Mehr brandheiße Inhalte
zur Gruppe
Dirtytalk & Kopfkino
453 Mitglieder
zum Thema
Flutengel: Eine Geschichte für Männer, die den Hunger spüren23
Part 1: Vorbereitung Mein Herzschlag schlug mir bis in den Hals.
Das Thema ist für dich interessant? Jetzt JOYclub entdecken

Sollbruchstellen

**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Sollbruchstellen
Ein verlängertes Wochenende steht an- und so liefere ich für diejenigen, die sich (für Ästheten zweifellos naheliegender) spätestens Sonntag an "Den schönsten Brüsten" oder den größten ... (na- lassen wir das) satt gesehen haben, einen weiteren Schreibversuch. Gerne auch zum kritischen Reflektieren, Zerlegen und Räsonieren über den Sinn und Unsinn meines Geschmieres...
Dann mal Feuer frei... *fiesgrins*


1. Abteilung: Bruchteilsgemeinschaft(en)
Eintauchen in Geschichtlichkeit. Schon seltsam, wie schlafwandlerisch ich die Schlaglöcher auf dem Verbindungsweg von der Dorfkneipe zum Gutshof mit meinem TT-RS umkurve. War es doch knapp zwanzig Jahre her, als ich mich das letzte Mal in dieses Kaff und schließlich in diesen Feldweg verirrte. An für sich wollte ich mich schon länger von meinem Spielzeug trennen. Aber der Allradantrieb leistet gute Dienste, wo ich doch in den letzten Monaten aufgrund des grassierenden Höfesterbens und der gleichzeitigen Krise in der Baubranche mindestens einmal in der Woche durch schlaglochdurchzogene Feld- und Bauwege fahren, schlimmstenfalls sogar durch knöcheltiefen Dreck stiefeln musste.

Als Insolvenzverwerter steht man sich heutzutage gut. Und wenn ich in meinem Metier etwas gelernt habe, dann eins: Alles, wirklich alles findet einen Käufer. Meistens zwei, die sich dann gegenseitig überbieten. Wenn man es gut anstellt.

Brücken brechen zuerst an den Fugen. Auch wenn die Zeit keine Sollbruchstellen kennt, so gliedert sich das Wesentliche am Gewesenen in den Bruchteilen, die sich scheinbar willkürlich trennen und wieder zusammenfügen. Bei aller Professionalität, die man offenbar an mir schätzt und zuweilen fürstlich honoriert, zuckte ich dann doch beim Anruf des Insolvenzverwalters zusammen, als er mir Grund und Adresse meines neuesten Auftrages nannte: Verwertung einer Domäne ohne Fortführungsperspektive mit umfassendem Nutztierbestand in der Gegend meiner Kindheit. Ein Heimspiel sozusagen. Was ich beschloss, dem Auftraggeber vorerst zu verschweigen.

Heimatabend - wenn auch mit einiger Zündverzögerung. Flüsterte mir doch mein Instinkt zu, dass neben langen Vollkadenzen auch mit schrägen Klängen zu rechnen war. Das Zeitfenster war knapp, hatte doch das Insolvenzgericht auf Drängen der kreisansässigen Bank umfassende Sicherheitsanordnungen erlassen. Am Vorabend noch waren im Büro Überstunden angesagt, nachdem mir bei Auswertung des via Email übersandten Prüfauftrages dämmerte, dass allein die Inventarisierung der Insolvenzmasse gut und gerne einen ganzen Arbeitstag umfassen dürfte.

Ein früher Aufbruch dann am Morgen. Dieser belohnt durch freie Straßen außerhalb der üblichen Erntesaison. Das Gekurve über tief vertraute Kreisstraßen mischt sich mit diesem miesen Empfinden verlorener Absichten und Bedeutungen und verliert sich in der Beugung des wolkenverhangenen Himmelszeltes in einer unwirklichen Aura des Befremdlichen.
Ich bin gut in der Zeit und so ist gegen Mittag noch genügend Zeit für einen Abstecher in die Dorfkneipe. Auch wenn ich weder Durst geschweige denn Appetit auf die fetttriefenden Schnitzel aus der heruntergekommenen Küche verspüre. Aber wie hieß es hier so schön: "Gohst jeden Tag inne Kneip, brüggst kiehn Radio".
Also: Herumhören und auf die richtige Relation von offenem Ohr und gezügelter Kehle achten.
Die Besucherfrequenz im Dorfkrug scheint seit Menschengedenken übersichtlich zu sein. So wie ich dann bereits kurz nach dem Betreten der Gaststube von dem Wirt und zwei Alten an der Theke gemustert werde, mutiere ich ungewollt zur Attraktion des Tages. Die Gesichter der Drei waren aufgeraut und narbig vom stetigen Nordwest, der ganzjährig über den Sommerdeich blies und Bäume und Hecken immer in dieselbe Richtung beugte. Eine Beugung, die sich in der geduckten Körperhaltung der Alten widerspiegelte und seit Generationen die Jungen stets in das Landesinnere zu treiben schien.
Der Thekenwirt Hellmut stützt sich wie seit Jahrzehnten auf die Zapfanlage und poltert mir entgegen:
„Ach - kiek mol an. Wo kümmst jieh denn mittenmaal her?“

Ich drehe mich nur kurz auf dem Absatz um und brumme ihn entgegen:
„Na, süsst doch - von buten!“

Dem mittlerweile gut 80 Jahre alten Wirt sagte man bereits seit Jahrzehnten nach, dass er dem Teufel für eine Flasche Doppelkorn täglich seine Seele verkaufte und deshalb unsterblich sei. Hellmut fletscht die Zähne zu einem flächigen Grinsen und nickt mir zu.
„Na, Jung. Dann sett dih man hin. Gifft Kaffee konkret.“

Auf mein Nicken hin schüttet er ein abgestandenes, schwarzes Gebräu aus einer beschlagenen Kanne halbhoch in einen Kaffeebecher. Die fehlende Hälfte zum Becherrand wird wie üblich aufgefrischt durch den obligaten Hullmannschen. Doppelkorn- Geschmacksverstärker und Desinfektion in einem.
„Nu, Jung. Wat drieft dih denn in düsse Gegend? Hässt dih verfohren?“

„Nee, verforhen künn ick mih ock woanners. So wie man mih vertehlt hett, gifft hier jo tur Tied ´ne Menge Land to köpen, oder?“
Ein Wirkungstreffer, so wie ich in die betretenen Mienen der Anderen Mutlosigkeit und unterdrückte Verzweiflung herauslese. Ausdruckslose Gesichter, in denen sich die Schwere des Kleibodens abzeichnete, der den Weiden und Wiesen reiche Ernte bescherte und doch die Stiefel so tief im Boden versinken ließ, dass ein Fortkommen, ja selbst ein Entkommen nahezu unmöglich erschien.
Mein Stuhlnachbar räuspert sich und setzt an, bevor der listige Kneipenwirt ihm einen Maulkorb verpassen kann.
„Wat förn Schiet. Hier goht so temlich allens övern Kopp. Sogar de Gutshof kümmt unnern Hammer…“

Mit einem gekünstelten Erstaunen setze ich nach:
„Wie jetzt: Dat Anwesen von de schattrieke* Lü?“

„Ach. De junge Godsherr hett nix dögen. Nix als fieren, söpen und achter de Deerns hinnerher. Runner gewirtschaftet hedder den Hof. Un als de Mölkpries in Keller gung, da hett de Bank dann de Kredite gekündigt. Upknöhpt hett he sich dann un sihn Frau mit de ganze Schiet in Stich loten.“
Hellmut nickt und beugt sich zu mir vor.
„De Lüdde brögt Help oder ´nen Wunner. Jih kennt jo doch sieht de Kindheht. Schast mal vorbeikieken, was mehnst?“
Ich winke ab und stürze den letzten Schluck aus dem Kaffeebecher herunter:
„Ah wat - lang is her und allens vergeten und vergeben …“

Der Barhocker quietscht auf dem vergilbten Holzboden, als ich mich erhebe und mich mit einem kurzen Tippen des Fingers an der Stirn verabschiede.
In der Absicht steckt oft ein Zwiespalt zwischen Zweck und Bestimmung…

©Einar_VonPhylen 060920

Fußnote:
• schattrieke Lü: => steinreiche Leute (in diesem Kontext: Scheißreiche Leute)


2. Abteilung: Ochsen und Esel
Erinnerungen sind halt nichts anders als eine Zeitmaschine in Vergegenwärtigung.
Zügig lasse ich den Dorfkern oder das, was mal Dorf war, hinter mir. Ein Ort, wie so viele Dörfer, in denen man sich an das sichtbare Sterben gewöhnt hat. An der Landmaschinenwerkstatt wuchert der Efeu bereits mannshoch an Zaun und Mauerwerk. Die groben Dachlatten, die mehr als dürftig die Fensterfront des SB-Markts verdecken, hängen bereits teilweise an der verwitterten Hausfassade herunter. Zeugnisse eines hoffnungslosen Kampfes, der bereits vor Jahrzehnten gegen die Billigdiscounter und Baumärkte in der nahe gelegenen Kreisstadt verloren wurde. Ein schon gewohntes Bild, sich seit Jahren scheinbar ständig vor meinen Augen wiederholend. Blaupause für so viele Dörfer und Kleinstädte, durch die mich meine Geschäfte der letzten Jahre führen.

Der Verbindungsweg von der Dorfkneipe zum Gutshof nötigt den Stoßdämpfern meines Wagens einiges ab. So schlimm, wie das Aufsetzen des Wagenunterbodens es mir offenbart, kam mir der Feldweg meiner Erinnerung nach niemals vor. Wenn ich mich damals mit meinem Fahrrad auf dem Weg in die Kreisstadt an den äußersten Fahrbahnrand drückte, um das Sportcabrio von Michael, dem Gutsbesitzersohn, passieren zu lassen. Ich hatte bei Michael einen Stein im Brett, seitdem ich in diesem Freundschaftsspiel gegen die verfeindete Kreisstadtmannschaft seine ungewollte Rückgabe so gerade eben von der eigenen Torlinie kratzte. Und so zog er das Cabrio stets in Schrittgeschwindigkeit an mir vorbei. Immer begleitet mit einem kumpelhaften Wink. Gerade so langsam, um mir einen Blick auf die johlende Gesellschaft zu gestatten, die es sich bei lauter Musik aus den Wagenlautsprechern so richtig gut gehen ließ. Und Perdita mittendrin. Eine andere und für mich befremdliche Welt. Damals.

Hatte mich dann auch lange gefragt, was dieser umtriebige blonde Sonnenschein dann an mir so reizvoll fand. Und nie so richtig eine Antwort gefunden. Wieso auch? Als ich Perdita nach diesem einem Herbstabend auf dem heimischen Heuboden dann so beiläufig fragte, lächelte sie mich nur an.
„Du bist anders als alle anderen, die hier wohl den Rest ihres Lebens vergammeln werden. In deinen Augen ist dieser Hunger nach Weite. Du machst eben dein Ding.“

Ein seltsamer Herbst seinerzeit. Es war wohl dieser bereits feste Entschluss des Aufbruchs in meinen Augen, der Perdita seinerzeit gleichzeitig faszinierte und mir offenbar etwas Exotisches verlieh. Und mir doch nach einigen gemeinsamen Wochen auf dem Heuboden die wohl notwendige Distanz zum Absprung in die nächstgrößere Welt verschaffte…

Perdita stockt beim Überqueren des Hofs, als sie mich aus meinem TT steigen sieht. Nach einem kurzen Verharren am Torbogen geht sie ein paar Schritte auf den Neuankömmling zu und stoppt dann abrupt ab, als sie meine Gesichtszüge erkennt. Rätselnd wechselt ihr fast hilfloser Blick zwischen meinem Sportwagen und mir hin- und her. Je näher ich mich auf sie zubewege, desto deutlicher zeichnet sich das Bild vorzeitigen Alterns bei ihr ab. Stumpf und starr wirkt ihr Blick, der sich mir aus rotgeränderten Augen entgegenstreckt. Durchsetzt von einem leichten Anflug von Zorn und gleichzeitig auch von dieser Klarheit, die ich noch von damals kannte. Und doch verrät dieser mystische Ausdruck in ihren rehbraunen Augen, dass da irgendwo noch immer dieses Wildpferd in ihr siedelt.
Sie verharrt am Gatter der Pferdekoppel, auf der neben einem betagten Puliesel zwei Hannoveraner Hengste und zwei Haflinger grasen.

Die Biegsamkeit des Schreckens schien weder für sie noch für mich eine Option. Nach einem kurzen Moment des Zauderns erstarkt in Perditas Wesen wieder diese abgeklärte, ja nüchterne Zugänglichkeit, die sie bereits damals von allen anderen abhob und mich vergessen ließ, dass wir beiden von vollkommen gegensätzlichen Planeten zu stammen schienen.
Perdita findet recht schnell ihre Fassung wieder. War ihr doch bereits seit einer Woche durch mein Büro die heutige Bestandsaufnahme mit dem Insolvenzverwalter bekannt gegeben. Und ihr war letztlich klar, dass ich einen bestimmten Ruf genoss und allemal nicht zu reinen Höflichkeitsbesuchen aufgelegt sein konnte. Zumal mir meine Eltern bereits vor deren Tod nicht vorenthielten, welch abenteuerliche Gerüchte über mich und meine dubiosen Geschäfte im Dorf kolportiert wurden.
Perdita schweigt, als ich meine Hand auf ihren Arm lege und sie mustere. Die Pferde streunen unruhig am anderen Ende der Koppel herum und lediglich der Esel strebt mit sichtlicher Neugier auf die beiden Zaungäste zu. Ich stutze, als meine Hände über das zerzauste Fell des alternden Esels streichen.
„Aber- das ist jetzt nicht…?“

Sie lacht auf und schüttelt den Kopf.
„Nein- das ist nicht unser El Burro* . Der ist schon vor 8 Jahren gestorben, hat allerdings seine Gene an diesen Gesellen weitergegeben. Gene, die dich wohl wiedererkennen, wie es scheint.“
Der Puliesel knabbert an meinem Anzug herunter und scheint zunehmend Gefallen an den albernen, regenbogenfarbenen Gummistiefeln zu finden, die ich am frühen Vormittag noch hastig aus einem Baumarkt an der Autobahn herausschleppte. Mit einem leichten Anflug von Bitternis lächelt Perdita mich an, als sich der Puliesel an meine ausgebreitete Hand drückt und auch die beiden Hannoveraner ihre anfängliche Scheu mir gegenüber aufzugeben scheinen.
„Immer noch dieser Pferdeflüsterer. Und jetzt auch noch Rosstäuscher.“
Sie schmunzelt und in ihren ansonsten so stumpfen Augen blitzt für einen Moment wieder dieses Wildpferd auf, dass mir vor gut 30 Jahren den Schlaf und in den gemeinsam durchfeierten Nächten den Verstand raubte.

Mein Blick schweift über den Vorplatz, durchmisst das Haupthaus und die Stallungen. Scheinbar unverändert breitet sich der Gutshof vor mir aus und es fällt mir für ein paar Augenblicke schwer, mich vom Abgleich vergangener Erfahrung zu lösen und auf meinen Auftrag zu konzentrieren. Ich atme kurz durch und blinzele Perdita schmallippig zu.
„Du wüsst, weswegen ik daar bün?“
Sie nickt kurz und wir nehmen zunächst schweigend die Koppel sowie die vom Gutshaus abzweigenden Wirtschaftsgebäude in Augenschein. Die räumliche Vertrautheit bringt es mit sich, dass die Bestandsaufnahme nahezu schweigend abläuft und lediglich durch kurze Kommentare und Fragen durchsetzt ist. Der Rundgang wird regelmäßig nur dann unterbrochen, wenn ich abwechselnd meine Kleinbildkamera oder das Lasermessgerät ausrichte und die Mess- und Zählergebnisse auf meinem Laptop eingebe.
Ein leichtes Zögern, als wir dann durch das Scheunentor treten. Sie hatte Michael am frühen Morgen in der Scheune entdeckt und Feuerwehr, den Hausarzt und die Polizei informiert. So wie mir zugetragen wurde, alles mit einer scheinbar gespenstischen Souveränität und Abgeklärtheit. Schon lang bevor die Hausbank sämtliche Kreditlinien zusammen strich, schien in der Ehe der beiden sämtlicher Kredit verspielt. Der Hofherr vermochte sich dem allen dann nicht mehr zu stellen und so musste dann die örtliche Feuerwehr mit der Drehleiter ´ran, um ihn mitsamt des Stricks von der Firstfette des Scheunendachstuhls zu lösen. Hässlich wars, wie dann der leblose Körper die gut acht Meter ungebremst der Erdmitte entgegensauste. Ihre Beine gaben dann einfach nur nach. Und dann breitete sich Dunkelheit aus, welche sich die weiteren Wochen und Monate in ihr Gesicht grub…

Ich beschränke mich auf eine Besichtigung und Erfassung des lebenden und seelenlosen Inventars hinter den verwitterten Backsteinwänden des gut 300-jährigen Hofs. Ein kurzes Aufmerken nur, als ich im Maschinenhaus den alten Deutz-Fahr D40.1 entdecke, der seit Jahrzehnten nach einem Riss der Pleuelstange achtlos unter dem Trockenboden des Maschinenhauses vor sich hindämmert. Eine schon fast mystische Begegnung mit einem verschüttet geglaubten Alter Ego.
Nach drei Stunden endet der Rundgang wieder an der Koppel, wo uns die fünf Vierbeiner bereits mit neugierigen Blicken erwarten. Perdita stützt sich aufs Gatter auf und nagt an ihren Lippen.
„Gahn de Peer dann ock wech?“
In ihren Augen sammeln sich erste Tränen und ich muss mich beherrschen, sie nicht zu umarmen.
„Nee, glöv ik nich. In de Papere steiht doch, dass de Peer und de Esel noch tum Hof von diehn Ellern tohören.“
Sie nickt und scheint sich aus einer inneren Verwerfung zu lösen.
„Hest noch Tied förn Tee?“

©Einar_VonPhylen 030920


3. Abteilung: Prosekutor
Der Anspruch ist das Pflegekind des Zweifels.
Gold gaben wir für Eisen. Immer noch der alte, wuchtige Eichenholztisch, an dem wir in der Wohnküche Platz nehmen. Ich durchforste die bereit liegenden Ordner, während Perdita sich schweigend am Herd zu schaffen macht. Als der Tee dann dampfend vor mir steht, rückt sie mit ihrem schweren Holzstuhl eng an mich heran. Mein Blick fällt unweigerlich auf Perditas gespreizte Beine, welche den Stoff ihres wildgeblümten Sommerkleids dehnen. Die ausladenden floralen Motive des Kleides verlieren sich nahezu konturlos in der Blässe ihrer muskulösen Oberschenkel, die bei jeder Bewegung des Kleides zu beben scheinen.
Das wird jetzt zu billig, denke ich mir noch. Jetzt bloß nicht melancholisch werden und diese alberne Jugendliebeattitüde aufleben lassen. Krampfhaft versuche ich, mich auf die ausgebreiteten Flurkarten und Bestandslisten zu konzentrieren. Unerwartet streicht ihre Hand über meinen Arm und zwingt mich zu einem kreuzenden Augenblick.
„Erinnerst du dich, was wir uns geschworen haben, als du mich kurz vor deinem Aufbruch das vierte Mal gefickt hast? Ehrlich zu sein- egal wie schlimm die Wahrheit dann auch sein mag.“
Ich nicke ihr zu.
„Ich habe auch nicht vor, dir irgendwelchen Scheiß zu erzählen.“

