr und rückt mittlerweile so an mich heran, dass mir schlagartig dieser so vertraute Körperduft zu Kopf steigt. Und mir bewusst wird, dass sie offenbar nicht so unvorbereitet in diesen Tag gegangen war, wie es der erste Eindruck zu vermitteln schien.
In ihrem Gesichtsausdruck eine Regung zu erkennen scheint so wie Steine lesen. Die tiefe Begegnung unserer Augenpaare offenbart mir zunächst diesen Anflug von Fremdheit, der mich seit meiner Ankunft umströmt. Es ist das Fehlen der funkelnden Tauperlen in ihrer Iris, wie ich es aus unseren Jugendtagen kannte. Dieses Funkeln war immer ein Vorbote für dieses helle Lachen, welches dann urplötzlich aus ihr heraussprudelte.
Treiben, ja belauern in diesem Anflug von Fremdheit, welche da irgendwo immer im Hintergrund mitklang und dann seinerzeit auch unsere letzten gemeinsamen Abende prägte. Und auch irgendwie vergiftete. Das Toxische des Aufbruchs legte sich über das gemeinsame Moment wie eine dieser Tiefdruckrinnen, welche regelmäßig zum Herbst hin die Schleusen des Himmels weit öffneten und die Bewohner dieser Gegend hinter die schweigenden Türen ihrer Katen zwangen. Es fehlte bei Perdita auch immer dieser letzte Impuls zum Durchbruch. Ihr zögerlicher Blick und dieses so befremdliche Aufkeimen von Verlorenheit, als ich sie in dieser letzten Woche vor meinem Aufbruch überreden wollte, mit in den urbanen Moloch an der Alster aufzubrechen.
Beim Durchforsten der Liegenschaftskarten und Subventionsbescheide begegnen sich zwangsläufig unsere Hände. Ein Stocken erfasst anfänglich ihre grazilen, aber bereits von jahrelanger Arbeit gezeichneten Hände bei jeder unbedachten Berührung. Sie spürt meine Vertrautheit im Umgang mit Bilanzen, Veranlagungsbescheiden und Bodenrichtwertkarten, sodass sie sich zunehmend an mich lehnt und mit Detailfragen zudeckt.
Ein Knistern auf dem Kiesboden des Vorhofes lenkt unsere Blicke voneinander auf den Lotus Evora des Insolvenzverwalters, der vor dem halboffenen Küchenfenster sichtlich überfordert versucht, seinen PS-Boliden zwischen den Häckslern nahe an die Hauswand zu bugsieren. Beim Aussteigen kreist zunächst dieser vereinnahmende Blick, an denen ich mich bereits in unzähligen Verwertungsorgien sattgesehen hatte. Die Zufriedenheitsgeste des Insolvenzverwalters schlägt sekündlich in einen Anflug von Unmut um, als dieser sich allein auf dem Vorplatz wiederfindet. Ein kurzes Zwiegespräch durch das halboffene Küchenfenster, schon sprintet der Verwalter gleich einem Zirkuspferd mit einem ausgebeulten Pilotenkoffer in die Küche.
Gewohnt knapp fallen die Begrüßungsformeln aus. Nach einem kurzen Nicken und einem fast kumpelhaften Klaps auf meine Schulter deckt der Insolvenzverwalter Perdita mit dem obligaten knapp einstündigen Vortrag zu, den sich alle Betroffenen unweigerlich stellen müssen. Perdita wirkt unschlüssig und überfordert. Und so wechselt ihr ängstlicher Blick die ganze Zeit zwischen dem Insolvenzverwalter und mir hin- und her.
Kurz und bündig tausche ich mit dem Verwalter die Kerndaten aus. Seine Zweisprache mit mir verkommt ins duzen. Indiz dafür, dass er wohl einmal mehr zulange auf dem Golfplatz herumturnte und sichtlich schlecht auf den Termin vorbereitet ist. Also nutze ich die Chance und ziehe den Aktenstapel fordernd zu mir herüber, bevor sich die Finger des Verwalters daran zu schaffen machen.
„Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Auswertung. Reicht es, wenn ich dir die Unterlagen übermorgen ins Büro bringe?“
Mein kurzer Blick aus dem Küchenfenster überzeugt mich davon, dass sein Sportcoupé neben dem Golfbesteck im Fond allenfalls nur noch einen Leitzordner aufnehmen dürfte. Mein Instinkt sagt mir, dass es nicht von Nachteil ist, sich von den Unterlagen Kopien zu fertigen, bevor diese irgendwo in der Bilanzbuchhaltung des Verwalters versacken.
Der Verwalter grinst. „Geht schon klar! Wie sieht es mit lebenden Inventar aus?“
Sein bohrender Blick trifft Perdita sichtlich unvorbereitet, sodass sie automatisch und stockend ins Plattdeutsch verfällt.
„Nu. De Koi stoht bih de Genossenschaft, wiel de Bank de Mölkmaschine vorletzte Week ofholen hätt.“
Mein „Die Schnitzel stehen aber noch drüben im Maststall!“,
konstatiert der Verwalter mit einem aufblitzenden Lächeln. Ein typischer Zahlenmensch, der sich nur zu blendend in das Pulsieren dieser materialistischen Welt des Zerschlagens und Liquidierens von Werten und Lebensentwürfen zu Recht fand.
Sei´s ´drum. Ich hatte über meine nicht über jeden Zweifel erhabenen Kontakte im Nordbrabant einen holländischen Landwirt aufgetan, der sich beim Erwerb eines vormals volkseigenen Betriebes von der Treuhand kräftig verausgabt hatte und rechtzeitig einsah, dass die seinerzeit üppigen EU-Subventionen baldigst versiegen würden. Ich hatte ihm diese Idee mit den Biogasanlagen auf dem gut 25 Hektar großen Brachland schmackhaft gemacht, welches den größten Teil des südlichen Gutshofgeländes ausmachte. Das ich ihm dann das im Ergebnis eher halbherzige Angebot einer regionalen Bietergemeinschaft nicht verschwieg, steigerte sein Kaufinteresse im selben Umfange, wie es sich der Insolvenzverwalter für die Masseanreicherung – und sein recht unbescheidenes Salert - erträumte. Im Prinzip waren die Würfel für die Filettierung des Landgutes bereits gefallen, bevor ich den ersten Fußabdruck auf die großdimensionierte Hofeinfahrt setzte.
Der Insolvenzverwalter blickt nach einem kurzen Faktenaustausch nunmehr minütlich auf seine Armbanduhr und so bleiben nur gefühlte fünf Minuten, in denen wir beiden uns allein auf dem Hof über das weitere Vorgehen abstimmen. Business as usual.
„Kümmerst dich dann noch um die Rindviecher! Auch wenn die Fleischpreise derzeit im Keller sind: Sehe zu, dass wir die möglichst schnell an den Mann bekommen, okay?“
Auf mein Nicken hin gibt mir mein Auftraggeber einen kurzen Klaps auf die Schulter und springt in sein Sportcoupé. Der Insolvenzverwalter lässt den Motor unwirsch aufheulen. Strebend zu weiteren Goldtöpfchen, die an diesem Tag noch auf seiner Liste stehen. Zeit ist Geld und – so scheint es - am Geld hängt heutzutage die Zeit. Der Kavalierstart des Lotus wird an der Einmündung zur Kreisstraße jäh unterbrochen, als der Unterboden am Buckel der Hofeinfahrt hart aufsetzt. Ein hastiges Zurücksetzen nur, dann poltert der Evora mit quietschenden Reifen auf die Kreisstraße. Das Röhren des Mittelmotors verfängt sich noch für ein paar Augenblicke im Blattwerk der Alleebuchen. Danach breitet sich eine Stille aus, die kein Wort zu erdulden scheint.
