Falls wir ins Gras beißen
Bommel saß im Zug nach Irgendwo. Die Landschaften rauschten in Schlieren an ihm vorüber, und Niemand flüsterte ihm zu, dass schon alles gut werden würde, weil eben niemand neben ihm saß und das Nichts dieses Niemand ihn berührte, so als ob ein Jemand ihn an der Nase kitzeln würde und ihm die Zähne der Zeit sanieren oder gar ziehen würde.
War denn dieser Jemand oder Niemand oder Jiemand die Zahnfee aus seinen Kindertagen, die ihn damals des Nächtens heimgesucht hatte, um ihm das Ringelpietz-mit-Anfassen-Spiel beizubringen?
Oder war es die Zahnfee seines Zwillingsherzens, die ihm die Zähne seines verlorenen Geschwisterchens nahelegte, damit er sich nicht mehr so allein fühlte, wenn niemand neben ihm saß und er nur mit sich selbst durch die Lande fuhr und ihn die Sehnsucht nach etwas, was er nie gefunden geschweige denn besessen hatte, weil es nichts zu finden oder gar zu besitzen gab, in die Unendlichkeit hinein antrieb?
Bommel wusste es nicht, als er sich seinen rasierten Schädel kratzte und sein Drachenshirt in den Hosenbund steckte.
Er wusste es auch nicht, als ihn der Walrossschnauzbart von Schaffner nach seiner Fahrtkarte ins Nirgendwo fragte und erzürnt darüber war, dass auf Bommels Ticket nicht Nirgendwo sondern Irgendwo geschrieben stand.
Denn für den Schaffner war das ein himmelweitgroßer Unterschied.
So musste er nun den Lokführer dazu anhalten, bei den Polarlichtern vorbeizufahren, damit er die Nornen-Muhme befragen konnte, wie man nun ins Land des Irgendwos gelangen könne, damit sich Bommel nicht letzten Endes bei des Walrossschnauzbartes Gilde darüber beschweren könne, dass der Schnauzbart des Walrosses ortsunkundig gewesen sei …
Schließlich hätte er das nicht auf sich sitzen lassen können als ein mit den Orden seiner Sippschaft behängter Schaffner der königlichen Zugführergilde und deren Beförderungsmittel.
Bommel war noch immer rat- und rastlos, und sein Zug fuhr weiter durch die Lande, ohne je im Irgendwo anzukommen. Inzwischen saß sogar ein Jemand neben ihm, und es war tatsächlich die Zahnfee aus seinen Kindertagen.
Sie hatte ihm all seine vergangenen Milchzähne fein säuberlich in Reih und Glied auf das Klapptischchen seines Abteils gelegt und war gerade dabei, ihm die inzwischen alten Zähne der Zeit zu ziehen und ebenso in einer Reihe über den Milchzähnen auf die Tischplatte zu legen.
Blut rann Bommel über die Mundwinkel und rinnsalte ihm über das Kinn hinab, bis es schließlich auf sein Drachenshirt tropfte. Der Engel, der den Drachen in diesem Motiv ritt, jaulte los und setzte sich die Hörner des Ungetüms auf sein Haupt. Der Drache allerdings begann zu zischen und dampfte aus seinem Maul. Dann flog er mit dem Reiter auf seinem Rücken los, um Bommels Zähne mit seiner gespaltenen Zunge einzusammeln und zu verspeisen.
Bommel war ganz von Sinnen, und sein Zug nach Irgendwo fuhr justament eine Achterbahnstrecke entlang. Die Loopings brachten ihn fast um den Verstand, als sich der Walrossschnauzbart über ihn und der Zahnfee übergab und buttrig verkündete, dass sie den Zielbahnhof im Irgendwo vermutlich bald erreichen würden.
Da schloss Bommel seine Augen, zog die Notbremse, die über seinem Abteilfenster hing, durch das er hinaus in die Welt blicken konnte. Dann zertrümmerte er mit seiner Faust das Glas und klaubte sich ein Stück der Grasnarbe auf, die den Bahndamm säumte, um sich dieses in den blutigen Mund zu stopfen.
Er starb dabei keinen Heldentod, aber ihm wuchsen währenddessen neue Zähne.
© CRK, Le, 2020