„Dann is man god.“
Perdita scheint es nichts auszumachen, dass ich meine Augen für einen Moment nicht von ihr lösen kann. Und mich dabei erwische, meinen Blick für ein zu langes Moment unweigerlich auf ihre ausladenden Brüste zu werfen, um dort womöglich noch sich abzeichnende Konturen zu entdecken. Nichts, bis auf ihren offenen Blick, dieser aber frei von jeder Verurteilung oder Missbilligung. Das einzige, was fehlt, ist dieses verspielte Lächeln, welches sie mir immer an diesem einen Spätsommer zuwarf. Wenn mein Blick vielleicht etwas zu lange über ihren Körper wanderte. Dieses verschmitzte Lächeln, wenn sich dann beim Baden im nahe gelegenen Quellsee die Konturen des Piercings leicht unter ihrem Bikini abzeichneten.
Ihr Brustpiercing war damals unser Geheimnis. Aus einer für Perdita so unverwechselbaren Laune heraus geboren. Genauso spontan seinerzeit wie ihr Entschluss, mich zum Ohrlochstechen in der großen Stadt zu begleiten. Ein Industrial mit vier Kettenringen sollte es damals für meinen linken Lauscher sein. Für mehr war kein Platz mehr. Vehement winkte ich ab, als der Ladenbesitzer mir ein benefit für das fünfte Piece anpreiste und ich kopfschüttelnd auf meinen geschwollenen Lauscher zeigte. Kein Problem, meinte der Piercer - es gäbe ja noch andere Körperstellen. Und sein Blick wanderte zu Perdita, die mit geweiteten Augen bereits seit einer Viertelstunde die Schaubilder vor der Vitrine studierte ...
An diesem Sommer verzichtete sie deswegen als eine der Wenigen auf das Nacktbaden im See. Bis auf das eine Mal in dieser bereits herbstfrischen Septembernacht. Als wir im Schutz der Uferböschung kichernd in das eiskalte Wasser eintauchten. Noch berauscht vom vorherigen Gelage beim Feuerwehrball, von welchem wir uns bei erster Gelegenheit unauffällig davonstahlen. Die eiskalten Fluten ließen uns schlagartig ausnüchtern und ich spürte ihre erregten Brustwarzen immer dann, wenn sie sich jauchzend an mich drückte. Unser lautes Lachen, als ich versuchte, in den eisigen Fluten des Sees in sie einzudringen. Eng war sie, auch wenn ich bereits seinerzeit wusste, dass sie keine Jungfrau mehr war…

Der massive Holzdielentisch verkommt zusehends zum Rastplatz für verlorene Seelen.
Wir konzentrieren uns auf die Bilanzen und Bestandslisten für Vieh und Gerät. Und Perdita scheint es dankbar anzunehmen, dass ich ihr offenbar unverständliche Buchwerte und –Positionen näher auseinandersetze. Sie nimmt meinen besorgten Blick nicht so recht wahr und rückt mittlerweile so an mich heran, dass mir schlagartig dieser so vertraute Körperduft zu Kopf steigt. Und mir bewusst wird, dass sie offenbar nicht so unvorbereitet in diesen Tag gegangen war, wie es der erste Eindruck zu vermitteln schien.

In ihrem Gesichtsausdruck eine Regung zu erkennen scheint so wie Steine lesen. Die tiefe Begegnung unserer Augenpaare offenbart mir zunächst diesen Anflug von Fremdheit, der mich seit meiner Ankunft umströmt. Es ist das Fehlen der funkelnden Tauperlen in ihrer Iris, wie ich es aus unseren Jugendtagen kannte. Dieses Funkeln war immer ein Vorbote für dieses helle Lachen, welches dann urplötzlich aus ihr heraussprudelte.
Treiben, ja belauern in diesem Anflug von Fremdheit, welche da irgendwo immer im Hintergrund mitklang und dann seinerzeit auch unsere letzten gemeinsamen Abende prägte. Und auch irgendwie vergiftete. Das Toxische des Aufbruchs legte sich über das gemeinsame Moment wie eine dieser Tiefdruckrinnen, welche regelmäßig zum Herbst hin die Schleusen des Himmels weit öffneten und die Bewohner dieser Gegend hinter die schweigenden Türen ihrer Katen zwangen. Es fehlte bei Perdita auch immer dieser letzte Impuls zum Durchbruch. Ihr zögerlicher Blick und dieses so befremdliche Aufkeimen von Verlorenheit, als ich sie in dieser letzten Woche vor meinem Aufbruch überreden wollte, mit in den urbanen Moloch an der Alster aufzubrechen.

Beim Durchforsten der Liegenschaftskarten und Subventionsbescheide begegnen sich zwangsläufig unsere Hände. Ein Stocken erfasst anfänglich ihre grazilen, aber bereits von jahrelanger Arbeit gezeichneten Hände bei jeder unbedachten Berührung. Sie spürt meine Vertrautheit im Umgang mit Bilanzen, Veranlagungsbescheiden und Bodenrichtwertkarten, sodass sie sich zunehmend an mich lehnt und mit Detailfragen zudeckt.

Ein Knistern auf dem Kiesboden des Vorhofes lenkt unsere Blicke voneinander auf den Lotus Evora des Insolvenzverwalters, der vor dem halboffenen Küchenfenster sichtlich überfordert versucht, seinen PS-Boliden zwischen den Häckslern nahe an die Hauswand zu bugsieren. Beim Aussteigen kreist zunächst dieser vereinnahmende Blick, an denen ich mich bereits in unzähligen Verwertungsorgien sattgesehen hatte. Die Zufriedenheitsgeste des Insolvenzverwalters schlägt sekündlich in einen Anflug von Unmut um, als dieser sich allein auf dem Vorplatz wiederfindet. Ein kurzes Zwiegespräch durch das halboffene Küchenfenster, schon sprintet der Verwalter gleich einem Zirkuspferd mit einem ausgebeulten Pilotenkoffer in die Küche.
Gewohnt knapp fallen die Begrüßungsformeln aus. Nach einem kurzen Nicken und einem fast kumpelhaften Klaps auf meine Schulter deckt der Insolvenzverwalter Perdita mit dem obligaten knapp einstündigen Vortrag zu, den sich alle Betroffenen unweigerlich stellen müssen. Perdita wirkt unschlüssig und überfordert. Und so wechselt ihr ängstlicher Blick die ganze Zeit zwischen dem Insolvenzverwalter und mir hin- und her.
Kurz und bündig tausche ich mit dem Verwalter die Kerndaten aus. Seine Zweisprache mit mir verkommt ins duzen. Indiz dafür, dass er wohl einmal mehr zulange auf dem Golfplatz herumturnte und sichtlich schlecht auf den Termin vorbereitet ist. Also nutze ich die Chance und ziehe den Aktenstapel fordernd zu mir herüber, bevor sich die Finger des Verwalters daran zu schaffen machen.
„Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Auswertung. Reicht es, wenn ich dir die Unterlagen übermorgen ins Büro bringe?“

Mein kurzer Blick aus dem Küchenfenster überzeugt mich davon, dass sein Sportcoupé neben dem Golfbesteck im Fond allenfalls nur noch einen Leitzordner aufnehmen dürfte. Mein Instinkt sagt mir, dass es nicht von Nachteil ist, sich von den Unterlagen Kopien zu fertigen, bevor diese irgendwo in der Bilanzbuchhaltung des Verwalters versacken.
Der Verwalter grinst. „Geht schon klar! Wie sieht es mit lebenden Inventar aus?“
Sein bohrender Blick trifft Perdita sichtlich unvorbereitet, sodass sie automatisch und stockend ins Plattdeutsch verfällt.
„Nu. De Koi stoht bih de Genossenschaft, wiel de Bank de Mölkmaschine vorletzte Week ofholen hätt.“

Mein „Die Schnitzel stehen aber noch drüben im Maststall!“,
konstatiert der Verwalter mit einem aufblitzenden Lächeln. Ein typischer Zahlenmensch, der sich nur zu blendend in das Pulsieren dieser materialistischen Welt des Zerschlagens und Liquidierens von Werten und Lebensentwürfen zu Recht fand.

Sei´s ´drum. Ich hatte über meine nicht über jeden Zweifel erhabenen Kontakte im Nordbrabant einen holländischen Landwirt aufgetan, der sich beim Erwerb eines vormals volkseigenen Betriebes von der Treuhand kräftig verausgabt hatte und rechtzeitig einsah, dass die seinerzeit üppigen EU-Subventionen baldigst versiegen würden. Ich hatte ihm diese Idee mit den Biogasanlagen auf dem gut 25 Hektar großen Brachland schmackhaft gemacht, welches den größten Teil des südlichen Gutshofgeländes ausmachte. Das ich ihm dann das im Ergebnis eher halbherzige Angebot einer regionalen Bietergemeinschaft nicht verschwieg, steigerte sein Kaufinteresse im selben Umfange, wie es sich der Insolvenzverwalter für die Masseanreicherung – und sein recht unbescheidenes Salert - erträumte. Im Prinzip waren die Würfel für die Filettierung des Landgutes bereits gefallen, bevor ich den ersten Fußabdruck auf die großdimensionierte Hofeinfahrt setzte.

Der Insolvenzverwalter blickt nach einem kurzen Faktenaustausch nunmehr minütlich auf seine Armbanduhr und so bleiben nur gefühlte fünf Minuten, in denen wir beiden uns allein auf dem Hof über das weitere Vorgehen abstimmen. Business as usual.
„Kümmerst dich dann noch um die Rindviecher! Auch wenn die Fleischpreise derzeit im Keller sind: Sehe zu, dass wir die möglichst schnell an den Mann bekommen, okay?“
Auf mein Nicken hin gibt mir mein Auftraggeber einen kurzen Klaps auf die Schulter und springt in sein Sportcoupé. Der Insolvenzverwalter lässt den Motor unwirsch aufheulen. Strebend zu weiteren Goldtöpfchen, die an diesem Tag noch auf seiner Liste stehen. Zeit ist Geld und – so scheint es - am Geld hängt heutzutage die Zeit. Der Kavalierstart des Lotus wird an der Einmündung zur Kreisstraße jäh unterbrochen, als der Unterboden am Buckel der Hofeinfahrt hart aufsetzt. Ein hastiges Zurücksetzen nur, dann poltert der Evora mit quietschenden Reifen auf die Kreisstraße. Das Röhren des Mittelmotors verfängt sich noch für ein paar Augenblicke im Blattwerk der Alleebuchen. Danach breitet sich eine Stille aus, die kein Wort zu erdulden scheint.

Ein kurzer Seitenblick durch das halboffene Küchenfenster vergegenwärtigt mir, dass mich Perdita am Küchenfenster stehend mit einem durchdringenden Blick mustert. Schweigend. Denn die Zeit scheint offensichtlich noch nicht reif zu sein für Fragen, die zwar Landschaften formen, aber Räume noch nicht besiedeln wollen…

©Einar_VonPhylen 050920


4. Abteilung: Wechselnde Gezeiten
Viele Wege führen nach Rom. Und so fließen die Kilometer auf der zwischenzeitlich gut ausgebauten Umgehungsstraße zur Kreisstadt nur so dahin. Perdita schien nach diesem Nachmittag mit so viel Gesellschaft überfordert zu sein. Und mir schwante, dass sie sich in den letzten Monaten, wenn nicht sogar über Jahre, zusehends in sich selbst zurückgezogen hatte.
Meine Entscheidung, zum Zweck der Massesicherung die in der Kreisstadt untergestellten Milchkühe zügig zu erfassen, nahm sie mit einer widersprüchlichen Miene irgendwo zwischen aufkeimender Hilfslosigkeit und Erleichterung zu Kenntnis. Bereitwillig gab sie dann die Wiegenoten und Rinderpässe heraus.

Ich nutze die Fahrt in die Kreisstadt, um in meinem Auto die Mailbox abzuhören. Neben dem obligaten Statusbericht aus meinem Büro lausche ich der sichtlich unaufgeräumten Stimme meiner Ex mit der Bitte um Rückruf. Beinahe nüchtern lässt sie anfragen, ob ich an diesem Wochenende auf die Wahrnehmung des Umgangsrechts mit unserem gemeinsamen Sohn bestehen würde. Tändelnd zwischen der Annahme eines weiteren Winkelzuges meiner Ex und dem mir nicht verborgenen Streben meines Filius´ nach Unabhängigkeit entscheide ich mich, spontan zurückzurufen.
Unwirsch wirkt ihre Stimme zunächst, als ich ihr ein
„Hallo, was ist los?“,
ins Telefon raune. Sie hält sich nicht lange auf und lässt mich wissen, dass die Planungen des Juniors auf ein Wochenende mit irgendwelchen dubiosen Freunden ausgerichtet sind. Angereichert mit diesem typischen Unterton, dass es mich ja angesichts meines überschaubaren Engagements in der Erziehung ohnehin nichts angehe, das näher zu hinterfragen. Wohl auch zwecklos, da sich mein Gegenüber mittlerweile auch nicht so ganz klar über die Ambitionen und Lebenswirklichkeit unseres Ablegers im Klaren zu sein scheint. Ab einem gewissen Zeitpunkt lösen sich die Klammern des Vertraut Seins im Takt schweigenden Aufbegehrens des Nachwachsenden und lässt einen im Tal der Ahnungslosen verharren.
Ein fast müheloses Hineingleiten in dieses Medium der Entfremdung. Welches mich in den letzten Monaten mit derselben Wucht traf, wie sich das offenbar genauso in der Lebenswirklichkeit meiner Ex spiegelte. Für den obligaten Zoobesuch der vorigen Jahre war der Junge zu alt, genauso wie ich es für einen jugendbeseelten Besuch einer Shishabar war. Und so verliefen die letzten gemeinsamen Wochenenden zusehends nach demselben Strickmuster: Stundenlanges Anschweigen der Spielkonsole in der heimischen Juniorsuite wechselte mit stundengreifenden Handytelefonaten, während ich dann abwechselnd Mahlzeiten oder Kurzausflüge in den nächstbesten Outletpark vorbereitete. Um dann dieses Schweigen in meiner ungewollt frei gewordenen Zeit unweigerlich in meinem Homeoffice mit Arbeit zuzudecken. Die gemeinsame Kommunikation erfolgte dann zunehmend über Gutturallaute.
Es blieb dann regelmäßig nur das gemeinsame Bier auf dem Balkon, welches dann am letzten Abend – wie unter Männern wohl üblich - schweigend unter dem Sternenhimmel eingenommen wurde. Umso erstaunter war ich dann jedes Mal auf diesen eifersüchtigen Unterton in der Stimme meiner Ex, wenn sie mir auf Nachfrage die Begeisterung unseres Sohnes über die gemeinsamen Wochenenden steckte.

Das Telefonat mündet dann wie so üblich in die Diskussion über den dringend erforderlichen Unterhalt. Auch wenn ich nie einen Zweifel daran ließ, dass sie als Ausgleich für die Einschränkungen ihrer Lebensgestaltung pünktlich mit dem Unterhaltsvorschuss rechnen konnte, bildete der Kindesunterhalt wohl die einzig mögliche Ebene sachlicher Kommunikation. Diesmal überrascht mich meine Ex mit der Tatsache einer anstehenden Klassenfahrt und einem nicht unbeträchtlichen Eigenanteil der Eltern für diese Unternehmung. Auch wenn ich ihr stressbefreit die Überweisung mit der nächsten Unterhaltszahlung ankündigte: Es bleibt dieses bittere Gefühl, dass mir der Junge in den letzten Wochen nichts, aber auch gar nichts über die anstehenden Klassenfahrt erzählte. Ich finde mich zusehends damit ab. War mir doch klar, dass ich im selben Alter seinerzeit bereits genug mit mir zu tun hatte, um mich „zu definieren“.

Ehe ich mich versehe, endet das Telefonat abrupt. Ohne Abschiedsgruß, wie es seit Monaten zur ständigen Übung verkam. Aus dem Autoradio verliest ein Moderator unzählige Baustellen und Wartezeiten auf der einmal wieder überfüllte A 1. Missmutig vergegenwärtige ich mir diese gut zwei Stunden im Stau am Buchholzer Dreieck vor zwei Wochen. Zurückgeworfen auf diese neuen Realitäten konfrontiere ich mich damit, dass es offenbar keinen Anlass gibt, am Abend die mehr als 200 Kilometer zurück in die Stadt zu fahren. Was sollte es schon bringen, die nächsten Tage und das Wochenende allein auf die flüsternden Wände meiner Stadtwohnung zu starren.

Anschließend Statusabgleich mit dem Büro. Amelie hielt wie gewohnt die Stellung und hatte ein bemerkenswertes Gespür für meine Stimmungslagen und Ambitionen. Nein- es war nichts Außergewöhnliches vorgefallen, was in den nächsten beiden Tagen unbedingt meine Anwesenheit an der Alster erfordern würde. Amelie war ein Glücksgriff und blühte auf, als ich sie nach den ersten beiden nicht ganz einfachen Jahren zeitgleich mit dem Umzug in unser Bergedorfer Büro zur Bürovorsteherin ernannte.
Sie würde mir das Wesentliche ohnehin per Email posten und sich melden, sobald sie für die kommende Nacht eine passende Unterkunft in der Gegend für mich gebucht haben würde. Gutes Mädchen.

Die Sprachverbindung bricht just in dem Moment ab, als mein Wagen das Ortsschild der Kreisstadt hinter sich lässt. Nahezu prophetisch öffnet der Himmel seine Schleusen und vergießt Tränen über eine Stadt, die in ihrer Randlage schier ausweglos zwischen den Unbillen des Meeres und der gleichmütigen Weite des kargen Hinterlandes gefangen verharrt.
Über die Jahre scheint sich kaum etwas geändert zu haben. Unweit der Altstadt ist es nur ein Katzensprung zum Kutterhafen, auf dessen Kaimauer ich bereits als Kind Wünsche und Hoffnungen in die Weite schickte und mir dafür mehr als einmal eine nasse Dusche einhandelte. Unbequeme Vorbereitung auf das, was mich zukünftig erwarten würde. Wenn auch über die Jahre mit einer weitaus schlechteren Aussicht, als mir die grenzenlose Weite der deutschen Bucht verhieß.