Ein kurzer Seitenblick durch das halboffene Küchenfenster vergegenwärtigt mir, dass mich Perdita am Küchenfenster stehend mit einem durchdringenden Blick mustert. Schweigend. Denn die Zeit scheint offensichtlich noch nicht reif zu sein für Fragen, die zwar Landschaften formen, aber Räume noch nicht besiedeln wollen…
©Einar_VonPhylen 050920
4. Abteilung: Wechselnde Gezeiten
Viele Wege führen nach Rom. Und so fließen die Kilometer auf der zwischenzeitlich gut ausgebauten Umgehungsstraße zur Kreisstadt nur so dahin. Perdita schien nach diesem Nachmittag mit so viel Gesellschaft überfordert zu sein. Und mir schwante, dass sie sich in den letzten Monaten, wenn nicht sogar über Jahre, zusehends in sich selbst zurückgezogen hatte.
Meine Entscheidung, zum Zweck der Massesicherung die in der Kreisstadt untergestellten Milchkühe zügig zu erfassen, nahm sie mit einer widersprüchlichen Miene irgendwo zwischen aufkeimender Hilfslosigkeit und Erleichterung zu Kenntnis. Bereitwillig gab sie dann die Wiegenoten und Rinderpässe heraus.
Ich nutze die Fahrt in die Kreisstadt, um in meinem Auto die Mailbox abzuhören. Neben dem obligaten Statusbericht aus meinem Büro lausche ich der sichtlich unaufgeräumten Stimme meiner Ex mit der Bitte um Rückruf. Beinahe nüchtern lässt sie anfragen, ob ich an diesem Wochenende auf die Wahrnehmung des Umgangsrechts mit unserem gemeinsamen Sohn bestehen würde. Tändelnd zwischen der Annahme eines weiteren Winkelzuges meiner Ex und dem mir nicht verborgenen Streben meines Filius´ nach Unabhängigkeit entscheide ich mich, spontan zurückzurufen.
Unwirsch wirkt ihre Stimme zunächst, als ich ihr ein
„Hallo, was ist los?“,
ins Telefon raune. Sie hält sich nicht lange auf und lässt mich wissen, dass die Planungen des Juniors auf ein Wochenende mit irgendwelchen dubiosen Freunden ausgerichtet sind. Angereichert mit diesem typischen Unterton, dass es mich ja angesichts meines überschaubaren Engagements in der Erziehung ohnehin nichts angehe, das näher zu hinterfragen. Wohl auch zwecklos, da sich mein Gegenüber mittlerweile auch nicht so ganz klar über die Ambitionen und Lebenswirklichkeit unseres Ablegers im Klaren zu sein scheint. Ab einem gewissen Zeitpunkt lösen sich die Klammern des Vertraut Seins im Takt schweigenden Aufbegehrens des Nachwachsenden und lässt einen im Tal der Ahnungslosen verharren.
Ein fast müheloses Hineingleiten in dieses Medium der Entfremdung. Welches mich in den letzten Monaten mit derselben Wucht traf, wie sich das offenbar genauso in der Lebenswirklichkeit meiner Ex spiegelte. Für den obligaten Zoobesuch der vorigen Jahre war der Junge zu alt, genauso wie ich es für einen jugendbeseelten Besuch einer Shishabar war. Und so verliefen die letzten gemeinsamen Wochenenden zusehends nach demselben Strickmuster: Stundenlanges Anschweigen der Spielkonsole in der heimischen Juniorsuite wechselte mit stundengreifenden Handytelefonaten, während ich dann abwechselnd Mahlzeiten oder Kurzausflüge in den nächstbesten Outletpark vorbereitete. Um dann dieses Schweigen in meiner ungewollt frei gewordenen Zeit unweigerlich in meinem Homeoffice mit Arbeit zuzudecken. Die gemeinsame Kommunikation erfolgte dann zunehmend über Gutturallaute.
