15.10.2121: "Märchenstunde!" ...
rief die Oma. "Prima! Ich komme gleich!", antwortete ihr Klein-Andy, ihr achtjähriger Enkel.Und da kam er auch schon angesaust, dieser blauäugige, pausbäckige blonde Srubbelkopf, setzte sich im Schneidersitz vor Omas Ohrensessel und wartete ungeduldig dass Oma ihre Lesebrille aus dem Etui nahm, das dicke Märchenbuch aufschlug und daraus vorlas:
"Es war einmal vor langer, langer Zeit ... da lebte eine junge Frau, die hatte in ihren Garten eine Weide..." "Omi", unterbrach sie Klein-Andy, "Omi, was ist das, eine Weide?"
"Eine Weide? Nun ja. Dies war eine Baumart, sie existierte früher einmal, bevor überall 8-spurige Autobahnen gebaut wurden, die die alten Landstraßen ersetzten und es auch noch einfache Tunnel gab, nicht wie heute solche, die durch Meere gehen und ganze Kontinente verbinden. Du siehst Kind - es ist gut, das diese Bäume verschwunden sind. Den haben sie irgendeinen Gewinn gebracht? Den Profit erhöht? Haben sie sonst irgendeinen Nutzen aufzuweisen - außer Schattenspender im Sommer, und Brennholzlieferer im Winter zu sein? Nein! Nur unnützes Zeug! Zudem Heim- und Brutstätte für Ungeziefer! Und nochdazu Bremse für jeglichen Fortschritt!
Aber lass uns mit unserem Märchen fortfahren ...
"Solange die Weide im Garten der Frau stand, ging es dieser gut. Aber ihr Mann war eifersüchtig auf die Weide, da seine Frau des Nachts von einer Frau in Grün, die in der Weide lebte, träumte, und fällte die Weide. Damit war auch das Leben der Frau zu Ende.
Reumütig begrub der Mann seine Frau unter der Weide.
Ihrem Sohn konnte die Frau auch nach ihrem Tode hinaus so nahe sein: als er klein war, wiegte das Rauschen der Weidenruten ihn in den Schlaf. Später schnitt er aus ihnen sich eine Flöte, und mit ihr war ihm die Stimme seiner Mutter immer nahe."
"Ich will auch so eine Flöte haben!", schrie Klein-Andy. "Artige Kinder sagen möchte", belehrte ihn die Oma. "Aber schau, ist es nicht viel schöner, in Papis schicken Auto mit zufahren? Und warum schnitzen? Die Mami kauft Dir sicherlich eine viel schönere, die glänzt auch ganz toll, weil sie fein lackiert ist. So eine einfache, gewöhnliche Flöte - nein, das ist doch nichts für unseren lieben Andy!
"Aber der Junge war doch so glücklich.", sagte Klein-Andy noch, ehe er traurig in sein Kinderzimmer ging.
"Oh", meinte später am Abend die Oma zu den Eltern von Klein-Andy, "das Märchen war wohl nicht das richtige für seine Altersgruppe."