Wasser, welches hier in der Gegend fließt, versteht sich immer irgendwie als Aufforderung zu verharren. Ausharren, ja erdulden der Launen der teilweise minütlich wechselnden Witterungsumschwünge, je nachdem, wie der Mond aufgelegt ist und die Tide steht. Mal ganz zu schweigen von den Springfluten, die der Neumond und die Macht des Zufalls in das Dasein allen Lebendigen spülen…

©Einar_VonPhylen 090920

Fußnote:
• El Burro: Ein spezieller Bettvorwärmer, der im mediterranen Spachraum (ugs. Den geduldigen Esel) als Wärmespender für manchen kalten Fuß dient.



5. Abteilung: Milchwolken
Ein Kutterhafen, auf dessen Kaimauer ich mich wiederfinde. Alles schien noch beinahe so, wie es vor gut vierzig Jahren war. Nur, dass sich die damaligen Projektionen nunmehr zu Introjektionen gebärdeten.

Meine Aufwartung bei der Genossenschaft lief erfreulicherweise komplikationsloser ab, als ich es annahm. Wusste ich doch, dass der geschäftsführende Vorstand durch beide Ohren gebrannt war. Und ich auf der Hut sein musste, dass dieser nicht diesen oder jenen Hektoliter Milch, welche die Milchkühe vom Gutshof seit einer Woche durch die Milchpumpen jagten, abzweigte und nicht durch die Bücher gehen ließ. Der junge Ehlers war halt eben genauso ein Halunke wie sein Vater. Und so hielt ich mich nicht lange mit Diskussionen auf, pfefferte den gerichtlichen Eröffnungsbeschluss und meine Vollmacht auf seinen Schreibtisch und brüllte den Ehlers die nächsten fünf Minuten zusammen. Der Auftritt hinterließ dann die gewünschte Wirkung und so fand ich mich bereits nach einer Dreiviertelstunde mit einem undefinierbaren Fischbrötchen und einer Bierdose just an der Stelle der Kaimauer wieder, welche offenbar seit meiner Kindheit für mich reserviert schien.

Der auffrischende Nordwest drückt sattweiße Quellwolken von der deutschen Bucht über die Küste. Der stetige Wind scheint die einzige Macht zu bilden, welche die monströsen Wolkenformationen daran hindert, auf die Erde zu stürzen. Ein Schauspiel wie seinerzeit, als ich an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend genau dort mit meinem Vater auf die See blickte.

Jähzornig war der Vater und ein Raufbold. Als Viehhändler genießt man ohnehin nicht den besten Ruf und so scherte sich keiner so recht darum, als Vadder seinerzeit den alten Ehlers aus dem Nachbarort quer durch den Schützensaal zog. Nachdem dieser ihn versuchte, mit an Klauenrehe* erkrankten Färsen* über den Tisch zu ziehen. Und handgreiflich dafür sorgte, dass der Ehlers ein neues Gebiss bekam und der Freibankschlachter wegen der Färsen eine Nachtschicht einlegen musste.

Nur ein Vorfall von vielen, ohne dass Vadder ein Lokalverbot ernsthaft befürchten musste. Dazu war er im Dorfkrug ein häufig auzutreffender und zu guter Gast. Wenn dann die Viehauktionen in der Kreisstadt durch waren, traf man Vadder bereits schon in den frühen Nachmittagsstunden in der Dorfkneipe an. Man ließ ihn, wenn es denn irgendwie ging, an diesem einen Ecktisch direkt neben dem Tresen besser dann in Ruhe. Düster brütend und im Laufe des Abends immer lautstärker Unmengen von Korn ordernd. Bis dann auch Hellmut, der Wirt, zuviel bekam und zuhause anrief.

Ich zuckte jedesmal zusammen, wenn dann am späten Abend das Telefon schellte. Es dauerte dann auch noch weit in meine Studienzeit in der großen Stadt hinein, dass sich dieses schon fast mechanische Aufzucken bei abendlichen Anrufen legte. Beim Abheben des wuchtigen Telefonhörers ertönte dann immer Hellmuts Stimme an der anderen Seite, diese durchsetzt von den üblichen Hintergrundgeräuschen gut gehender Gastronomie.
„Moin Jung. Schast mal dien Vadder abholen. De hätt wohl vör hüüt genog.“

Wenn ich anschießend den schweren Bakelithörer auf die Gabel legte, stand Mutter immer unschlüssig im Durchgang zur Küche, aus dem noch der Duft des mittlerweile erkaltetenen Abendessens durch den Flur zu mir zog. Ich nickte ihr dann immer zu, wenn ich im Vorübergehen meine Jacke von der Flurgarderobe streifte.
„Ick goh dann mal los.“ Immer begleitet vom ängstlichen Blick der Mutter…

Vadder hockte dann meistens bereits an der verklinkerten Außenwand des Dorfkrugs und schien erst kurz vor der Eingangspforte unserer Kate zu realisieren, dass wir auf dem Heimweg waren. So voll, wie er war, dauerte es teilweise über eine Stunde, bis sich die schwere Holztür zum Hausflur auftat.
Dem ersten Fausthieb im Hausflur konnte ich in der Regel immer ausweichen. Und bevor mich die größflächigen Fäuste im zweiten Schwung treffen konnten, öffneten sich die mir entgegenstreckenden Handflächen mit diesem sich gleichzeitig verflachenden Blick aus fassungslosen Augen. Die Wucht der Schwinger schleuderte mich regelmäßig auf den kalten Fliesenboden, bevor sich meine Mutter schützend über mich beugen konnte und Vadder innehielt. Sie hatte diesen magischen Blick, der das gelblodernde Feuer in Vadders Augen löschen konnte…
Immerhin- Ausweichen hatte ich früher gelernt als so manch anderer. Vielleicht das Größte, was er mir vererben konnte, als ihn dann Leber und Nieren im Stich ließen.

Irgendwann nach der soundsovielten Entziehungskur meines Vaters saßen wir dann just an dieser einen Stelle auf der Kaimauer und warteten auf das Schichtende meiner Mutter. Sie verdiente als Bilbliothekarin der Stadtbibliothek gerade so viel, dass wir dann auch außerhalb der Schlachtzeit irgendwie über die Runden kamen.
Schwelgend uns an der Geduld des Mondes labend starrten wir schweigend auf die Wolkenformationen, die der Wind ins Landesinnere trieb. Vadder räusperte sich und wies mit der Hand auf das Meer.
„Weißt du eigentlich, woher die Milch kommt?“

Ich stutzte zunächst und antworte mit dem, was uns damals schon in der Grundschule vermittelt wurde. Vadder schüttelte den Kopf und lächelte mich auf eine seltsame Art an.
„Ach - klammere dich nie an die vermeintlich offensichtlichen Wahrheiten. Schau auf das satte Weiß der Wolken und erkenne, dass alles das, was uns ernährt, nicht aus unseren Händen und erst recht nicht von diesem verfluchten Stück Erde herkommt. Wir müssen dem Atem des Lebens entgegen sehnen, der aus der Weite kommt. Und dazu schickt uns das Meer die Milchwolken. Um uns daran zu erinnern, dass das Abenteuer des wahren Lebens irgendwo da draußen ist.“

Leicht erheitert nahm er meinen zunächst befremdlichen Blick wahr und ich entgegnete:
„Kommt das alles nicht irgendwie von einem höheren Wesen?“
Vaddern lachte laut auf. „Ach Jung- de hätt wohl jümmers watt besseres to don. Nix vör düsse Gegend hier.“
„Gifft et överhopt so ein höheres Wesen und wenn ja, wo is de Kerl dann, wenn du dich vergeten dohst ?“
Nur für einen Augenblick breitete sich ein Erstaunen über das Gesicht meines Vaters aus, der dann einmal tief durchatmete.
„Junge - schau mich doch mal an: Ich kann dir nur Richtung geben - die Antworten und Bedeutungen, die da draußen auf dich warten, kannst du nur selber ergründen.“
Und im selben Moment breitete sich in seinen Augen eine Wärme aus, die mir irgendwie zu erklären schien, weswegen meine Mutter so an ihm hing.

Sollbruchstellen. Irgendetwas schien seinerzeit bei Vaddern zerbrochen zu sein. Und selbst wenn ich als knapp Zwölfjähriger vielleicht nur die Hälfte von dem verstand, was er damit sagen wollte, so spürte ich dieses gerissene Band in ihm vom ersten Moment an. Und nahm es als selbstverständlich, dass mich ab diesem Tag keine Faust und kein hartes Wort mehr erreichte.

Irgendwie konnte ich ihm dann auch nicht übel nehmen, dass er bei meiner Abreise in die weite Welt zuhause blieb. Schweigend in seinem Stoffsessel vor dem Fenster. Wie in den letzten Jahren immer mit einem starren Blick aus dem deichzugewandten Fenster des Wintergartens.
Als mich meine Mutter dann bei meiner Abreise am Bahnhof umarmte, drückte sie mir mit einem Augenzwinkern eine abgegriffene Ausgabe von Grimms Märchen in die Hand. Ein Briefumschlag steckte mittig in Buch. Just an der Stelle, wo das Märchen „Von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen“ begann. In diesem Umschlag steckten willkürlich durcheinander gewürfelte Geldscheine. Diese zusammengehalten von einer rostigen Büroklammer, welche das jahrelange Sammeln der Scheine offenbarte.
Erst während des ersten Semesters, als es dann zum ersten Mal mit der Miete knapp wurde, öffnete ich Buch und Umschlag und erblickte an der Überschrift die krakelige Handschrift von Vaddern, welche mit zittriger Schriftführung etwas zwischen die letzten beiden Worte der Überschrift presste. So dass ich las: „Von einem, der auszog, um das Fürchten zu VERlernen“…

Immerhin. Vadder verbreitete bei mir niemals den Eindruck, ihm etwas schuldig zu sein. Was mich in späteren Jahren immer wieder beschäftigte. Und die ständige Frage aufwarf, wann man erspüren sollte, jemandem eine Schuld einzulösen, die niemals eingefordert wurde.
Einhergehend mit diesem Gedanken lässt mich eine Windböe aufschrecken. Und das düstere Grau an den Kanten der hochschwangeren Kumuluswolken kündigt einen Witterungsumschwung an.
Im Prasseln der ersten Regentropfen vergegenwärtige ich mir im Auto, dass es unter allem Seienden allemal kein Zeitmaß gibt, Schulden einzulösen. Gleich ob nun angemahnt oder niemals eingefordert.
Mich beunruhigt die Vorstellung, Perdita erneut allein und schweigend am Scheunentor stehen zu sehen. Spontan wähle ich ihre Handynummer an. Eine beunruhigende halbe Minute ist durchsetzt vom sonorigen Fiepen des Wähltons, bis mir ihre helle Stimme, zunächst etwas unschlüssig wirkend, entgegenschallt …

(…)

©Einar_VonPhylen 021020

Fußnote:
• Klauenrehe: Rinderkrankheit, welche die Rinderhufe befällt. Sie tritt leider äußerlich kaum in Erscheinung, kann aber sehr gefährlich werden, wenn sie nicht behandelt wird. Oft wird nur überhaupt anhand des Lahmens und der geringen Fresslust erkannt, dass die Kuh erkrankt ist. Neben dem Lahmen vermeiden erkrankte Kühe generell das Laufen, beziehungsweise das Auftreten mit dem betroffenen Huf. Andere Symptome sind Sohlenblutungen, doppelte Sohlen und Risse oder Abszesse an der weißen Linie. Wenn eine subklinische Rehe nicht behandelt wird, entwickelt sie sich zu einer chronischen Rehe.
• Färse: Weibliches Rind vor dem ersten Kalben

**********henke Mann
9.666 Beiträge
Das ist großes Kino. Ich sehe diesen Film vor mir, mehr, ich fühle den Nieselregen, spüre das Kopfsteinpflaster, ich rieche die Kühe.
*****div Frau
7.968 Beiträge
Zitat von **********hylen:
Gerne auch zum kritischen Reflektieren, Zerlegen und Räsonieren über den Sinn und Unsinn meines Geschmieres...
Hier merkt man mal wieder, dass Du eines nicht bist: einer von vielen. Eher einzigartig mitreißend hier mit Geschichten aus der Heimat. Böse, genau mit dem Finger in der Wunde und dabei die Verletzlichkeit des erst so toughen Protagonisten mehr und mehr zum Vorschein bringend. Ein paar Rechtschreibfehler sind mir aufgefallen im ersten Teil. Bei den weiteren Teilen war ich vom Platt abgelenkt, das mußte ich erst für mich übersetzen. Ist aber stimmig.

Von mir aus kannst Du uns gerne noch so etwas zum Lesen gönnen. Ich zumindest habe gerade Urlaub und Fotos von den größten, schönsten, kleinsten, ferkeligsten ... sind eh am Ende stinklangweilig, weil immer das Gleiche drauf ist. Bei Dir ist aber immer etwas anderes zum Lesen drin. *zwinker*
red
*******tee Frau
7.203 Beiträge
*anbet* @**********hylen so eine schöne Geschichte *love*
besonders der 5. Teil ist einfach wunderschön *love*
Wunderbar *herz2*

Mir gefällt es sehr wie tiefgründig du die Seele, den Kern des Protagonisten immer mehr entblößt.

Und so stimmig mit der rauhen Landschaft, dennoch hat es was weiches, etwas liebevolles, was sich unter anderem in diesen Zeilen zeigt.

Zitat von **********hylen:
Wir müssen dem Atem des Lebens entgegen sehnen, der aus der Weite kommt. Und dazu schickt uns das Meer die Milchwolken. Um uns daran zu erinnern, dass das Abenteuer des wahren Lebens irgendwo da draußen ist.“

Das ist soooo schön, so gut, so perfekt beschrieben ... du bist ein genialer Poet. So schreiben zu können ...

'Das Röhren des Mittelmotors verfängt sich noch für ein paar Augenblicke im Blattwerk der Alleebuchen. Danach breitet sich eine Stille aus, die kein Wort zu erdulden scheint.

Ein kurzer Seitenblick durch das halboffene Küchenfenster vergegenwärtigt mir, dass mich Perdita am Küchenfenster stehend mit einem durchdringenden Blick mustert. Schweigend. Denn die Zeit scheint offensichtlich noch nicht reif zu sein für Fragen, die zwar Landschaften formen, aber Räume noch nicht besiedeln wollen…'

Ein Genuß, wie man ihn heutzutage sonst nirgendwo mehr findet.

Ich hab auch nur einen einzigen Rechtschreibfehler gefunden, hab aber auch nicht gesucht, der sprang mich halt so an: 'DasS ich ihm dann das im Ergebnis eher halbherzige Angebot einer regionalen Bietergemeinschaft nicht verschwieg, steigerte sein Kaufinteresse im selben Umfange, wie es sich der Insolvenzverwalter für die Masseanreicherung – und sein recht unbescheidenes Salert - erträumte.'
Zitat von **********hylen:
über den Sinn und Unsinn meines Geschmieres
'Geschmiere' kann ich hier keins entdecken, ebensowenig wie Un-Sinn.

Das Schildern einer Landschaft, deren Bewohner und das Leben dort aktuell und in der Vergangenheit ist eine Sache. Den Leser so mitzunehmen, dass man am Ende glaubt, sich Erdklumpen von den Gummistiefeln bürsten und den Nachgeschmack des Kaffees mit Hullmannschen auf der Zunge spüren zu müssen ist eine starke Leistung, die nicht jeder vermag.

Was für mich die Frage nach dem Sinn beantwortet. *top2*

2-3 kleinere Fehlerchen, die aber von der Stärke des Textes nahezu erschlagen werden *zwinker*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
6. Abteilung: Flaschendrehen

Perdita scheint wenig überrascht, als ich ihr meinen Entschluss eröffne, „so für ein, zwei Tage“ länger in der Gegend zu bleiben.
„Is wohl god so. Find un föhl di mol woller in düsse Gegend een. Schasst dih blos överlegen, ob du to dien Ellerhus nakiekst. Is dann wohl better, wenns bei mi dihn Tied dodslannst*.“
Ich stutze zunächst, dass sich Perdita trotz der knapp dreißig Jahre Funkstille noch immer als Fährtenleserin in meinen Motiven zurechtfinden kann. Es scheint mir müßig, darüber nachzudenken, wie gut sie mich wirklich kannte. Wusste ich doch wenig über die Gespräche, die sie noch über Jahre mit meiner Mutter führte. Mutter war nach meinem Auszug in die Fremde wohl so ziemlich die Einzige, welche sich Perditas Seele annahm, als sich ihre Mutter im Suffkopf die Pulsadern aufschnitt.

Auf dem Weg durch die Ausfallstraße der Kreisstadt plärrt mir im Radio einer dieser angesagten Aushilfsrapper ein Loblied auf seinen Benz entgegen. Just in dem Moment, als mein TT etwas unsanft über den Buckel beim Bahnübergang der alten Torfbahn springt und die Federbeine in den Lagerbuchsen ächzen. Ein Anflug von Leichtigkeit und auch Leichtsinnigkeit erfasst mich und so gebe ich bereits kurz vor der letzten Bake kräftig Gas. Sodass der Mittelmotor aufheult und die Karroserie nach einem großen Satz recht unsanft wieder auf der Fahrbahn aufkommt.
So wie seinerzeit, als wir den sperrigen Achtzylinder des Silberrückens „entliehen“.