Es blieb dann regelmäßig nur das gemeinsame Bier auf dem Balkon, welches dann am letzten Abend – wie unter Männern wohl üblich - schweigend unter dem Sternenhimmel eingenommen wurde. Umso erstaunter war ich dann jedes Mal auf diesen eifersüchtigen Unterton in der Stimme meiner Ex, wenn sie mir auf Nachfrage die Begeisterung unseres Sohnes über die gemeinsamen Wochenenden steckte.
Das Telefonat mündet dann wie so üblich in die Diskussion über den dringend erforderlichen Unterhalt. Auch wenn ich nie einen Zweifel daran ließ, dass sie als Ausgleich für die Einschränkungen ihrer Lebensgestaltung pünktlich mit dem Unterhaltsvorschuss rechnen konnte, bildete der Kindesunterhalt wohl die einzig mögliche Ebene sachlicher Kommunikation. Diesmal überrascht mich meine Ex mit der Tatsache einer anstehenden Klassenfahrt und einem nicht unbeträchtlichen Eigenanteil der Eltern für diese Unternehmung. Auch wenn ich ihr stressbefreit die Überweisung mit der nächsten Unterhaltszahlung ankündigte: Es bleibt dieses bittere Gefühl, dass mir der Junge in den letzten Wochen nichts, aber auch gar nichts über die anstehenden Klassenfahrt erzählte. Ich finde mich zusehends damit ab. War mir doch klar, dass ich im selben Alter seinerzeit bereits genug mit mir zu tun hatte, um mich „zu definieren“.
Ehe ich mich versehe, endet das Telefonat abrupt. Ohne Abschiedsgruß, wie es seit Monaten zur ständigen Übung verkam. Aus dem Autoradio verliest ein Moderator unzählige Baustellen und Wartezeiten auf der einmal wieder überfüllte A 1. Missmutig vergegenwärtige ich mir diese gut zwei Stunden im Stau am Buchholzer Dreieck vor zwei Wochen. Zurückgeworfen auf diese neuen Realitäten konfrontiere ich mich damit, dass es offenbar keinen Anlass gibt, am Abend die mehr als 200 Kilometer zurück in die Stadt zu fahren. Was sollte es schon bringen, die nächsten Tage und das Wochenende allein auf die flüsternden Wände meiner Stadtwohnung zu starren.
Anschließend Statusabgleich mit dem Büro. Amelie hielt wie gewohnt die Stellung und hatte ein bemerkenswertes Gespür für meine Stimmungslagen und Ambitionen. Nein- es war nichts Außergewöhnliches vorgefallen, was in den nächsten beiden Tagen unbedingt meine Anwesenheit an der Alster erfordern würde. Amelie war ein Glücksgriff und blühte auf, als ich sie nach den ersten beiden nicht ganz einfachen Jahren zeitgleich mit dem Umzug in unser Bergedorfer Büro zur Bürovorsteherin ernannte.
Sie würde mir das Wesentliche ohnehin per Email posten und sich melden, sobald sie für die kommende Nacht eine passende Unterkunft in der Gegend für mich gebucht haben würde. Gutes Mädchen.
Die Sprachverbindung bricht just in dem Moment ab, als mein Wagen das Ortsschild der Kreisstadt hinter sich lässt. Nahezu prophetisch öffnet der Himmel seine Schleusen und vergießt Tränen über eine Stadt, die in ihrer Randlage schier ausweglos zwischen den Unbillen des Meeres und der gleichmütigen Weite des kargen Hinterlandes gefangen verharrt.
Über die Jahre scheint sich kaum etwas geändert zu haben. Unweit der Altstadt ist es nur ein Katzensprung zum Kutterhafen, auf dessen Kaimauer ich bereits als Kind Wünsche und Hoffnungen in die Weite schickte und mir dafür mehr als einmal eine nasse Dusche einhandelte. Unbequeme Vorbereitung auf das, was mich zukünftig erwarten würde. Wenn auch über die Jahre mit einer weitaus schlechteren Aussicht, als mir die grenzenlose Weite der deutschen Bucht verhieß.