Der Silberrücken. So nannte man den alten Gutsherrn hinter der vorgehaltenen Hand. Seine tief in ihm wurzelnde Grobheit verdeckte er gerne mit der Rolle des selbsterklärten Patriarchen. Und er geriete sich in der Rolle des Besitzstandwahrers und Statthalters der alten Werte gegen die sich aufdrängenden Einflüsse der äußeren Welt. Ganz so anders als sein Sohn Michael.
Da war dann diese Sache mit dem Flaschendrehen. Bereits lange vor der Zeit, in der ich selbst dem Ritual beiwohnen durfte, kursierten die wildesten Gerüchte über die Trinkspiele dieses Kreises der Kinder aus gutem Hause. Etwas losmachen bedeutete im Endeffekt, dass so manch braver Hoferbe seinen Leumund und so manches Mädchen aus der Nachbarschaft ihre Unschuld verlor. Wahrheit oder Pflicht…

Wahrheit oder Pflicht. Michael hatte einmal mehr einige Wochen Stubenarrest und Stalldienst hinter sich, als wir uns an diesem einen Abend unweit des Gutshofs in der abgelegenen Scheune des Geestbauerns versammelten. Wir hatten im Dorfkino des Nachbarortes diesen Film „Taxi driver“ gesehen und ich nahm es mit Gleichmut hin, dass die Leute von der Clique scherzhaft versuchten, Vergleiche zwischen dem Irokesenschnitt des Travis Bickle und meiner seinerzeitigen Lockenpracht herzustellen.
„Werd´ blos kein Taxifahrer!“ grölten mir die Jungs aus der Siedlung noch beim Verlassen des Kinos hinterher. Und Michael dröhnte den Kerlen mit einem Augenzwinkern nur zu:
„Und wenn ihr die ersten Fahrgäste seit: Zieht euch warm an!“

„Komm mit!“, zwinkerte mir Michael zu und Perdita nickte zustimmend. Wieso auch nicht, dachte ich mir…
Auf dem Weg zur Scheune drückten wir uns verstohlen am Vierliterboliden des Silberrückens vorbei, welcher sich gleich einem Mahnmal unserer nächtlichen Konspiration entgegenzustellen schien. Gelächter keimte auf, als der Junge vom Geestbauern seine Notdurft am linken Hinterreifen des V-8´ers verrichtete und mir zubrüllte, dass mein erstes Taxi nunmehr getauft sei.
Die bereits säuberlich auf dem freigelegten Scheunenboden plazierten Kisten mit Apfelkorn und Doppelkorn vermittelten die Aura einer Inszenierung. Wenngleich die hastig angeschalteten Wärmelampen aus den Kälberstellplätzen kaum etwas gegen den eisigen Wind ausrichten konnten, der durch sämtliche Ritzen der Scheune presste. Perdita und Michaels aktuelle Flamme streiften schnell bereit liegende Wolldecken über ihre zitternden Körper. Wir Kerle begnügten uns damit, die ersten drei Flaschen Doppelkorn durch unsere Kehlen zu jagen. Die erste Flasche flog dann in hohem Bogen durch das zersplitterte Scheunenfenster, die letzte landete dann mitten im Kreis der Anwesenden.

Das Spiel begann. Und die Eröffnung erstreckte sich mit kindischen Aufgaben von Zeigen und Sehen, die sich zunächst größtenteils auf das vielleicht 15-jährige Mädchen aus der Kreisstadt konzentrierten, die Michael vor ein paar Wochen in der Diskothek abschleppte. Bereits stark angetrunken gewährte die Kleine Einblicke, welche bei uns Kerlen die bereits vom Doppelkorn erhitzten Gesichter und Gemüter zum Glühen brachten und sogar Perdita in Staunen versetzte.
Lallig kichernd bemächtigte die Kleine sich dann irgendwann der Flasche und gab die Aufgabe aus, dass der Verlierer dann alle als „Taxi driver“ nachhause bringen müsse. Sprachs und ließ die Flasche drehen, welche dann genau zwischen Michael und mir zum Stehen kam.

Wahrheit oder Pflicht. In der sichtlich aufgeheizten Stimmung blickte ich in die zunächst fassungslose Miene Michaels, welche von einem Moment zum nächsten in ein verschmitztes Lächeln umschlug.
„Das Taxi steht ja bereits draußen!“,
gröhlte Michael in die johlende Menge und sprang mit einer Handbewegung auf, die alle anderen veranlasste, ihm zu folgen. Nur begleitet von Getuschel und mühsam unterdrücktem Gelächter pirschten wir uns im spärlichen Licht der Hofbeleuchtung an das Vierliterheiligtum heran, welches einem unausgesprochenen Gesetz folgend nur für die Hände des Silberrückens bestimmt war. Ein zögerlicher Blick begegnete mir, als Michael seinen Kopf aus der halb geöffneten Fahrertür zog.
„Alter- was ist denn das für eine Gangschaltung?“

„Mann- das ist ein Automatikgetriebe!“,
fuhr ich Michael an. Mein Blick wechselte zwischen dem noch dunklen Schlafzimmerfenster seiner Eltern, Michael und den mittlerweile ängstlich um den V-8 Stehenden hin und her. Michael machte keine Anstalten, auf dem Fahrersitz des über 200 PS starken Kleinods seines Vaters Platz zu nehmen. Unschlüssig blickten wir uns an, als die beiden anderen Kerle mit einem „Wir sind da ´raus“, das Weite suchten. Anders als die beiden Mädels, die sich fröstelnd und kichernd bereits im Fond des Wagens breitgemacht hatten und die Flasche kreisen ließen.
Frech grinste mich Michael an. Wusste er doch, dass der Radlader, mit welchem ich seit zwei Jahren zuhause Vadders Viehtransporter von Streu und all dem entlud, was sich nach einer Tagestour mit Lebendgut noch so auf der Ladefläche anfand, über ein Automatikgetriebe verfügte.
Bevor ich mich versah, hechtete Michael um das Auto herum und schmiss sich in den Beifahrersitz. Durch die noch halboffene Fahrertür schallte mir ein
„Alter- was ist?“,
entgegen und so fand ich mich augenblicklich vor einem massiven Lederlenkrad und einem steckenden Zündschlüssel wieder. Just in dem Moment, als ich den Zündschlüssel drehte, sprang im Schlafzimmer des Silberrückens das Licht an und löste in Michaels Augen einen Anflug von gleichzeitiger Panik und Entschlossenheit aus. Auf sein
„ Alter, gib Gas!“
erwachte ein Fauchen, welches im Vergleich zum Brummen des Deutz-Radladers zu einem Orkan anschwoll.
Mein fehlendes Gefühl für das Gaspedal katapultierte die über 200 PS mit einem lauten Scheppern über den Buckel an der Hofeinfahrt und ich hatte Mühe, den V-8´er kurz vor den auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite aufstrebenden Hainbuchen abzufangen. Während die beiden Frauen krampfhaft versuchten, mit ihren Händen im Fond irgendwie Halt zu finden, drehte sich Michael im Beifahrersitz und starrte rückwärts gewandt auf den sich rasch entfernenden Vorplatz des Gutshofes. Sich gebannt vergewissernd, dass sich auf dem Gutshof keine Konturen eines massigen Körpers abzeichneten, stimmte er ein Triumphgeheul an, in welches die Ladies einstimmten.

Der Traum vom Fliegen. Auf der langen Gerade der Kreisstraße dauerte es nur Sekunden, den Widerstreit zwischen Geschwindigkeit und Entfernung zugunsten des opulenten Drehzahlbandes aufzuheben. Der Schub des Achtzylinders drückte uns in die Sitze, sodass ich Mühe hatte, mich irgendwie am Lenkrad festzuhalten. In einer halben Minute zerrann das, was ich ansonsten mit meinem Fahrrad in gut fünf Minuten zurücklegte, in wenigen Atemzügen. Diese nur gefüllt von verfließenen Bildern und Stoßseufzern. Mit einem Seitenblick in den Innenspiegel erfasste ich die gespreitzten Beine der Fünfzehnjährigen, die mit aller Macht versuchte, mit den Beinen irgendwie Halt im Fond zu finden und ihr hochgeschobenes Minkleid dabei ungeniert den Blick auf einen Slip mit einem geschmacklosen Muster mit Comicfiguren freigab.
Kurz bevor die gut zwei Tonnen Stahl und Plastik mit gut 160 Sachen auf die Nadelkurve beim Dorfkrug zurasten, tönte Michael durch eine aufgerollte Zeitung in das Gelächter der Fondpassagiere:
„ Sehr geehrte Fluggäste. In wenigen Augenblicken erreichen wir unsere vorgesehene Flughöhe. Pilot und Besatzung wünschen ihnen einen angenehmen Flug.“

Im letzten Moment schießt mir der Gedanke in den Kopf, dass in diesen Nachtstunden regelmäßig ein Streifenwagen aus der Kreisstadt am Dorfkrug Position bezog, um die Halbstarken der Umgebung mit ihren frisierten Mofas abzufangen. Ein behender Tritt auf das massige Bremspedal drückte die Damen im Fond recht unsanft an die Vordersitze, während Michael sich mit Macht gegen die auf ihn zurasende Frontscheibe stützte.
Ein beherzter Ruck an der Servolenkung und wir fanden uns auf dem Parallelweg wieder, der die „Siedlung“ mit der Kreisstraße und dem Autobahnzubringer verband.
Mühsam versuchte ich im Lichtkegel der Scheinwerfer eine gerade Linie auf dem Plattenweg zu finden, während eine Schnapsflasche im Wagen kreiste. Mehr schlecht als recht gelang mir das, zumal die Bodenwellen in Höhe des Buchenwaldes den Wagen immer wieder aus der Spur brachten und die Köpfe der Insassen in bedenkliche Nähe des Wagendachs katapultierten.
Die in den Straßenkörper hineinragenden Kolben des angrenzenden Maisfeldes klopften, nein polterten an den Wagenscheiben entlang und mir wird übel, als ein tief hängender Ast den Spiegel auf der Beifahrerseite abreist. Unwillig schüttelte ich den Kopf, als Michael mir die halbgeleerte Schnapsflasche vor die Nase hielt. Er zuckte mit den Schultern, aber folgte bereitwillig meiner mühsam herausgepressten Ansage, den Sicherheitsgurt anzulegen.
Hinter der Siedlung öffnete sich das Land und mit bloßem Auge konnte man bereits die Straßenbeleuchtung des Autobahnzubringers erkennen. Ich drückte nochmals das Gaspedal herunter. Dieses begleitet mit einem Aufheulen des Motors und vom Wolfsgeheul Michaels, welches nur durch ein periodisches
„Alter…Alter… Wie geil ist das denn!“,
durchbrochen wird. Ich bremste erst ab, als das schräge Schrietzen am Unterboden die Gewissheit verschaffte, dass auch die Auspuffanlage eine Liaison mit der heimischen Scholle einging.
Als ich den Wagen in Schrittgeschwindigkeit an der Verkehrsinsel vor dem Autobahnzubringer heranführte, beugte sich Michael zu mir herüber, um in meinen aufgerissenen Augen Antworten zu suchen, die es nicht gab.
„Na Alter- haste Schiss?“

Unruhe kam auf den Hintersitzen auf. Perdita drängte zwischen den Vordersitzen hervor und deckte Michael mit Vorhaltungen zu, dass er seine launenhaften Spielchen nicht auf unseren Rücken austragen sollte. Ich zuckte mit den Achseln und warf Michael nur einen kurzen Seitenblick zu.
„Wie schnell ist der Hobel eigentlich?“

Ohne auf die Protest der Damen einzugehen, grinste mich Michael nur mit einem Achselzucken an. Die Autobahn war nur einen gefühlten Katzensprung entfernt…

©Einar_VonPhylen 041020


*zwinker*

7. Abteilung: Die Geheimniskrämer
Auf dem Marktplatz der Begehrlichkeiten haben die Geheimniskrämer immer die ausgeglichensten Bilanzen.
Von der Verbindungsstraße der Kreisstadt zum Dorf war es nur ein Schlenker in den Parallelweg, welcher direkt an meinem Elternhaus vorbeiführt.
Die Gemeinde ließ sich seinerzeit nicht lumpen, als ich wir uns zum Verkauf des Elterngrundstücks entschieden. Mutter hatte nach ihrem Schlaganfall die letzten Jahre ohnehin eine kleine Stadtwohnung unweit der Stadtbibliothek bezogen, um ihren müden Beinen den weiten Weg in die Stadt zu ersparen. Und als der damalige Bürgermeister das gesamte Brachland hinter unserem Grundstück als Bauerwartungsland ausweisen ließ, unterbreitete er uns in seiner Amtseigenschaft und als zufällig größter Bauunternehmer der Gegend ein Angebot, dass selbst meine Mutter in Erstaunen versetzte.
Die Landstelle vermittelte in den Folgejahren den Eindruck eines ständigen Kommen und Gehens. Mir war durchaus zu Ohren gekommen, dass die gesamte Hofstelle mit Ausnahme des Wohnhauses und des Vorhofes aufgeteilt und bis in die Moorsenke mit schicken Einliegerhäusern bebaut wurde. Und das Wohnhaus im ständigen Wechsel mal an diesem oder jenen verpachtet wurde.

Dort, wo in meinen Kindheitstagen der Stall für die Sauen stand, reckt sich hinter einer Palisadenhecke ein Spielturm auf. Hinter der trostlos wirkenden Hausfassade der Kate breitet sich wucherndes Unkraut aus, welches die wahllos um das Wohnhaus verstreuten Schrottautos und rostigen Haushaltsgeräte mehr schlecht als recht verdeckt. Das erste Aufatmen über die Gewissheit, dass zumindest die Kate nach wie vor noch an ihrem Platz steht, relativiert sich an den aus den Angeln gehobenen Fensterläden und morschen Fenstern, die scheinbar seit Äonen weder Farbe noch einen Putzlappen gesehen haben. Mir scheint es so, als wenn die Hauswand mich in stummer Anklage mit herunterhängenden Mundwinkeln anstiert. Auch ohne das überall wuchernde Bilsenkraut verbreitet die Aura bei mir aufsteigende Übelkeit.
Meine Gedankenversunkenheit wird gestört, als ein sichtlich verwahrloster Kerl mit zerzausten Haaren und in Jogginghosen auf das Gartentor zugeht und mich mit einem feindlichen Gesichtsausdruck mustert.
Ich tröste mich damit, dass Erinnerungen unveräußerliche Landschaften sind. Beim Starten des Wagens reift der Entschluss, den Eindruck der letzten halben Stunde tief in mir zu vergraben und weder Perdita noch einer anderen Menschenseele davon zu erzählen. Ehrensache- versteht sich das Überleben im dörflichen Mikrokosmos doch auch in der Kunst des Geheimniskrämerns.

Was ist nun das Besondere am Geheimniskrämern. Nun- zunächst vielleicht die Abgrenzung von diesen Angeboten auf dem Schwarzmarkt. Und der Schulterschluss in Verschwiegenheit. Es mag dann durchaus nicht glänzen, was da so zum Vorschein kommt.
Zudem: Einmal ist Kainsmal.
Jeder wusste vom anderen, wenn es dann mal zuhause lange Ohren gab. Perdita und einige Mitschülerinnen waren neben uns Bauerlümmeln von den verstreuten Höfen da keine Ausnahme. Man sah es am Folgetag dann allenfalls an diesen verzagten Gesichtern und der verkrampften Haltung auf den unförmigen Holzstühlen in der Klasse an. Oder an den unnatürlichen Verrenkungen im Turnunterricht. Man schwieg es dann am besten weg. Lediglich die Klassenlehrerin oder der Sportlehrer merkten kurz mit den Augenbrauen auf und nahmen uns dann nicht so in die Pflicht. Das wars.
Wenn mich etwas von den anderen in der Klasse unterschied, dann war es vielleicht mein trotziger Gesichtsausdruck, wenn ich mal wieder mit einem blauen Auge aufrecht sitzend in der Klasse saß. Es gab zwar kaum etwas zu lachen, aber zu heulen gab es erst recht nichts. Wieso auch? Früh hatte mir Mutter eingebläut, dass ich mich weder dafür schämen muss, woher ich komme, noch wohin ich gehe.
Auch wenn es sich kaum einrichten ließ- ab und an begegnete man einer oder einem Gleichgesinnten. So wie Michael, der uns nach unserer nächtlichen Spritztour seine gebrochene Nase stolz präsentierte und für mich dann jedes Mal, wenn wir uns über den Weg liefen, ein Augenzwinkern übrig hatte.
Als er mich durch seinen Gesichtsverband anzwinkerte, dämmerte mir noch nicht, dass ich an diesem Tag den Staffelstab des Dorffreaks an Michael weiterreichte. Und das für den Rest seines verlausten Lebens…

©Einar_VonPhylen 041020

8. Abteilung: Drachenherz

Flaschendrehen. Die Unruhe im Fahrgastraum wich einem fassungslosen Staunen, als die 4,2 l Hubraum alles gaben, um uns in einer lächerlichen Zeitspanne auf der Autobahn bis kurz vor die holländische Grenze zu katapultieren. Ungläubig wähnten wir uns in einer Zeitmaschine, welche bei Tempo 240 die Relationen von Masse und Zeit schlichtweg aus den Angeln zu heben schien. Schweigend klebten die anderen an den Fenstern, um im Spiel von sich mischenden Bildern und Lichtern auch keinen einzigen Moment zu verpassen. Mein staunender Blick wechselte nahezu sekündlich von der Tachometeranzeige und dem vor mir liegenden Tunnel, der sich mit zunehmender Geschwindigkeit zusehends verengte und zu einem Wurmloch zu stauchen schien.
Kurz vor Weener* war Pinkelpause angesagt und ich nutzte die Gelegenheit, mich hinter einer Reklamewand zu übergeben. Eine nüchterne Abgeklärtheit breitete sich auf dem Rückweg aus, sodass die beiden Ladies irgendwann auf den Rücksitzen einschliefen.

Mit einem zufriedenen Grinsen nickte Michael mir zu, als der Wagen vom Zubringer wieder auf den Parallelweg schlich. Von den Rändern des östlichen Firmaments kündigte sich das Licht des keimenden Tages an. Gerade rechtzeitig, da sich unsere müden Augen nach bildgebenden Einflüssen verzehrten, die sich von der Schwärze der Nacht und des Asphalts abhoben.
Durch den Bodennebel der Senke hinter dem Geestrücken stierten mir unvermittelt die Augen eines Drachen entgegen, der sich mehr und mehr auf den Wagen zubewegte. Die Augen des Drachen vemittelten einerseits die Gewissheit nahenden Unheils und doch die Wahrnehmung von etwas merkwürdig Vertrautem.
Bevor ich die Situation richtig einordnen konnte, gröhlte Michael
„Scheiße, Gegenverkehr!“,
in den Fahrgastraum. Im selben Moment, als ich in den Augen des Drachen die so vertrauten Scheinwerfer eines Viehtransporters erkannte…
Müde waren nicht nur die Augen und so verfehlte ich den Schwenk in die links liegende Einmündung zur Kreisstraße. Sodass mir nur verblieb, das Lenkrad ruckartig herumzureißen und die gut zwei Tonnen Stahl in den dahinter liegenden Stichweg zu den Weideflächen schießen zu lassen. Ein heftiges Rumpeln und Krachen begleitete die Schussfahrt durch den Wirtschaftsweg. Danach ein plötzliches Abtauchen ins Nichts und ahnungslose Stille.