Wasser, welches hier in der Gegend fließt, versteht sich immer irgendwie als Aufforderung zu verharren. Ausharren, ja erdulden der Launen der teilweise minütlich wechselnden Witterungsumschwünge, je nachdem, wie der Mond aufgelegt ist und die Tide steht. Mal ganz zu schweigen von den Springfluten, die der Neumond und die Macht des Zufalls in das Dasein allen Lebendigen spülen…
©Einar_VonPhylen 090920
Fußnote:
• El Burro: Ein spezieller Bettvorwärmer, der im mediterranen Spachraum (ugs. Den geduldigen Esel) als Wärmespender für manchen kalten Fuß dient.
5. Abteilung: Milchwolken
Ein Kutterhafen, auf dessen Kaimauer ich mich wiederfinde. Alles schien noch beinahe so, wie es vor gut vierzig Jahren war. Nur, dass sich die damaligen Projektionen nunmehr zu Introjektionen gebärdeten.
Meine Aufwartung bei der Genossenschaft lief erfreulicherweise komplikationsloser ab, als ich es annahm. Wusste ich doch, dass der geschäftsführende Vorstand durch beide Ohren gebrannt war. Und ich auf der Hut sein musste, dass dieser nicht diesen oder jenen Hektoliter Milch, welche die Milchkühe vom Gutshof seit einer Woche durch die Milchpumpen jagten, abzweigte und nicht durch die Bücher gehen ließ. Der junge Ehlers war halt eben genauso ein Halunke wie sein Vater. Und so hielt ich mich nicht lange mit Diskussionen auf, pfefferte den gerichtlichen Eröffnungsbeschluss und meine Vollmacht auf seinen Schreibtisch und brüllte den Ehlers die nächsten fünf Minuten zusammen. Der Auftritt hinterließ dann die gewünschte Wirkung und so fand ich mich bereits nach einer Dreiviertelstunde mit einem undefinierbaren Fischbrötchen und einer Bierdose just an der Stelle der Kaimauer wieder, welche offenbar seit meiner Kindheit für mich reserviert schien.
Der auffrischende Nordwest drückt sattweiße Quellwolken von der deutschen Bucht über die Küste. Der stetige Wind scheint die einzige Macht zu bilden, welche die monströsen Wolkenformationen daran hindert, auf die Erde zu stürzen. Ein Schauspiel wie seinerzeit, als ich an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend genau dort mit meinem Vater auf die See blickte.
Jähzornig war der Vater und ein Raufbold. Als Viehhändler genießt man ohnehin nicht den besten Ruf und so scherte sich keiner so recht darum, als Vadder seinerzeit den alten Ehlers aus dem Nachbarort quer durch den Schützensaal zog. Nachdem dieser ihn versuchte, mit an Klauenrehe* erkrankten Färsen* über den Tisch zu ziehen. Und handgreiflich dafür sorgte, dass der Ehlers ein neues Gebiss bekam und der Freibankschlachter wegen der Färsen eine Nachtschicht einlegen musste.
Nur ein Vorfall von vielen, ohne dass Vadder ein Lokalverbot ernsthaft befürchten musste. Dazu war er im Dorfkrug ein häufig auzutreffender und zu guter Gast. Wenn dann die Viehauktionen in der Kreisstadt durch waren, traf man Vadder bereits schon in den frühen Nachmittagsstunden in der Dorfkneipe an. Man ließ ihn, wenn es denn irgendwie ging, an diesem einen Ecktisch direkt neben dem Tresen besser dann in Ruhe. Düster brütend und im Laufe des Abends immer lautstärker Unmengen von Korn ordernd. Bis dann auch Hellmut, der Wirt, zuviel bekam und zuhause anrief.
Ich zuckte jedesmal zusammen, wenn dann am späten Abend das Telefon schellte. Es dauerte dann auch noch weit in meine Studienzeit in der großen Stadt hinein, dass sich dieses schon fast mechanische Aufzucken bei abendlichen Anrufen legte. Beim Abheben des wuchtigen Telefonhörers ertönte dann immer Hellmuts Stimme an der anderen Seite, diese durchsetzt von den üblichen Hintergrundgeräuschen gut gehender Gastronomie.