Als mein Ich sich von der Dunkelheit löste, stierte ich in die ausdruckslosen Augen einer Schwarzbunten, welche unschlüssig die obskure Gesellschaft hinter dem Wagenfenster und einem durchbrochenen Weidegatter musterte. Mein Kopf dröhnte und etwas Heißes breitete sich entlang meines Schädels und über das Lenkrad aus.
Michael war damit beschäftigt, mit einem Ruck die verzogene Beifahrertür aufzudrücken. Sein Anstemmen gegen die unwillige Tür war begleitet vom Erwachen der Frauen und dem hysterischen Befehl Michaels:
„Raus hier und schnapp dir ein Mädel!“

Perdita war noch sichtlich benommen, als ich sie vom Rücksitz zog und mehr halbherzig schulterte, um sie in den nahegelegenen Buchenhain zu bugsieren. Schweigend und keuchend stolperten wir durchs Unterholz, bis wir keine Geräusche mehr von der nahegelegenen Straße vernehmen konnten.
Das Dröhnen in meinem Kopf wechselte zu einem anschwellenden Brennen und der aufkommende Schwindel zwang mich, inne zuhalten und mich keuchend an einem Baumstamm abzustützen. Ehe ich es realisierte, beugte sich Perdita mit einem gezückten Taschentuch zu mir und tupfte wie eine Wahnsinnige mein halbes Gesicht ab, bis die Blutung stockte. Ich ließ sie gewähren und stütze mich mit ausgebreiteten Beinen am Baumstamm ab, der uns ausreichend Deckung und Halt zu geben schien. Als ich dann versuchte, Perditas sorgenvolle Miene mit einem Lächeln zu beschwichtigen, fiel mein Blick auf die aufgerissene Bluse, welchen einen nahezu ungeschützten Blick auf Perditas schneeweiße Haut und die Gurtprellmarken quer über ihre freiliegenden Brüste freigab. Unsere Blicke begegneten sich und unsere Gesichter kamen sich so nahe, dass mir ihre beträchtliche Alkoholfahne entgegenschlug.
Etwas wandelte sich urplötzlich in ihrer Aura und es breitete sich ein Ausdruck in ihren Augen aus, den ich bisher noch nie bei ihr so bewusst wahrgenommen hatte. Vorsichtig und leicht wankend tastete sie meinen Leib herunter. Scheinbar sich davon überzeugend, dass ich nicht mehr abbekommen hatte als diese blöde Schramme am Kopf. Ich stützte ihren noch wankenden Körper sanft ab und als sie meine Hose öffnete, vermochte ich nicht auszumachen, weswegen sich dieses seltsame Schwindelgefühl immer mehr meines Bewusstseins bemächtigte…

Ein Kitzeln ließ mich aufschrecken, als ich mich auf dem Rücken liegend auf dem Waldboden wiederfand. Perditas blonde Haarsträhne streichte über mein Gesicht und ihr leicht panischer Gesichtsausdruck wechselte sekündlich zu einem breiten Grinsen.
„ Hey-so ein Kompliment ist mir auch noch nie untergekommen. Du warst für ein paar Minuten richtig weg vom Fenster. Bisher ist mir das dabei noch nie untergekommen.“

Ich blickte an mir herunter um mich davon zu vergewissern, dass ihre Körperwärme meine untere Hemisphäre gegen den den feuchtkalten Nebel abschirmte, welcher unerbittlich durch den Wald zog. Ihre prallen Brüste legten sich auf meinen freigelegten Oberkörper und es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass ihre zarte, weiße Haut die Leichendecke für meine jugendliche Unschuld war.
Ihr Blick folgte dem meinem und ihr zunächst seliges Lächeln schlug augenblicklich in einen verzweifelten Gesichtsausdruck um, als Perdita an ihrer zerfetzen Bluse und dem diagonalen Riss in ihrem Minirock herunterblickte.
„ Mist- so kann ich nicht zuhause aufschlagen.“

Mein Verstand schien wieder aufzuklaren, als wir unsere noch leicht schwankenden Leiber vorsichtig aufrichteten und ich in Perditas verzweifeltes Gesicht sah.
„ Komm mit zu mir. Mutter wird bestimmt etwas einfallen und dann sehen wir weiter.“

Ohne dass sich diese tief in ihr wuchernde innere Verzweiflung zu lösen schien, fügte sich Perdita und nickte mir mit einem Ausdruck von Ratlosigkeit zu.
„ Gut, dass du nach der Aktion schon wieder einen klaren Gedanken fassen kannst. Naja- wenn du scheinbar auch die Leber deines Vaters hast, so hast du doch den Kopf deiner Mutter.“
Schweigend stolperten wir durch das Unterholz und den Nebel, welcher selbst die Kreisstraße mit eisigen Klauen umklammerte. Perditas Hand suchte nach meiner und ließ erst los, als ich das halb geöffnete Fenster meiner Kammer aufhebelte und sie über die Fensterleibung in mein Schlafzimmer hob. Stille umgab mich, nachdem ich Perdita mit einer Wolldecke zudeckte und in meinem Sessel ihren langsam werdenden Atemzügen lauschte...

Es bedarf schon eines Drachenherzens, um der Magie der Geheimnisse nicht die Kleider zu entreißen und der Nacktheit der Verzweiflung preis zugeben.
Schweigend begegne ich Perditas Blick, als sie mir von den Schweinmastställen kommend entgegeneilt. Sie hatte sich mittlerweile angewöhnt, alle paar Stunden in den Viehställen nach dem Rechten zu sehen. Was angezeigt schien- tauchten doch in letzter Zeit häufiger Tierschützer in der Gegend auf, um aus gutem Grund in die umliegenden Agrarfabriken einzudringen, die seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen.
Sie mustert mich und ein besorgter Ausdruck verharrt auf meiner desillusionierten Miene. Über ihr zorngetrübtes Gesicht gleitet ein Moment von Milde und sie fährt sanft mit einer Hand über meine Wangen.
„ Hebb ick mi doch dacht, dass du nach dien Ellerhus nachlurst*.“

Und sie setzt noch einen ´drauf, als unser Blick später von der Terrasse über die Mastställe und das Außendeichgelände bist zum Vorfluter des Siels reicht:
„Selbst wenn es verloren ist, hängt man ja irgendwie daran…“

Ich spare mir die Frage weg, was Perdita noch hält. Weiß ich doch, dass es an für sich nichts mehr gibt, was sie vom Aufbruch abhalten könnte. Störrisch, wie der alte Silberrücken nun mal war, hatte er sich zeitlebends dagegen gesträubt, dass Perdita auch nur ein Morgen Land des Landgutes überschrieben wird.

Perdita mustert mich bereits seit Minuten mit einem sorgenvollen Blick von der Seite, bevor sich eine Frage Bahn bricht.
„Sag mal- wie ist eigentlich dieses Gefühl, wenn man das Zuhause unwiederbringlich verliert?“
Nach einem ersten Stutzen erinnere ich mich an denselben besorgten Blick Perditas, als sie nach meinem heutigen Abstecher in die Moorsiedlung meine fassungslose Miene musterte.
„ Kann ich dir gar nicht sagen. Ich denke, Heimat trägt man irgendwie in sich. Gewachsene Fundamente messen sich wohl kaum nach Fassaden oder Landmarken, die allenfalls den Launen der Zeit und der Menschen unterworfen sind. Aber keine Sorge: Ich bin mit den heutigen Bildern der Moorseite im Reinen. “

Freihängende Wurzeln entwickeln immer ein Gespür für lockeren Boden, der sich des Haltens verweigert. An für sich bin ich vielleicht auch der Letzte, der auf Perditas Frage eine plausible Antwort geben kann. Und so erwische ich mich bei einem schon fast debilen Lächeln, als ich in ihre fragenden Augen blicke. Meine Hand wandert instinktiv zu Perditas Händen, die in ihrem Schoß ruhen.
Perdita beugt sich etwas vor, sodass diese eine blonde Haarsträhne wieder neckisch über ihre linke Gesichtshälfte streicht. Sie drückt meine Hand und schiebt sie andächtig auf ihre Schenkelinnenseite, bevor sie ihren Kopf auf meine Schulter stützt.
„Blievst noch ´nen beten?“

(…)
©Einar_VonPhylen 091020

Fußnote:
• nachlurst: => (heimlich) nachschauen
• Tied dodslann: => (sinngemäß) Zeit totschlagen
• Weener: Ort in Ostfriesland westlich von Leer

**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
9. Abteilung: Näherungswaisen

So viele Fremdsprachen. Wenn man lernt, mit vielen Stimmen zu sprechen, läuft man zwangsläufig Gefahr, die eigene Sprache zu verlieren.
Perditas helles Lachen spritzt mir in dieser Abendstunde das erste Mal entgegen, als ich versuche, in unserem ständigen Wechsel vom Hoch- zum Plattdeutsch Tante Sophias schlesischen Dialekt nachzuäffen.
Hochdeutsche Laute hatten hier östlich der Kreisstraße halt immer etwas Fremdes und Unheilvolles an sich. Die Moorsiedlung war immer umgarnt vom Mythos der Unberührbaren und Ausgestoßenen. Dunkel und erdig waren die Kartoffeln, die man aus dem nassen und schweren Boden hervor zog. Die Kartoffelschalen mit einer Zentimeter dicken Schicht nachtschwarzer Erde überzogen. Sodass man die Kartoffeln vor dem Schälen oftmals minutenlang abbürsten musste, bevor die blassgelben Früchte im siedenden Wasser aus den brackigen Brunnen tanzen konnten. Was davon übrig blieb, war oftmals nicht mehr als dieses schwere Gefühl im Magen und die dunklen Ränder unter den Fingerkuppen.
Was die Erde hergab, war geprägt vom Schatten eines scheinbar alles verzehrenden Moorbodens, welcher die dunklen Knollen umklammerte und aus seinen unsichtbaren Klauen nur widerwillig herauszugeben schien. Ein Format, welches sich in den Gesichtern und den Seelen der „Lü vom Moor“ wiederfand und sich eines ungeschriebenen Gesetzes folgend wohl seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitervererbte. Man wusste, woran man war.

Unter den Alten kursierten wilde Geschichten über das entseelte Land, welches sich östlich der Kreisstraße in einer mehrere Hektar großen Moorsenke verlor. Die ganz Alten kolportierten Geschichten von Sumpfgeistern aus alter Zeit, welche Wanderern am Domaring* des Hünengrabes auflauerten, um sie abseits der Pfade dann in die Tiefen der unzähligen Moortümpel zu locken. Vom Geist des Gendarmen, der kurz nach den napoleonischen Befreiungskriegen von marodierenden Viehdieben erschlagen wurde und dessen Seele an Neumondnächten verzweifelt nach seinem Körper suchte, welchen die Viehdiebe achtlos in einen der Weiher warfen.

Unsere Kate stand am äußersten Rand der Moorsiedlung. Nur unweit der Flakstellung, die im Krieg am Rand des Birkenhains im Moorboden eingegraben war. Umsäumt von zwei Flakscheinwerfern, welche dann den englischen Bombern Lichtnasen entgegenstreckten und unbeabsichtigt den Weg zum südlich gelegenen Marinestützpunkt wiesen. Bis auf den riesigen Bombentrichter einer englischen Luftmine, welche dann Ende ´44 die Stellung einschließlich Bunker und Mannschaft wegrasierte, wies nahezu nichts mehr auf dieses Relikt aus dunkler Zeit hin. Heimlich mussten wir dort spielen. Verboten unsere Mütter doch eindringlich, auch nur in der Nähe der Senke herumzustreunen, in der die kindlichen Seelen der vielleicht 15-jährigen Flakhelfer noch zwischen den Granaten des 8,8-cm Geschützes nach ihren zerfetzen Leibern suchten.

Perditas Wirklichkeit war da von einem ganz anderen Kaliber. Westlich der Kreisstraße erstreckte sich „De Siedlung“, in welcher seit den frühen Siebzigern säuberlich parzelliert schicke Bungalows Haus an Haus, Reihe um Reihe aus dem Geestboden wuchsen.
Anders als meine allem Neuem aufgeschlossenen Mutter begegnete Vadder wie so viele aus dem Dorf den Neusiedlern mit Argwohn. Vadder räsonierte immer mit einem Anflug von Verachtung über die Siedlung, welche vorgeblich nie die Sonne und der Atem der Jahreszeiten zu erreichen schien. Obgleich Vaddern immer schwieg und allenfalls abwiegelte, wenn die Altvorderen in der Dorfkneipe ihre derben Scherze über die Zugezogenen und deren fehlende Wertschätzung über die umgreifende Natur und den darauf befindlichen Naturen machten.
Ich glaubte Vaddern seinerzeit- erinnerte ich mich doch an seine Sprüche, als Perdita in der zweiten Grundschulklasse ein Bild malte, in welchem die Sonne ihre Zacken verlor. Ein Bild, als habe die Sonne Haarausfall. Außer meinem Aufmerken und dem Gejohle der Mitschüler brachte diese Zeichnung Perdita indes nur wenig Beifall, sondern nur einen verordneten Besuch bei der Schulpsychologin und eine Einladung der Eltern zu einem Gespräch mit den Lehrkörpern ein. Die Eltern erschienen weder zu dem Gespräch noch jemals zu Elternabenden. Und so beließ es die Klassenlehrerin dann immer mit einem wohlwollenden Blick, wenn ihr das schüchterne, nach Anerkennung suchende Lächeln Perditas begegnete.

Die rechte und die linke Seite der Kreisstraße wurden nicht nur getrennt von zwei insgesamt 6, 50 m breiten Richtungsspuren - das waren Welten.
Eher selten verloren sich dann „de schattrieke Lü*“ westlich der Kreisstraße oder von den majestätisch über allem ragenden Warfthöfen in diese Zwischenwelt. In der Regel trieben allenfalls Geschäfte oder Konspiration diese obskure Zwangsgemeinschaft dazu, zwischen den Ortsteilen rechts und links der Kreisstraße zu wechseln.
Eher heimlich stahlen sich dann die Frauen des Ortes und auch zunehmend aus der Kreisstadt kommend zu Tante Sophia, welche mit ihren Kräutermixturen so mancher Frau der Umgebung mit Monatsbeschwerden oder Empfängnislosigkeit Linderung oder Hoffnung verschaffte. Oder den mit gekrümmten Leibern in die Kate stolpernden Landbauern lindernde Umschläge zubereitete, wenn diese mal nicht rechtzeitig den wütenden Hufen oder Hörnern der Mastbullen ausweichen konnten.
Selbst Perditas so standes- und statusbewusste Mutter stahl sich so manchen Herbstnachmittag regelmäßig in Sophias abgelegene, dem Birkenwald zugewandte Kate. Perditas Mutter begegnete mir dann anfangs immer zaudernd und mit einem angsterfüllten Blick, wenn ich auftrags meines Vaters oder des Wirts vom Dorfkrug mit geheimnisvoll wirkenden Paketen oder einem Korb mit frischen Nahrungsmitteln unbedarft in den düster wirkenden Hauptraum der Kate reinplatzte.
Sophia schob mich dann immer recht schnell in den fensterlosen Vorraum und drückte mir mit einer zurückweisenden, wenngleich auch gütigen Geste einen Weidenkorb in die Hand.
„Nee, Jung- ich hebb för hüüt kiene Tied. Luurst* mal nach buten- de Schlehen sünd sowiet!“

Im Herausgehen vernahm ich dann immer die beruhigende Stimme Sophias, welche dann in ihrem schlesischen Dialekt auf Perditas Mutter einredete.
„ Mach dich keene Sorjen, meen Kind. Det Jüngche hett ejn Gespihr dafihr, wann de Mund geöffnet und wenn eh geschlossen sejn miss.“
Noch von den unweit der Kate gelegenen Schlehdornhecken hörte ich dann die angstdurchsetzte Wehklage Perditas Mutter, deren Unterleib durch die Endometriose und von den unzähligen, stetig ihren weiblichen Leib aufzehrenden Operationen im Kreiskrankenhaus von Narben zerklüftet war.
Perdita hatte ich nach der Grundschulzeit nahezu vollkommen aus den Augen verloren. Sie trieb sich mit den Siedlungskindern herum, während ich es eher mit Gleichgesinnten hielt. Begegnungen ergaben sich regelmäßig nur dann, wenn ich Perdita vor dem Schulbus oder in Unterrichtspausen wortlos eine der Phiolen in die Hand drückte, die Sophia mir mit einer ihrer Tinkturen für Perditas Mutter auf den Weg gab.
Über die „Hex von fleegende Kamp“ kursierten regelmäßig verächtliche Witze und noch abenteuerlichere Gerüchte. Wenn sich aber Sophia dann und wann aus dem Moor heraustraute, dann begegnete ausnahmslos alles und jeder dieser schweigsamen Alten mit dem versteinerten, ständig harten Ausdruck im Gesicht mit Respekt. Das lernten selbst wir Kinder recht schnell. So unheimlich die Aura auch war, welche meine Großtante ausströmte- Perdita nickte mir dann nur schweigend zu, wenn ich verstohlen meinen Botendienst verrichtete.

Die Kreisstraße schien wie eine Verlängerung der Siele, welche das Deichvorland teilten und gleichsam Besitz und Begehrlichkeiten nach willkürlichen Gesetzen verteilte. Wenn man diese auf Asphalt und Schnelligkeit gründende unsichtbare Schwelle überwand, hatte das an für sich immer einen guten Grund.

Ich schreckte nach unserer nächtlichen Spritztour am frühen Morgen auf, als Vadder seine tiefe Stimme im Hausflur erschallen ließ. Etwas stimmte nicht. War es doch ungewöhnlich, ihn in unserer Kate hochdeutsch sprechen zu hören. Nur Momente später lockte mich ein Zwiegespräch in die Küche. Vadder blickte nur kurz auf, als ich ihm gegenüber hockend die massige Erscheinung des Silberrückens erblickte. Wild gestikulierend machte der Silberrücken seinem Unmut Luft über seinen missratenen Sohn, der offensichtlich nächtens den automobilen Traum des Silberrückens im schweren Weideboden versenkte.
Er stockte nur kurz, als er sich dem Blickimpuls meines Vaters folgend zu mir umdrehte, mich argwöhnisch musterte und beinahe hysterisch ausrief:
„Der Nichtsnutz war nicht allein im Wagen!“ Und mit einem Seitenblick zu Vaddern zischte:
„ Was hat denn dein Junge letzte Nacht so getrieben?“

Mein Atem stockte und begegnete einem fragenden Ausdruck in Vadderns Miene. Just im selben Moment, als sich Perdita in Mutters Morgenmantel in den Türrahmen schlich und den Silberrücken frech angrinste.
„Wir waren gestern im Kino.“
Und bevor der sichtlich erstaunte Silberrücken etwas erwidern konnte, verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust.
„Und was den Rest des Abends angeht: Dat geiht dih een Schietkraam an!“

Für Sekunden legte sich eine ahnungsvolle Stille in die Küche. Und es breitete sich allmählich ein Grinsen auf Vadderns Gesicht aus, welcher mir dann zunickte.
„ Na Jung- dann treck di man an und föhr mal de Radlader ut de Scheun. Wie möht wohl de Benz vom Godsherrn ut de Schiet trecken.“

Bevor Perdita abdrehte und sich wieder in meine Kammer schlich, begegneten sich unsere Blicke. Ungezählte Inseln glitzerten in unseren Augen. Begleitet von der Logik des gleichen Klangs. Und verloren sich doch über die Monate zusehends bis zu diesem verfluchten Spätsommer meines Aufbruchs. Leidenschaften- so scheint es- beherbergen immer etwas von Ungerechtigkeit und Unwägbarkeit.