„Moin Jung. Schast mal dien Vadder abholen. De hätt wohl vör hüüt genog.“
Wenn ich anschießend den schweren Bakelithörer auf die Gabel legte, stand Mutter immer unschlüssig im Durchgang zur Küche, aus dem noch der Duft des mittlerweile erkaltetenen Abendessens durch den Flur zu mir zog. Ich nickte ihr dann immer zu, wenn ich im Vorübergehen meine Jacke von der Flurgarderobe streifte.
„Ick goh dann mal los.“ Immer begleitet vom ängstlichen Blick der Mutter…
Vadder hockte dann meistens bereits an der verklinkerten Außenwand des Dorfkrugs und schien erst kurz vor der Eingangspforte unserer Kate zu realisieren, dass wir auf dem Heimweg waren. So voll, wie er war, dauerte es teilweise über eine Stunde, bis sich die schwere Holztür zum Hausflur auftat.
Dem ersten Fausthieb im Hausflur konnte ich in der Regel immer ausweichen. Und bevor mich die größflächigen Fäuste im zweiten Schwung treffen konnten, öffneten sich die mir entgegenstreckenden Handflächen mit diesem sich gleichzeitig verflachenden Blick aus fassungslosen Augen. Die Wucht der Schwinger schleuderte mich regelmäßig auf den kalten Fliesenboden, bevor sich meine Mutter schützend über mich beugen konnte und Vadder innehielt. Sie hatte diesen magischen Blick, der das gelblodernde Feuer in Vadders Augen löschen konnte…
Immerhin- Ausweichen hatte ich früher gelernt als so manch anderer. Vielleicht das Größte, was er mir vererben konnte, als ihn dann Leber und Nieren im Stich ließen.
Irgendwann nach der soundsovielten Entziehungskur meines Vaters saßen wir dann just an dieser einen Stelle auf der Kaimauer und warteten auf das Schichtende meiner Mutter. Sie verdiente als Bilbliothekarin der Stadtbibliothek gerade so viel, dass wir dann auch außerhalb der Schlachtzeit irgendwie über die Runden kamen.
Schwelgend uns an der Geduld des Mondes labend starrten wir schweigend auf die Wolkenformationen, die der Wind ins Landesinnere trieb. Vadder räusperte sich und wies mit der Hand auf das Meer.
„Weißt du eigentlich, woher die Milch kommt?“
Ich stutzte zunächst und antworte mit dem, was uns damals schon in der Grundschule vermittelt wurde. Vadder schüttelte den Kopf und lächelte mich auf eine seltsame Art an.
„Ach - klammere dich nie an die vermeintlich offensichtlichen Wahrheiten. Schau auf das satte Weiß der Wolken und erkenne, dass alles das, was uns ernährt, nicht aus unseren Händen und erst recht nicht von diesem verfluchten Stück Erde herkommt. Wir müssen dem Atem des Lebens entgegen sehnen, der aus der Weite kommt. Und dazu schickt uns das Meer die Milchwolken. Um uns daran zu erinnern, dass das Abenteuer des wahren Lebens irgendwo da draußen ist.“
Leicht erheitert nahm er meinen zunächst befremdlichen Blick wahr und ich entgegnete:
„Kommt das alles nicht irgendwie von einem höheren Wesen?“
Vaddern lachte laut auf. „Ach Jung- de hätt wohl jümmers watt besseres to don. Nix vör düsse Gegend hier.“
„Gifft et överhopt so ein höheres Wesen und wenn ja, wo is de Kerl dann, wenn du dich vergeten dohst ?“
Nur für einen Augenblick breitete sich ein Erstaunen über das Gesicht meines Vaters aus, der dann einmal tief durchatmete.