Ungezählte Inseln glitzern wieder in Perditas Augen, als mir auf der Terrasse ihr helles Lachen entgegen schlägt. Und wechselt in ein fast kindliches Erstaunen, als ich Perdita diesen einen Ohrring entgegenstrecke, den ich seinerzeit beim Herausschleppen des demolierten V-8´ers noch heimlich von dessen Rücksitzbank hervorklaubte. Und diesen über Jahrzehnte in meiner jeweiligen Brieftasche verbarg. Ein weiteres Lachen blitzt in ihrer Miene auf und mündet in ein ungläubiges Kopfschütteln.
„Gott- den hast du noch aufbewahrt?“

Sie richtet sich von der Sitzbank auf, welche auf der Terrasse einen weiten Blick in das Vordeichgelände bietet. Im Aufstehen reicht sie mir die Hand zu, um mich mit in das Gutshaus zu ziehen. Ihre Hände zerren mich regelrecht hinein und als sie meinem unschlüssigen Blick begegnet, nickt sie mir aufmunternd zu:
„Ich habe da auch noch etwas für dich…“

©Einar_VonPhylen 061020

Fußnote:
• Domaring: Steinkreis (größtenteils aus menolithischer Zeit)


10. Abteilung: Kupfermünzen im Roggenfeld

Ich muss eingeschlafen sein, als ich mich auf dem alten Chippendalesofa wiederfinde, welches seit Menschengedenken Blickfang und Sammelpunkt der „goden Stuuf“* des Gutshauses ist. Mein Blick wandert und verfängt sich zunächst auf den opulent ausgemalten Motiven der Delfter Kacheln aus dem 18. Jahrhundert, welche rechts und links aufsteigend neben dem mittlerweile erkalteten Kamin Geschichten von stolzen Walfangschiffen und reicher Beute erzählen. Stille Zeugen einer Zeit, in der es bereits ein Zeichen von Reichtum war, wenn die Männer ganzjährig die heimische Scholle bestellen konnten, ohne in der Herbst- und Winterzeit bis an die Packeisgrenze auf das Meer herausfahren zu müssen. Reich machte der satte Kleiboden die sesshaften Marschbauern. Auch wenn die hüfthohen Ränder entlang des Kaminsimses offenbaren, dass die salzige Gischt der tosenden See gerade in den stürmischen Wintermonaten ihre gierigen, grauen Finger regelmäßig bis ins tiefe Hinterland der Marschen ausstreckte und die Fundamente des Gutshofes Flut für Flut aufweichte.

Peditas Hand zuckt im selben Moment zurück, als ich meinen Blick vom Kamin abwende und ihr suchender Blick in ein unschlüssiges, leicht verschämtes Lächeln wechselt.
„ Ich wollte nur schauen, ob da noch die kleine Narbe an deiner Schläfe ist.“
Warm ist ihre Hand, als ich diese wieder sanft zu meinem Kopf führe und den leichten Buckel abtasten lasse. Ein schelmisches Lächeln umspielt Perditas Lippen, als ihre Fingerspitzen über die Unebenheit und ihre Handinnenfläche dann scheinbar gedankenverloren über meine linke Schädelseite reisen. Ein kurzes Moment nur, dann blitzt etwas in ihrer Iris auf. Und mündet in einen leichten Klaps auf meinen Hinterkopf und eine flapsige Bemerkung.

Ich kannte diesen Klaps auf dem Hinterkopf nur zu gut. Dieses zunächst leichte Streichen über den linken Scheitelansatz, mit dem mich Sophia immer ein wenig duckte. Wenn ich ihr triumphierend einen Beutel mit auf dem Weg gepflückten Tollkirschen oder einen Henkelmann* mit frischer, von der letzten Schlachtung gesammelter Schweinegalle entgegenstreckte, gipfelte das regelmäßig in diesen Klaps auf dem Hinterkopf. Dieser immer begleitet von markigen oder für mich seinerzeit unverständlichen Sprüchen.

Die Gemeinsamkeit mit Perdita pendelt zusehendes zwischen nüchterner Obligation und der Reise im unheimlich Heimlichen. Es dauerte dann auch einige Momente, um die Suche nach Gemeinsamkeit von der schalen Gestaltungshoheit des Unveränderlichen herauszulösen.
Vergebens vergeben sein mündet oft in die Gewissheit, Unverzeihliches verzeihen zu müssen.
Zögerlich und stockend kommt ein Redefluss zustande, nachdem mir Perdita eine Abschrift von Michaels Sterbeurkunde überreicht. Für meinen morgigen Banktermin. Ihre Anspannung scheint sich im selben Maße zu lösen wie ihre Zunge. Spüre ich doch ihre Erleichterung, dass ich ihr den für sie erniedrigenden Gang zum größten Gläubiger zu ersparen beabsichtige.
Sie lächelt mich an, als ich ihr vermittele, dass sie sich nicht offenbaren muss in Dingen, die weder spruchreif oder noch in den Verließen unausschöpflicher Sprachlosigkeit gefangen sind.
Ihr leicht erstaunter Blick wechselt zu gespannter Neugier, als ich ihr dann nüchtern und frei jeder Bilanzierung von der verblichenen Existenz eines linearen Lebensentwurfs und meines Sohnes erzähle.
Ein Horizont öffnet sich. Zunächst stockend offenbart sie die Epikrise einer vor sich hinsiechenden Gemeinsamkeit, welche dann an einem Julimorgen an einem Strick in der Scheune sein Ende fand. Sie erzählt von den Nächten, in denen sie sich in Sophias Kate stahl, um nach der vierten Fehlgeburt irgendwie Linderung zu erfahren. Den Wochen, in denen sie sich Sophias Tinkturen anvertraute, um die bösen Geister der Gonorrhoe zu vertreiben, die Michael irgendwo aus einer billigen Absteige mit in das Ehebett schleppte. Und der Nacht, als Sophia ihr nur tief in die entsetzten Augen blickte und schweigend die alte, knorrige Hand zu Perditas Unterleib führte und mit einem wissenden Blick aufblickte. Unerwartete, ja seinerzeit ungewünschte Erfüllung zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Tage, in welchen sie bereits entdeckt hatte, dass sich der Schatten des unwirschen Geistes des Silberrückens ungehindert im Wesen Michaels ausbreitete und die Illusion des Vertraut seins zunehmend in das Gift der Fremdheit tauchte.

Urplötzlich springt sie auf, um für ein paar Minuten in ihrer Kammer zu verschwinden. Um sich in einer Kirschholzschachtel wühlend wieder direkt neben mir am Küchentisch niederzulassen. Sichtlich vertieft, ja entrückt wühlt sie in verblichenen Bildern und abgegriffenen Papierschnipseln herum, bevor sie dann mit einem Ausdruck einer glücklichen Finderin einen Zettel vor mir ausfaltet. Es ist kein Kunststück, Sophias krakelige Handschrift zu entziffern, die sich Zeit ihres Lebens nie so recht zwischen der altdeutschen Schrift und der neuen Schreibweise entscheiden wollte.
Auf dem Zettel stand nur ein Satz:
„Wer nicht bereit ist, sein Leben zu riskieren, hat keine Chance auf das absolute Wissen.“

Ich sehe mich dem fragenden Blick Perditas ausgesetzt, welche meinen fassungslosen Gesichtsausdruck erst auf den zweiten Blick mit einem Anflug aufkeimender Neugier erfasst. Sie mustert mich für die Sekunden, in denen ich zunächst wie hypnotisiert auf den Zettel starre. Es bedarf gewisser Sammlung, bevor ich mich dann mechanisch vorbeuge und aus meiner Brieftasche den Kalenderspruch mit dem gleichlautenden Hegelzitat hervorkrame, den Sophia kurz vor meinem Aufbruch in die Fremde aus ihrem Hauskalender riss und mir schweigend und mit einem unergründlichen Lächeln in die Hand drückte.
Wie zweieige Zwillinge breiten sich der Zettel und das Kalenderblatt vor unseren ungläubigen Augen aus. Uns stockt der Atem- mochte doch bereits ein leichter Luftzug genügen, um die Zweisamkeit dieser ungleichen Geschwister auseinanderzureißen und diese dann über die Fläche des schweren Eichenholztisches treiben zu lassen.
Genauso wenig, wie die unscheinbare Gestalt der papiernen Zeugen irgendetwas von den tieferen Motiven und den Intentionen preisgeben wollten, jahrzehntelang unwissend an vollkommen verschiedenen Orten und Möglichkeiten zu siedeln, verschließt sich uns der tiefere Sinn des Zitats und der ganz ureigenen Sinngebung ihrer papiernen Existenz.

Wie Kupfermünzen im Roggenfeld ruhten und reisten diese ungleichen Geschwister durch die Zeit und die dunkle Materie des nicht voneinander Wissens.
Sichtlich erstaunt starren wir beide auf diese ungleichen Geschwister. Gemeinsam und auch jeder für sich allein mit den unlösbaren Fragen konfrontiert, welche auf diesen Zetteln keinen Platz mehr geschweige denn Antworten zu finden scheinen.

Minutenlang wechselt mein Blick zwischen dem Zettelwerk und den sich zusehends mit Tränen füllenden Augen Perditas. Als ich dann mehr aus einem Impuls von Hilflosigkeit ihre Hände umklammere, stößt es aus Perditas gleichsam fassungslos heraus:
„Was haben wir nur getan…? Beziehungsweise: Was haben wir unterlassen?“

Bevor ich mich sammeln und antworten kann, springt Perdita ruckartig auf und verschwindet für ein paar Minuten in der „goden Stuuf“, welche bei diesen Herrenhäusern immer gegenüber der Diele liegt. Unschlüssig hocke ich minutenlang vor den beiden Zetteln und bevor ich mich zu einer Entscheidung durchringe, öffnet sich die Stubentür. Und Perdita bedeutet mir mit einem Wink, ihr zu folgen.
Zwei Likörschenker aus Bleiglas und Motiven aus aller Zeit empfangen mich und lösen weniger Erstaunen aus als der massige Dekanter, welcher randhoch gefüllt ist mit einen tiefroten, fast in ein Schwarz übergehendes Fluidum. Schlehenlikör.
Und wie der Schlehenlikör mich als unweigerliche Beschwörung alter Seelen empfängt, verfängt sich mein Blick auf eine tief vertraute Sammlung alter Bestimmungen und Weisheiten. Diese eingehegt und verborgen in einem dunklen, mit weißer Marmorierung durchsetzten Bucheinband. Sophias Kräuterbuch.
Fassungslos schweigend folge ich Perditas Erzählung von diesem Nachmittag, als sie das letzte Mal die Moorkate betrat und das Kräuterbuch aus den Händen meiner Mutter empfing. Welche seinerzeit das Kräuterbuch hortete, nachdem Sophia es ihr in der sicheren Vorahnung ihrer nahenden Stunde des ewigen Dunkels anvertraute.

Schweigend blättere ich in Sophias Kräuterbuch und finde neben so manch bekannter Rezeptur auch getrocknete Pflanzenreste, welche mit ihrer exakten lateinischen Fachbezeichnung und Sophias unlesbaren Randnotizen versehen liebevoll und säuberlich zwischen einzelnen Seiten eingefasst sind.
Perdita hat sich mittlerweile auf dem Sofa ausgebreitet und ihr Kopf ruht mit einer Selbstverständlichkeit, welche Fragen erübrigt, auf meinen Oberschenkeln. Ein Lächeln spritzt mir jedesmal entgegen, wenn ich ihr Pflanzenstängel und Wurzelquerschnitte zeige, welche entweder in den gemeinsamen Exkursionen mit Sophia oder als Morgengabe von meiner Hand gepflückt wurden.

Der Schlehenlikör entfaltet allmählich seine Wirkung und haucht ein wenig von Sophias Geist in das Restlicht des Abends. Perdita rückt näher an mich heran. Verheißt doch das vom westlichen Firmament durch das Stubenfenster rieselnde Abendrot weitere Launen des Meeres.

Es wird Frost geben…

©Einar_VonPhylen 141020

Fußnote:
• „goden Stuuf“: Die „gute Stube“ in Marschen- und Herrenhäusern


11. Abteilung: Eine Moritat von der Entgiftung der Zwecke

Die geschwätzige Rezeptionistin drückt mir einen klobigen Zimmerschlüssel in die Hand und hält mir aufgeregt und wortreich den obligaten Vortrag über Frühstücks-, Essens- und house-keeping- Zeiten. Ihren Ausführungen zufolge erstreckt sich das Freizeit- und Wellnessangebot der Liegenschaft ausschließlich auf die zimmereigene Hausbar. In welcher – selbstredend mit einem obligaten Preisaufschlag versehen - säuberlich abgezählt lokale und internationale Spezialitäten in Miniaturausführung auf durstige Kehlen warten. Sichtlich überfordert deckt mich die vielleicht Mitzwanzigerin mit einem fragenden Blick zu, als ich ein
„Ick bün her nich tum Suupen!”,
in meinen nicht vorhandenen Bart grummele.
Erst auf mein anschließend im klarsten Deutsch geflötetes
„Ich bin hier nur auf Geschäftsreise…“,
nickt sie mir gleichzeitig entgegenkommend und gelangweilt zu und schiebt ein Informationsblatt über die touristischen Attraktionen dieses Küstenortes nebst Umgebung über den Empfangstresen. Unkommentiert lasse ich diesen Anflug von Situationskomik vorübergleiten. Hatte ich mich doch bei der Anfahrt zum Hotel davon überzeugt, dass das Kino an der Hauptverkehrsstraße bereits vor Jahren vor der Übermacht der Videotheken und Streamingsdienste kapituliert und seine Pforten geschlossen hatte.

Nüchterne Sachlichkeit mit dem Charme der Achtziger empfängt mich, als ich nach einem lauten Klappern mit dem unförmigen Schlüssel die Zimmertür aufstoße. Unpersönlich und zeitlos schweigt mich eine Zimmeratmosphäre im obligaten DeHoGa-Design der auslaufenden Moderne an. Ohne einen Blick in die Sanitärabteilung zu werfen, sehe ich mich auf den ersten Blick in das entseelte Zimmer vergewissert, dass mich beim Duschen ein bis unter die Decke giftgrün gefließter Badbereich empfangen wird. Ein schwacher Trost- liegt das Rauschen des Meeres doch in fast unhörbarer Weite und wird ohnehin überlagert vom Getöse der schweren LKW, die sich von und in Richtung der nahen Autobahn nahezu minütlich durch die Hauptverkehrsstraße quälen.

Immerhin- mein wandernder Blick verfängt sich an den Rauchmeldern an der Zimmerdecke und vermittelt allenfalls exemplarisch eine Ahnung von Zeitgeist. Und die Gewissheit, dass die Postmoderne mittlerweile auch in diesem Etablissement Einzug gehalten hat. Die bereits leicht vergilbte Steckdosenleiste, welche über dem Bett in einer geschmacklosen Deckleiste aus Buchenfurnier eingearbeitet ist, birgt neben einem abstrusen Gewirr aus Antennen- und Lichtkabeln auch einen LAN-Anschluss. Eine gefühlte Viertelstunde harre ich ungeduldig vor dem alten Tastentelefon auf dem Beistelltisch aus, bis mir die sichtlich überforderte Rezeptionistin die Log-in-Daten stotternd von einem vor ihr liegenden Datenblatt vorliest.

Das Büro hatte mir bereits den täglichen Statusbericht via Mail übermittelt. Amelie hatte sich darauf konzentriert, auf meinem dashboard nur die wirklich wesentlichen Nachrichten zu hinterlegen. Die Verwertungsarie nimmt allmählich greifbare Konturen an.

Im Anhang meines morgigen Kalendereintrages finde ich die Terminbestätigung der örtlichen Sparkasse, gemäß derer in Aussicht gestellt ist, dass sich sogar der Sparkassenvorstand derselbst auf eine Konsultation mit mir herabzulassen gedenkt.
Der Insolvenzverwalter sichert mir im anschließenden Telefonat noch zu, umgehend beim Insolvenzgericht die vorläufige Insolvenzverwaltung zu beantragen. Mit entsprechenden Vollmachten. Stelle ich mich doch auf schwierige und langwierige Verhandlungen mit Michaels vormaliger Hausbank ein.
Mein Erwartungshorizont nährt sich durch das sich immer bestätigende Bild von Wiederholungen. Gestalten in geschmacklosen und schlecht sitzenden Anzügen, welche angestrengt jeglichen Eindruck vermeiden wollen, irgendwie dazu zugehören und doch über allem zu stehen, was so unter dem Firmament der hauseigenen Kassenbücher kreucht und fleucht. Lauter feine Leute. Welche selbst bei hitzigen Konsultationen niemals laut werden, könnte es doch die sich selbstgenerierende Welt der Beleihungswerte in ihren Grundfesten erschüttern. Und doch bereits mit ihren Seelen eingefangen vom Astwerk der Trauerweiden, die ihr ausladendes Geäst von den Wegrainen des Weidelandes südlich der Sommerdeiche allem Lebenden entgegenstrecken. Immer dann hastig und verunsichert die verstohlene Blicke in ihre seitenlangen Kontokorrentlisten versenkend, wenn ich diesen Kerlen dann unmissverständlich vermittele, dass sie den von mir den stillschweigend eingeforderten Gestus des Bittstellers nicht erwarten dürfen.

Eine Durchfinanzierungsbestätigung einer holländischen Bank vergewissert mich, dass ich den niederländischen Kaufinteressenten fest an der Angel habe. Ein Umstand, welcher bei mir noch vor zwei Tagen Freudensprünge ausgelöst hätte.

Identität verliert sich oftmals allzu gerne in Narrativen gefälliger Postkartenformate. Erinnerungen reisen wie Mondkälber, diese in wirklichkeitsabgewandten Gelegenheiten weidend und reflexartig genährt vom Narrativ kurzgescheitelter Ansichten. Zweidimensionales überspringt dann auf den Furchen der vierten Dimension allzu fahrlässig die Dimension der Tiefe. Es sind dann die Klangschalen und Farbwechsler der scheinbar nebensächlichen Alltagsimpulse, welche aufschrecken lassen.

Direkt neben dem Garderobenspiegel verliert sich eine Luftbildaufnahme in Schwarzweiß auf der ausdruckslosen Tapete. Der Bildauschnitt erfasst neben der Totalen des Hotels auch die Randflächen der alten Meierei. Die unweit des Hotels liegende Meierei schlummert bereits seit Jahren einen Dornröschenschlaf in direkter Nachbarschaft zum Schlachthof. Und ich vermeine augenblicklich aus der Ferne dieses markerschüttende Schreien der Jungbullen zu vernehmen, wenn diese sich auf den Ladeflächen der Viehtransporte widerwillig gegen die schweren Sisalseile stemmen. Seile, welche sie in diesen Stichweg zerren, an dessen Ende der Kopfschlachter bereits wartet.

Ein eher flüchtiger Seitenblick in den Garderobenspiegel lässt mich stutzen. Entdecke ich doch unterhalb des Wangenknochens eine langgezogene Falte, welche sich exakt dort ausbreitet, wo sich seinerzeit eine Falte in die markanten Gesichtszüge meines Vaters zementierte. Eine Falte, die regelrecht zu einer Furche anschwoll, wenn Vater dann einen der seltenen Pferdetransporte hinter sich gebracht hatte. Mutter strich ihm dann immer zärtlich mit der Hand über das Gesicht, wenn er abends wortlos in der Küchentür stand. Begleitet mit einem langen und durchdringenden Blick, welcher in stummer Zwiesprache von Mutter erwidert wurde.
Es war schon irgendwie seltsam, wie selbstverständlich die Gemeinsamkeit der so unterschiedlichen Wesen meiner Eltern im Dorf aufgenommen wurde. Diese stille Übereinkunft meiner Eltern diente mir dann unbewusst als Blaupause für alles, was irgendwie mit menschlichem Zusammenleben überhaupt zu tun hatte.
Nichts Ungewöhnliches. Im sich hebenden Blick der Mutter breitete sich immer dieser Ausdruck willkommener Freude aus, wenn ich dann ahnungslos und unbeholfen in die Küche hereinplatzte. Wenngleich ich im Blick meines Vaters dann auch immer irgendwie einen Ausdruck von Duldsamkeit auszumachen glaubte, so kam da niemals ein böses Wort. Vielleicht auch eine Schule für mein kindliches Ego, welche mich frühzeitig darauf zurückwarf, dass sich die Welt nicht nur um mich drehte.

Wie sich die Welt drehte, dass beschäftigte uns seinerzeit eher am Rande. Und bevor ich beginne darüber zu sinnieren, ob im Bauplan der Welt auch Kreisverkehr vorgesehen ist, sinke ich in einen dumpfen, schweren Schlaf.

(...)

©Einar_VonPhylen 161020
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
12. Abteilung: Taktiken des Stundenzählens
Härtegrad drei. Der drückende Schmerz in meiner Lendenwirbelsäule lässt mich aus einem narkotisierten Schlaf erwachen. Die durchgelegene Federkernmatratze unklaren Haltbarkeitsdatums beschenkte mich in der Nacht mit dem schonungslosen Genuss des darunter lauernden Lattenrostes. Welcher zumindest gefühlt seine Bestimmung vom Zementwerk neben der alten Ziegelei ohne Umwege in dieses Hotelzimmer gefunden hat. Ein Prägestempel für gebeugte Seelen, wie es scheint.

Immerhin eine gute Einstimmung auf das anstehende Gespräch mit den Bankern der hiesigen Sparkasse am Vormittag. Die willkürlich verstreuten und leicht verknickten Papierstapel rechts und links neben meiner nächtlichen Schlafstatt offenbaren, dass ich wohl nahezu nahtlos von omnipräsenten Gedanken in die Welt eines traumlosen Schlafes eintauchte. Schon ungewöhnlich. Das Nachdenken über den gemeinsamen Abend mit Perdita hielt mich ab von der mittlerweile zur Gewohnheit verkommenen Taktik des nächtlichen Stundenzählens.

Stundenzählen. Es war das Element des Stundenzählens, welches mir dann in meinem Penthouse unweit der Süderelbe den Übergang des Beheimatens zur Duldsamkeit des eingehegten Geworfenseins offenbarte. Vielleicht auch einer der Gründe, weswegen ich es über viele Jahre kaum dauerhaft an einem Ort aushielt. Nahezu alle zwei Jahre ein Umzug, oftmals innerhalb vertrauter Stadtteile, welche wie Hintergrunddekoration beliebig austauschbare Blaupausen für das tägliche Bildwerk lieferten. Irgendwo sich verlierend in den Massen der Zerstreutheit.

Ein Surren meines Smartphones reißt mich aus meinen Gedanken. Im ersten Moment ergreift mich ein leichtes Unwohlsein, als ich auf dem Display die Signatur meines Sohnes erkenne. Wie so üblich empfängt mich eine dieser Kurznachrichten.
„Hi Pa. Happy birthday zu deinem Achtundvierzigsten. Bleib cool unter den ganzen Dullies.“
Ende der Durchsage.
Unabhängig davon, dass sich mein Jahrestag erst übermorgen einstellt, rätsele ich Dämlack* für ein kurzes Moment ergebnislos darüber, was ein Dulli sein könnte. Kopfschüttelnd verwerfe ich diesen Gedanken. Allein zurückgeworfen auf die Frage, wie viel 48 Jahre im Vergleich zu den letzten 48 Stunden wiegen.
Was ist das Surplus*, welches mehr erzählt als die vor mir liegenden kalten, schweigenden Wände oder der kaltschweißige Händedruck verblassender Erinnerung es vermögen? Vielleicht nicht mehr als ein weiteres Narrativ, dieses sich niederschlagend und wieder aufzehrend im Widerstreit zwischen den Davongekommenen und den Dabeigebliebenen.

Ein Blick auf die Uhr gewärtigt mir, dass ich mich sputen muss, um den Tagesplan irgendwie einzuhalten. Beim hastigen Rasieren verliert sich mein Blick in ein leicht verstaubtes Blumenbouquet, welches verstohlen auf der Fensterbank siedelt und mit einem tiefen Rotstich und ausladendem Blütenkelch doch ein wenig Lebendigkeit in das Zimmer spült. Irgendein Liliengewächs, welches verwunschen war, einer Lotusblüte gleich vom Anbeginn bis zum Ende der Zeit an diesem Fenster zu stehen.
Für ein Moment scheint es mir so, als wenn in mir das dröhnende Gelächter Sophias erschallt. Wie in diesem verfluchten Spätsommer, als ich seinerzeit auf dem Weg zu Perdita in Sophias Moorkate Zwischenstation machte und ein Strauß mit roten Lotusblumen aus dem Korb lugte. Erst Sophias Gelächter eröffnete mir, dass die verrückte Floristin aus dem Nachbarort offenbar mit mir ihren Schabernack trieb, als ich einen Blumenstrauß für eine Herzensdame orderte.

Rote Lotusblüten. Sophias lautes Lachen begleitete mich über viele Jahre. Und noch über ihren Tod hinaus. Unterließ sie es doch regelmäßig, mir den Grund ihrer recht seltenen Heiterkeitsausbrüche zu offenbaren. Und so sparte sie sich wie so oft eine Belehrung weg, um mir die tiefere symbolische Bedeutung des indischen Lotus zu verdeutlichen.
Ungeachtet der unerbittlichen Strenge, die mir regelmäßig von der Großtante entgegenschlug, verletzten mich dann die jahrelangen Scherze der Dorfbewohner über die Zurückgezogenheit und zuweilen recht schrullige Art Sophias dann doch. Sophia schien seit ehedem keine Unterschiede zu kennen, wenn sie mit Individuen, gleich Mensch, Tier oder Pflanze, kommunizierte. Sie legte immer einen Finger auf meinen fragenden Mund, wenn sie auf gemeinsamen Streifzügen im Moor ein Baumopfer erbrachte. Mit unverständlichen Gebetformeln unterlegt, bevor sie von den Weiden oder Birken klebrigen Saft abzapfte. Oder kunstvoll geflochtene Blütenkränze in den Quellsee warf, bevor sie aus diesem Wasser für ihre Tinkturen schöpfte. Offenkundig schien sie mehr mit der Pflanzen- und Tierwelt auf du zu sein als denn ihre Zeit mit dem Gewäsch und Gezeter ihrer eigenen Spezies verschwenden zu wollen. Zugegeben- erst viele Jahre später vermochte ich den Grund für ihr weltabgewandtes, ja menschenverachtendes Dasein ergründen.

Das Lachen in der Dorfgemeinschaft verstummte zusehends, als Sophias unbefangener Umgang mit den Tieren, welche sich auf und um den Hof nahezu unbegrenzt aufhielten, ungeahnt Früchte trug. Legionen von Hühnern scharrten regelmäßig weit verstreut rund um die Moorhofstelle. Gelächter brauste immer im Dorfkrug auf, wenn Geschichten über Sophias zum Teil stundengreifende Zwiesprache mit den Legehühnern kolportiert wurden. Gleichwohl mir die Eier, die ich dann rickweise* zum Dorfkrug schleppte, zu Höchstpreisen regelrecht aus der Hand gerissen wurden.
Ob das nun ihre Hühner waren oder sich irgendwelche Vagabunden von den nahegelegenen Legebatterien auf ihrem Hof flüchteten, war für Sophia unbedeutend. Genauso unbedeutend, dass ich mir dann zubilligte, für die abgelieferten Hühnereier eine kleine Provision einzustreichen.
Mein seinerzeitiger Geschäftssinn blieb dann auch Hellmut, dem Kneipenwirt, nicht verborgen. Und so wunderte ich mich nicht sonderlich, als mir dann irgendwann zugetragen wurde, dass Sophia und Hellmut eine geschäftliche Allianz schmiedeten. Sophia bezog nur eine dürftige Witwenrente und so war die jährliche Erbpacht eine ernst zu nehmende, über viele Monate auf sie lastende Herausforderung. Viel Unterstützung kam da nicht von der Außenwelt, selbst für die Zeit in Lamsdorf* nicht. War zudem ihrem früh verblichenen Gatten, der genauso wie mein Großvater als Rotfrontkämpfer im oberschlesischen Revier kaum hinreichende Rentenanwartschaften erwarb, nachhaltige Vermögensbildung verwehrt.
Hellmuts Verstand lief zur Höchstform auf, als sich merkwürdig gekleidetes Jungvolk aus der großen Stadt zunehmend für Sophias Lebenswandel und ihre geheimnisvollen Tinkturen interessierte. Und sich in Ermangelung anderweitiger Übernachtungsmöglichkeit in den muffigen Fremdenzimmern oberhalb der Gastwirtschaft einmieteten.
Die sich für Hellmut aufdrängende Geschäftsidee kam zunächst nur sehr schleppend und nach einigen unerwarteten Widerständen in Gang. Erst nachdem meine Mutter in einer Sektlaune den hemdsärmeligen Werbeslogan „ Entspannen mit Hühnern“ in „ Transzendentale Meditation mit Phasianidae*“ umtitelte, brachte das der Geschäftsidee sogar einen Eintrag im Kursverzeichnis der kreisansässigen Volkshochschule ein. Und so zeichnete sich dann ein zunehmender Strom von merkwürdig gekleideten Auswärtigen und hierauf eine erhebliche Steigerung in der örtlichen Zimmerbelegung ab.
Sophia nahm es dann – im Gegensatz zu Hellmut und Marek, dem Taxifahrer - sichtlich unbeeindruckt hin, als der Wellnessboom in der Moorsenke bereits nach einer Saison abebbte…

Am Frühstücksbuffet entleihe ich mir für ein kurzes Moment das schallende Gelächter Sophias, als ich feststelle, dass ein rotblühendes Blumenbouquet nahezu jeden zweiten Bistrotisch ziert. Eine nähere Inaugenscheinnahme vergewissert mich, dass die zeitlose Eleganz des Blumenbouquets auf hochwertigem Kunststoffspritzguss einer namenlosen taiwanesischen Hinterhofwerkstatt gründet. Mir schießt augenblicklich das Blochzitat ins Bewusstsein, wonach der Unterschied von Original und Fälschung generell darin liegt, dass die Fälschung echter wirkt als das Original.

Rote Lotusblüten lösten seinerzeit bei Perdita ein verlegenes Lächeln aus. Wenngleich ich mir sicher bin, dass sie sich seinerzeit genauso wenig über die tiefere Bedeutung des roten Lotus bewusst war wie ich. Sie errötete und ich wusste mir seinerzeit nicht anders zu behelfen, als ihren fragenden Blick verlegen zu beantworten:
„Ick dacht mih, is mal wat anners as dih jümmers mit Korn un Beer totoschütten.“

Und ich erinnere mich augenblicklich daran, dass man die ausladende Lotusblüte immer dann von der Straße aus auf dem Fenstersims ihrer Kammer erblicken konnte, wenn Perdita die Vorhänge ihres straßenzugewandten Zimmerfensters aufgezogen hatte.

Das Brummen meines Terminplaners reißt mich jäh aus meinen Gedanken.
Und so bleiben mir auf dem Weg zum Banktermin nur wenige Minuten, um mich von der Taktik des Stundenzählens zu lösen…

(…)

©Einar_VonPhylen 231020
Fußnote:
• Dämlack: => überkommenes Synonym für Dulli
• Surplus (=Überschuss/ Überangebot)
• Lamsdorf: Ort in Schlesien, in welchem sich während des Krieges und in der Nachkriegszeit ein „Internierungslager“ befand
• Phasianidae => Fasanenartige

**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
13. Abteilung: Anagramme
Wo Allegorien keinen Sinn mehr machen, scheinen sich zwangsläufig Anagramme auszubreiten.
Als ich am frühen Nachmittag das gläserne Eingangsportal der Sparkasse verlasse, unterscheidet sich mein Schattenwurf draußen genauso wenig von den Lichtreflexen des Morgens. Die durch die auftürmenden Wolkenformationen brechende Nachmittagsonne taucht die Landschaft in eine sakrale Optik. Was mich augenblicklich an die Lichtspiele erinnert, welche an sonnigen Tagen durch die Fenster der Lübecker Marienkirche auf andächtige Gesichter treffen. Es scheint fast so, als wenn das gotische Streben nach Licht hier an der Küste zwar nicht seinen Ursprung nahm, aber den unzähligen Dombaumeistern der alten Welt als verkörperte Inspiration zu dienen befohlen war.

Mit langen Fingern durchschneiden lange Lichtkaskaden monströse Wolken, versilbern das Meer und die aufflammenden Siele und tasten sich vorsichtig an den Landmarken entlang bis ins nahe Hinterland.
„Dat Lücht gifft de Lü, watt de blanke Hans ofluchst*“,
dröhnte mir an solchen Tagen Krischans Vater zu, wenn ich mich vom Schulweg kommend und frierend in das Fischgeschäft unweit des Kutterhafens flüchtete. Er grinste jedes Mal, wenn er meinen verzagten Gesichtsausdruck angesichts der nahenden Unbillen eines nahenden Herbststurmes musterte und mir ein Fischbrötchen mit seinen selbstgemachten Fischfrikadellen über den Tresen schob.
Anagramme formen sich an solchen Tagen, ohne eine Silbe zu verlieren. Beim kurzen Weg zum Kutterhafen überzeuge ich mich davon, dass an Stelle der Fischbacke* nunmehr ein Eventgastronom seine Zelte aufgeschlagen hat. Missmutig stolpere ich zum nahegelegenen Fischimbiss direkt an der Hafenkante. Und werde nach dem ersten Biss in das bestellte Fischbrötchen wiederholt daran erinnert, dass Fischfrikadellen nicht ohne Grund als Rumkugeln des Meeres verschrien sind. Kein Vergleich zu den selbstgemachten Fischfrikadellen aus den Händen von Krischans Vater. Der diese täglich frisch aus den Fangnetzen der Fischkutter kreierte, welche seinerzeit das gesamte Hafenbecken ausfüllten.
Es fällt mir zusehends schwer, einen stimmigen Abgleich zwischen dem dem Land Gefügten und dem Gezeitenlauf des Zeitlichen herzustellen. Ernüchterung stellt sich ein, wo doch auch in dieser Gegend zu allgegenwärtig die Sprache des Scheins Einzug gehalten hat.

Verschiedenheit scheint sich heutzutage schwerer aus dem Blendwerk schriller Anreize herauszuheben, als das noch damals möglich war. So wie es halt auch immer bei Krischan war.
Krischan, der Junge vom Krabbenfischer aus der Nachbarschaft. Schweigender Begleiter auf dem Schulweg. Sein Wesen war durchtränkt von der Schwere des Moorbodens, welcher sein Wurzelwerk bereits schon in ihm ausbildete, als er noch im Leib seiner Mutter heranwuchs. Einsam und irgendwie übrig geblieben stand er oft da, weil er ständig in der Nase bohrte und dann seine Popel entweder verstohlen unter dem hölzernen Schreibpult in der vorletzten Tischreihe oder in seinem mächtigen Schlund verschwinden ließ. Seine massive Erscheinung ließ kaum Platz für Heiterkeit. Sein selten aufblitzendes, ja kindliches Lächeln schien meistens wie ein Fremdkörper. Welches immer dann triumphierend aufblitze, wenn er mich mit seinem massigen Körper beim Handball oder bei Raufereien abschirmte. Ein gern gewährter Ausgleich für das ungenierte Abschreiben in den Klassenarbeiten. Es reichte ihm auch aus. Erschöpfte sich sein Verständnis des Welterklärens in der Gewissheit, irgendwann genauso wie die Altvorderen an den Baumkurren* des väterlichen Krabbenkutters Netze einzuholen. Schicksalergeben mag er an der Back gestanden haben, als die Dünung den Kutter in diesem Herbstorkan knapp zwei Jahrzehnte später auf dem Großen Knechtsand* unter die Kiellinie drückte. Erst Wochen später spülte seine Wathose an die eiderstedter Küste. Der Rest war dann für die Aale…

Krischan griff immer beherzt zu, wenn Mutters selbst gebackener Butterkuchen noch dampfend auf dem Tisch im Wintergarten serviert wurde. Nicht selten artete es aus in ein Wettessen mit dem jüngsten, behinderten Sohn vom Silberrücken. Den wir immer am Schulbus aufgabelten, wenn die älteren Kinder vom Nachbardorf mit Steinen nach ihm warfen.
Es wurden keine Unterschiede gemacht, wenn Mutters selbst gebackener Butterkuchen vom Ofen direkt auf den Tisch kam. In der Kate verbreitete sich ein lang gedehntes Moment von Seligkeit, wenn dann der Zucker auf der geschmolzenen Butter karamellisierte. Meine Mutter schien es zu beflügeln, wie unbefangen diese ungleiche Gesellschaft die Nachmittage in der Kate füllte. Entdeckte sie doch eine Gleichheit unter Heranwachsenden, welche bei den Erwachsenen irgendwann verloren gegangen schien. Das alle Menschen irgendwie gleich sind, dass wollten wir wohl damals glauben. Sodass uns die Schule – und das, was danach noch so alles kam- dann zusehends vorkam wie ein höherer Nistplatz des Zweifels.