„Junge - schau mich doch mal an: Ich kann dir nur Richtung geben - die Antworten und Bedeutungen, die da draußen auf dich warten, kannst du nur selber ergründen.“
Und im selben Moment breitete sich in seinen Augen eine Wärme aus, die mir irgendwie zu erklären schien, weswegen meine Mutter so an ihm hing.
Sollbruchstellen. Irgendetwas schien seinerzeit bei Vaddern zerbrochen zu sein. Und selbst wenn ich als knapp Zwölfjähriger vielleicht nur die Hälfte von dem verstand, was er damit sagen wollte, so spürte ich dieses gerissene Band in ihm vom ersten Moment an. Und nahm es als selbstverständlich, dass mich ab diesem Tag keine Faust und kein hartes Wort mehr erreichte.
Irgendwie konnte ich ihm dann auch nicht übel nehmen, dass er bei meiner Abreise in die weite Welt zuhause blieb. Schweigend in seinem Stoffsessel vor dem Fenster. Wie in den letzten Jahren immer mit einem starren Blick aus dem deichzugewandten Fenster des Wintergartens.
Als mich meine Mutter dann bei meiner Abreise am Bahnhof umarmte, drückte sie mir mit einem Augenzwinkern eine abgegriffene Ausgabe von Grimms Märchen in die Hand. Ein Briefumschlag steckte mittig in Buch. Just an der Stelle, wo das Märchen „Von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen“ begann. In diesem Umschlag steckten willkürlich durcheinander gewürfelte Geldscheine. Diese zusammengehalten von einer rostigen Büroklammer, welche das jahrelange Sammeln der Scheine offenbarte.
Erst während des ersten Semesters, als es dann zum ersten Mal mit der Miete knapp wurde, öffnete ich Buch und Umschlag und erblickte an der Überschrift die krakelige Handschrift von Vaddern, welche mit zittriger Schriftführung etwas zwischen die letzten beiden Worte der Überschrift presste. So dass ich las: „Von einem, der auszog, um das Fürchten zu VERlernen“…
Immerhin. Vadder verbreitete bei mir niemals den Eindruck, ihm etwas schuldig zu sein. Was mich in späteren Jahren immer wieder beschäftigte. Und die ständige Frage aufwarf, wann man erspüren sollte, jemandem eine Schuld einzulösen, die niemals eingefordert wurde.
Einhergehend mit diesem Gedanken lässt mich eine Windböe aufschrecken. Und das düstere Grau an den Kanten der hochschwangeren Kumuluswolken kündigt einen Witterungsumschwung an.
Im Prasseln der ersten Regentropfen vergegenwärtige ich mir im Auto, dass es unter allem Seienden allemal kein Zeitmaß gibt, Schulden einzulösen. Gleich ob nun angemahnt oder niemals eingefordert.
Mich beunruhigt die Vorstellung, Perdita erneut allein und schweigend am Scheunentor stehen zu sehen. Spontan wähle ich ihre Handynummer an. Eine beunruhigende halbe Minute ist durchsetzt vom sonorigen Fiepen des Wähltons, bis mir ihre helle Stimme, zunächst etwas unschlüssig wirkend, entgegenschallt …
(…)
©Einar_VonPhylen 021020
Fußnote:
• Klauenrehe: Rinderkrankheit, welche die Rinderhufe befällt. Sie tritt leider äußerlich kaum in Erscheinung, kann aber sehr gefährlich werden, wenn sie nicht behandelt wird. Oft wird nur überhaupt anhand des Lahmens und der geringen Fresslust erkannt, dass die Kuh erkrankt ist. Neben dem Lahmen vermeiden erkrankte Kühe generell das Laufen, beziehungsweise das Auftreten mit dem betroffenen Huf. Andere Symptome sind Sohlenblutungen, doppelte Sohlen und Risse oder Abszesse an der weißen Linie. Wenn eine subklinische Rehe nicht behandelt wird, entwickelt sie sich zu einer chronischen Rehe.
• Färse: Weibliches Rind vor dem ersten Kalben