Töricht, von einem Stillstand der Zeit auszugehen. Ein Blick auf mein Smartphone vergewissert mich, dass Perdita mich während des Bankgesprächs zweimal versuchte, zu erreichen. Unruhig ließ sie mich am Vorabend angesichts des Banktermins ziehen, obgleich ich sie fortdauernd beruhigte. Erst die direkte Begegnung mit dem Sparkassenvorstand vermochte mir Perditas Sorgen zu erklären. Unter den buschigen Augenbrauen eines Endfünfzigers loderte aus verkniffenen Augen dieselbe subtile Grobheit und Verschlagenheit entgegen, wie sie auch seinerzeit den Silberrücken auszeichnete. Das süffisante Lächeln zu Gesprächsbeginn vermittelte eine unterschwellige Brutalität, die von einem gönnerhaften Lächeln eines Patriarchs nur mühsam kaschiert wurde. Das gesprächsweise Abtasten mündete bereits zu Gesprächsbeginn beinahe zwangsläufig in den Versuch gewollter Domestizierung.
„ Ich denke mal, dass sie als Mann aus einer Weltstadt recht schnell gemerkt haben, dass die Uhren hier anders laufen und die Leute hier etwas anders ticken.“
Als ich dann hierauf dem dreist grinsenden Sparkassenvorstand ein
„Da gifft dat wohl nich al to veel to verklohren“,
entgegen schmetterte, verschluckte sich der neben dem Patron sitzende Geschäftskundenberater am sauren Automatenkaffee aus der Sparkassenkantine. Ein Gebräu, welches seinem Geschmack nach bereits allein für die Verbreitung der Geißel des Sodbrandes auch in dieser Gegend verantwortlich zeichnete. Immerhin ließ sich die Bank nicht lumpen- wurde doch mittig auf dem Konferenztisch die obligate Keksmischung platziert, welche seit Erfindung des Diskontsatzes regelmäßig zu Einsatz kam, wenn wichtiger Besuch angemeldet war. Der Rest verlief sich im Sande…

Anagramme formen sich, selbst wenn die Silben einfach nicht zueinander passen wollen. Die Wirklichkeit tändelt immer irgendwie zwischen oberflächlichen Höflichkeitsformeln und der obligaten Kultivierung des Schweigens.
Ich sehe davon ab, Perdita anzurufen und hinterlasse ihr nur eine beruhigende Kurznachricht. Zu viele Worte in schwelgenden Momenten können im Zweifel mehr Schaden anrichten als denn Antworten geben.
Gleichwohl ich in Perditas Gesicht zunehmend diesen frischen Rotstich wahrnahm, stockte die Suche nach bestimmender Gemeinsamkeit immer irgendwie an einer schier unüberwindbaren Grenze. So als wenn sich der Automatismus einer unsichtbaren Sprachbarriere trotz gleicher Zungen ausbreitet.
Wenngleich der Rotstich in Perditas Miene seit gestern eine Brücke schlug, oft widersprüchlichen Gedanken das kompensierende Moment körperlicher Nähe entgegen zu setzen, verzehrt da diese Kluft verblichener Möglichkeiten die Unmittelbarkeit präsenten Gestaltens von Möglichkeit. Mir wird bewusst, dass Erinnerung regelmäßig am fehlenden Rückgängig machen von Erwartungen zerschellt.

Ein weiteres Surren meines Smartphones reißt mich aus den Gedanken. Perditas Stimme klingt gelöst, als wenn ihr die Last eines ganzen Torfkahns von den Schultern genommen ist. Sie bedeutet mir, wie viel es ihr bedeuten würde, wenn ich vor meiner Abreise nochmals bei ihr vorbeischaue.

Auf dem Rückweg von der Kaimauer zum Auto beschließe ich, aus dem Hotel auszuchecken und bei der Gelegenheit eines dieser roten Liliengewächse mitgehen zu lassen. Einer inneren Stimme folgend, welche nahezu spielerisch Allegorien in Anagramme umzuformen scheint…

©Einar_VonPhylen 281020

Fußnote:
• Dat Lücht gifft de Lü, wat de blanke Hans ofluchst*: => Das Licht gibt den Leuten, was der blanke Hans (das stürmische Meer) abluchst
• Fischbacke: Ugs. Kurzbezeichnung für eine Fischbratküche
• Baumkurren: =>seitlich ausladende Mastspitzen, an denen die Fangnetze fixiert werden
• Großer Knechtsand: => Untiefe (und berüchtigter Schiffsfriedhof) an der Mündungsachse von Weser- und Elbmündung

**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
14. Abteilung: Tendenz und Zweifel
Der unbefestigte Stichweg, welcher von der Moorsiedlung direkt zu Sophias ehemaliger Hofstelle führt, ist in einem erbarmungswürdigeren Zustand, als ich es in meinen düstersten Träumen erahnen konnte. So blieb mir nichts anders übrig, als meinen Wagen an der verwaisten Pferdekoppel kurz hinter dem Verbindungsweg zur Kreisstraße abzustellen und die letzten gut fünfhundert Meter zu Fuß zurück zulegen.

Silbriggraues Licht empfängt mich zunächst, welches sich zwischen den Birken verfängt und die Luft zum Schimmern bringt. So ganz anders als in diesen Sommerbildern von Vogeler oder Overbeck schimmert da nicht diese sinnliche Beschaulichkeit des Teufelsmoors* durchs Geäst als vielmehr das ledigliche Verlangen nach Erlösung.
Die Nässe des vom Moorboden aufsteigenden Nebels zieht durch meine Kleidung und lässt mich augenblicklich frösteln. Aus der Ferne vernehme ich die durchdringenden, kehligen Schreie von Graureihern, welche auf dem Weg zu ihren Winterquartieren in großer Höhe über den Jadebusen ziehen. Es dürfte Frost geben, viel früher als sonst. Und es war vielleicht nur eine Frage von Wochen, vielleicht Tagen, dass die ersten Nachtfröste ihr Leichentuch über die Landschaft werfen.

Gleich hinter dem Birkenhain erstreckt sich diese magische Landbrücke, die in der Erinnerung und Wahrnehmung allem hier Existierenden als Manufaktur für Regenbögen bekannt war.
Niemals später erblickte ich so intensive und launische Regenbögen, welche mit ihren Spektren zuweilen nur über Sekunden, manchmal gefühlt über Stunden den Himmel durchschnitten. Es war wohl dieser leicht ansteigende Geestrücken, der weithin sichtbar den Übergang vom schweren Kleiboden des Vordeichlandes zum Hochmoor zeichnet. Und dann die Brandung der feuchten Luftmassen der See auf die träge Landmasse aufprallen und in zum Teil bizarren Gebilden kondensieren ließ.
Weithin sichtbar kaskadierten immer in den Herbst- und Wintermonaten Irrlichter über den Birkenhain und den nur unweit der Hofstelle gelegenen Hünengräbern. Stumme Zeugen, welche Sophias Kate in so manch stürmischer Winternacht einigermaßen vom eisigen Zugriff atlantischer Tiefausläufer abschirmten.

Ich bin zugegeben erschüttert, als sich die Konturen der bereits halb verfallenden Moorkate durch die Irrlichter des ersten Abendnebels vor meinen Augen abzeichnen. Teile des notdürftig geflickten Reetdaches waren bereits eingefallen und drücken regelrecht den ohnehin gestauchten Lebensnerv des ebenerdigen Hauptraums ab. Herabgefallene Reste von Teerpappe und zersplitterten Eternit- und Gipskartonplatten breiten sich willkürlich und weit verstreut vom Rüstwerk auf dem verwilderten Vorplatz der Hofstelle aus. Ebendort, wo vormals unter den Händen Sophias ausladende Schlehenbüsche und ein Kräutergarten gediehen. Die größtenteils zersplitterten Fenster vermitteln den Eindruck, als wenn diese Heimstatt irgendwann geblendet wurde, damit kein Sonnenstrahl das Innere erreichen kann. Durch die einbrechende Dämmerung ist schwer auszumachen, ob dieses Stück Land dazu bestimmt war, verwunschen in einen Schlaf zu versinken oder in alle Ewigkeit verflucht zu sein. Ein Ort, welchem die Kraft zum Atmen verloren gegangen schien.

Nur wenige Seelen verloren sich regelmäßig in diesen Landstreifen, der in der dorfabgewandten Abgeschiedenheit scheinbar nur sich selbst überantwortet schien. Und seinerzeit bei jedem meiner Wege dorthin irgendwie das beruhigende Gefühl vermittelte, von keinem Auge und keinen Fragen aufgelauert oder verfolgt zu werden.
Der flüsternde Singsang von den Gleisen der nahe gelegenen, schmalspurigen Torfbahn verhallte bereits in meiner frühen Kindheit im Dickicht des Birkenhains. Schräge Klänge und Kadenzen, welche abebbten, als immer mehr Haushalte mit Öl und Gas heizten. Und sich der Torfabbau irgendwann nicht mehr lohnte. Muster und Stuckaturen von Klangfarben, welche mich noch Jahre später in diesen einsamen Nächten meines Studiums aus dem Schlaf rissen, wenn dann der aufbrausende Nordwest in den frühen Morgenstunden den Lärm des Waltershofer* Rangierbahnhofs an die Wände des Studentenwohnheims trieb.

Die majestätische Selbstbehauptung dieses Aussiedlerhofs ertrug und vertrieb schlussendlich auch diejenigen, welche dem nahe gelegenen Hünengrab die letzten Mysterien entreißen und zugleich den abenteuerlichen Überlieferungen der Alten über Moorgeister und übernatürlichen Erscheinungen einen Riegel vorzuschieben gedachten. Außer einigen vermoderten Baumwurzeln und einer willkürlichen Ansammlung von Tierknochen fand sich da nichts, welches der Wertschätzung der Altertumskundler Nahrung gab. Steine ohne Schätze schienen seinerzeit den Archäologen wert- und bedeutungslos zu sein. Und so zogen die aus der fernen Landeshauptstadt angereisten Archäologen bereits kurz nach Beginn der ersten und auch letzten Grabungsaktion ab. Begleitet vom wissenden Lächeln Sophias, welche die Sinngebung der Steine nicht an opulenten Grabbeigaben oder verblichenen Schädeln maß.
Steine lesen zu können beherbergte für Sophia immer die Gewissheit, nicht jeden Stein umzudrehen zu müssen.

Steine verfestigen fließende Bilder. Grünalgen und Moos überziehen den verwitterten, vormals weißgrauen Kalksandstein mit einem Tarnanzug. Das irdene Schweigen der umgreifenden Natur schien über die Jahre unaufhaltsam über die Beredsamkeit der Hände zu triumphieren, welche die vormals nur aus Lehm und Wellblechplatten notdürftig zusammengehaltene Baracke mit schwerem Mauerwerk bewehrten. Kalksandstein, welcher die Wellblechplatten ablöste, die in den Hungerwintern nach dem Krieg bereits von den ersten Herbststürmen wie Tarotkarten vom löchrigen Lehmputz des vormaligen Ausliegerhofs abgestreift wurden. Vielleicht, um etwas zu bekommen, was man für Geld nicht kaufen kann.

Bei meiner nachmittäglichen Aufwartung beim Katasteramt hatte ich mich einer unbestimmbaren Laune folgend nicht darauf beschränkt, die Liegenschaftskarten des Gutshofs zu sichten. Die freundliche Registaturbeamtin offenbarte Begeisterung, als ich ihr eröffnete, dass im scheinbar so gottverlassenen Moorstück und des Ständerwerks des Gemäuers irgendwo noch immer ein Stück meiner Vita eingehegt war. Mit sichtlichem Erstaunen konnte ich den Liegenschaftskarten entnehmen, dass sich das Areal der ehemaligen Landstelle nicht nur auf die Moorkate, sondern auf die umgebenden gut zweieinhalb Hektar Sumpf- und Weideland erstreckte.
Die Registaturbeamtin, eine auf den ersten Blick desillusionierte Mitfünfzigerin, gab bereitwillig Auskunft über das Außenbereichsgelände und dessen zum Teil verwirrende und abenteuerliche Historie. Und sie kicherte nur, als wir beiden dann beim Durchwühlen der bereits vergilbten Flächenkarten und Grundbesitzurkunden feststellten, dass sie bereits seit mehr als einer halben Stunde Dienstschluss hatte.
Den uralten Urkunden erschloss sich, dass die Landstelle zuletzt von einem Anthroposophen bewirtschaftet wurde. Der unter den Einheimischen als der „verrückte Rudolf“ Bezeichnete lebte sehr zurückgezogen. Sodass sich aus den Urkunden kaum mehr erschließen ließ, als dass dieser Ende der dreißiger Jahre spurlos verschwand. Scheinbar zeitig. Und das nur wenige Tage, bevor ihn die Gestapo holen wollte…

Die Landstelle verwaiste über Jahre und erst die Wohnraumnot der Nachkriegszeit veranlasste die zuständige Kreisverwaltung, den unablässigen Zustrom von Kriegsvertriebenen auf sämtliche vorhandenen Wüsteneien und verwaisten Landstellen zu verteilen. Verfallene Gemäuer, oftmals nicht mehr als Wellblechhütten, welche oftmals nur ein den unmittelbaren Naturgewalten ausgeliefertes Dahinvegetieren gestattete. Und abseits des Laufs der Dinge in der großen Welt den Alltag zu teilweise abenteuerlichen Modellen des Daseins herausforderte.
Sophia vermochte ohnehin wenig anzufangen mit dem modellhaften Charakter von Herausforderungen. Und fügte und richtete sich ein. Erst nachdem im Hungerwinter ´46 selbst das Rotwild auf den brachliegenden Feldern erfror, erbarmte sich die englische Gebietskommandatur und stellte aus dem Bauschutt der zerbombten Stadt einige Festmeter Sandsteinklinker zur Verfügung. Ein halbes Schwein aus einer Schwarzschlachtung ging allein dabei ´drauf, um die noch von Feuerstürmen verrußten Klinker zur Hofstelle zu bringen. Ein halbes Schwein für die halbe Gewissheit, dass es nicht die Zeit war, Fragen nach dem woher und dem warum zu stellen…

Unmengen von bunten Schrotpatronenhülsen, rostigen Bierdosen und achtlos verstreuten Überbleibseln von Tierkadavern verdeutlichen mir, dass sich in den letzten Jahren allenfalls Jagdgesellschaften an diesem Ort verloren. Kreaturen, die sich im sinnlichen Schweigen der Moorsenke bedienten, fraglos nahmen und gegen Nutzlosigkeit eintauschten. Gut, dass Sophia das nicht mit ansehen muss, denke ich mir.
Und ich bin mir auch nach einer halben Stunde nicht im Klaren darüber, welchen Bezug ich zu dieser unwirklichen Umgebung bereit bin, herzustellen. Sich der Fremdheit anzuvertrauen, darauf war ich spätestens seit meinem Aufbruch seinerzeit eingestellt. Sich mit dem Befremden über Vertrautes anzufreunden, darauf hatte mich bisher nichts und niemand vorbereitet.

Bezugsquellen – so scheint es- werden oftmals allein bestimmt durch die Größe der Kontaktflächen. Auch nach Einsetzen der Dunkelheit weiß ich noch keine Antwort auf die Frage, weswegen ich nach Perditas Anruf nicht den direkten Weg zum Gutshof gefunden und mich hierher verloren habe.
Das Verweilen an Sophias Kate scheint eine Zwischenwelt zu schaffen in diesen Stadien der Verlorenheit, welche sich seit meiner Ankunft immer wieder zwischen den örtlichen Geschäftsterminen und der Begegnung mit einem verlorenen Selbst auftaten. Kopfschüttelnd versuche ich mir über die Motive klar zu werden, welche mich an diesen Ort getrieben haben und – einer inneren Stimme folgend- mir im letzten Moment verweigern, die bereits vermoderte Eingangstür zur Kate aufzustoßen.

Zwischen dem berstenden Ständerwerk der Kate und vor sich hin modernden Baumstümpfen siedelt meine Gegenwärtigkeit scheinbar in der schwelgenden Charakteristik eines Wiedergängers. Irgendetwas hielt mich einerseits zurück und trieb mich dann doch an Orte und Gelegenheiten, ohne mich von der Gestaltungshoheit berechenbarer Möglichkeiten leiten zu lassen. Und mich mit der unterschwelligen Gewissheit zu konfrontieren, mich vielleicht nur zum Handlanger derjenigen zu degradieren, die das Wurzelwerk zurückschneiden, welches sich über Jahre und Jahrzehnte in Perditas Lebensentwurf ausgebreitet hatte.

Wankelmütig ziehe ich mein Smartphone aus der Jackentasche. Just in dem Moment, als ein Windstoß vom Außendeichgelände kommend den beißenden Atem der See durch den aufgeschlagenen Kragen meines Trenchcoats treibt. Was soll ich Perdita sagen, wenn ich ihr nach dem Durchschreiten der massiven Dielentür in die Augen schaue? Was ihr sagen, wenn ich mich ohne weitere Erklärung so einfach absetze, allein nur, um mich nicht den fragenden Blicken stellen zu müssen?
Bevor ich mir darüber schlüssig werde, treibt mich das Freizeichen in der Leitung in eine weitere Zwischenwelt. Welche jäh durchbrochen wird, als auf dem anderen Ende der Leitung Perditas freudige Stimme erklingt. Mein Mund ist trocken und aus meiner ausgedörrten Kehle löst sich nur ein zögerliches „Hallo“, welches meine Unschlüssigkeit nur halbherzig kaschieren mag.

„ Hej. Wo driefst di denn rüm? Ick hebb de Kachelovend* anschmeten und dat Eten* steiht schon up de Füürstell*. Wo lang brüggst du noch?“

„Hmmh, jo. Ick brügg woll noch twintig Minuten.“
Ich bin selbst überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit meine Stimme wieder Oberhand gewinnt und eine Zuversicht vermittelt, welche offenbar zugleich von der Wärme des Kachelofens und Perditas Stimme genährt wird. Feuerholz für die Schritte, welche da noch auf mich warten und mich allmählich lösen von dieser ekligen Empfindung der Geworfenheit.
Der Nebel scheint sich zu aufzulösen, als ich den Birkenhain hinter mir lasse…

(…)
©Einar_VonPhylen 191120

Fußnote:
• Teufelsmoor:-> Ausgedehnte Moorlandschaft nördlich von Bremen, welche u.a. die Künstlerkolonie Worpswede inspirierte
• Waltershof. -> südlicher Stadtteil Hamburgs,welcher nahezu das gesamte Hafengebiet umfasst
• Kachelovend*: -> Kachelofen
• Eten: -> Essen
• Füürstell: -> Herd/Feuerstelle

**********henke Mann
9.666 Beiträge
Du schreibst Heimat, und wenngleich in meiner urstromtaligen Heimat der "beißende Atem der See" nicht ankommt, sondern nur manchmal selten als Sturm in die Kiefern und Buchen greift, so ist jede Zeile für mich fühlbar - und das ist großes Kino. Danke.
Anmelden und mitreden
Du willst mitdiskutieren?
Werde kostenlos Mitglied, um mit anderen über heiße Themen zu diskutieren oder deine eigene Frage zu stellen.