Pilgerwege
Ein Freund schickt mir eine mail: „Ich bin zurück von meinem Jakobsweg durch Schwaben.“Dieser Jakobsweg erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Man begibt sich auf die Suche nach dem versöhnenden Christus, der die Menschen von allen Leiden erlösen soll, bewogen durch die Fürsprache des heiligen Jakobus, den man wiederum durch das Pilgern gnädig stimmen will. Der Weg und das Wandern dient der Lösung aus den Bequemlichkeiten und Ablenkungen des Alltags, der spirituellen Erfahrung und der Begegnung mit Menschen, die diese Suche eint.
Ich pilgere einen anderen Weg. Täglich, mit dem Fahhrad zum Bus, mit ihm auf Umwegen an den vielen Baustellen vorbei, immmer wieder anhaltend bei Ampeln und Haltestellen, in die nahegelegene Ortschaft, hoch auf die Anhöhe der Altstadt, und dann zu Fuß ins Krankenhaus. Dort besuche ich einen Mann, der schwer krank und erschöpft nach zwei Operationen in seinem Bett auf mich wartet.
Einen Mann, der einmal mein Geliebter war und mich verlassen hat. Ob er jetzt ein Freund ist, weiß ich nicht zu sagen, aber ich fühle noch eine „Verbindung “. Welcher Natur die ist, auch das versuche ich auf diesem Weg zu ergründen. Vielleicht ist es Liebe, aber eine andere, womöglich bessere, als die, die wir einmal hatten. Mag sein, es ist einfach nur Mitgefühl.
Mein Wander-Rucksack ist eine Einkaufstasche, gefüllt mit frischer Wäsche und dem wenigen, was er zu sich nehmen kann und mag: Bananen, Joghurt oder ein kleines Stück Kuchen. Noch dabei, doch nicht in dieser Tasche, habe ich die Sommersonne, Geschichten aus meinem Leben, mein Lachen und die Zuversicht, dass es ein Morgen und ein Draußen gibt.
Ich laufe durch den langen Flur und wie an vielen Tagen treffe ich die gleiche alte Frau, die heute auf dem Gang wartet, weil ihr Mann gerade untersucht wird. Sie lächelt mich an und sagt:
„Ja, jeden Tag, den Gott gibt, machen wir denselben Weg.“
Ich nicke und lächle zurück.
Mit diesem Lächeln betrete ich das Krankenzimmer und grüße zuerst den alten Mann im Nachbarbett. Dann gebe ich meinem Freund einen Kuss und fahre ihm über´s Haar. Heute hat er endlich keinen Blasenkatheter mehr, und so können wir die längst fällige Haarwäsche angehen. Er lässt sich noch eine Dosis von dem starken Schmerzmittel geben, bevor er mühsam aufsteht, gestützt vom Infusionsständer, den er mit seinen drei Flaschen, die ihn mit Nahrung, Flüssigkeit und Medizin versorgen, neben sich herschiebt. Die Strecke quer durchs Zimmer zum Bad scheint lang. Keuchend setzt er sich auf den Schemel am Waschbecken. Ich kämme das verklebte Haar. Am Infusionständer vorbei turne ich in die Dusche, um mit dem Duschkopf sein Haar zu befeuchten. Mit Shampoo massiere ich die Kopfhaut. Er stöhnt leise – vor Anstrengung und auch, weil es ihm gut tut. Dann wasche ich den Schaum wieder aus und wickle ein Handtuch um seinen Kopf. Wir sprechen nur das Nötigste, denn alles ist mühsam für ihn.
Da wir schon einmal im Bad sind, will ich auch seine Füße waschen. Er streckt sitzend die Beine in die Dusche, ich knie nieder und schiebe die Thrombosestrümpfe nach oben. Schweigend lasse ich aus dem Duschkopf lauwarmes Wasser über die geschwollenen Füße laufen und seife sie ab. Ich muss lachen, weil mir ein Gedanke kommt:
„Wir geben schon ein biblisches Paar ab: du der Schmerzensmann mit der Hand am Infusions- Ölbaum, und ich die Maria Magdalena des Frisörsalons.“
Er lacht ebenfalls und zieht gleich hörbar Luft durch die Zähne, denn auch das Lachen schmerzt. Seine Schnittwunde reicht vom Schambein bis zum Magen, wie ein Reißverschluss. Und das ist nur die äußerliche Naht.
Wieder im Bett und alle Schläuche sortiert, sinkt er erschöpft in die Kissen. Ich hole mir einen Stuhl, setzte mich ans Bettende und nehme einen seiner Füße in meine Hände. Mit einer erfrischenden Creme mache ich ihm eine Fußmassage. Ich spüre, wie gut es ihm tut, und sehe das auch an seinen entspannten Gesichtszügen.
Als wir noch ein Paar waren, scheute er Zärtlichkeiten. Jetzt kann er Berührungen anders als damals zulassen und genießen.
Meine Gedanken wandern: Jahrelang habe ich meine Kinder versorgt; sie genährt, gewaschen, geölt und gepflegt, wenn sie krank waren. Ich habe ihnen das Leben gegeben und war die Begleiterin des Lebensanfangs. Nun, selbst alt, werde ich zur Begleiterin von Krankheit und vielleicht auch Lebensenden. Meine Hände sind dieselben und meine Handlungen bleiben die gleichen.
Ich massiere auch seine Hände, durch deren wächserne Haut blaue Flecken von missglückten Blutabnahmeversuchen schimmern.
Er ist müde. Es ist Zeit für mich zu gehen und ihn schlafen zu lassen. Einen Kuss auf meine Hand und einen dankbaren Blick bekomme ich noch zum Abschied.
„Bis Morgen!“
Ich gehe nach draußen, in die Sonne und ins Leben, und laufe wie jeden Tag an einer schönen romanischen Kirche vorbei. Schnörkellos und wuchtig, ein solides Bauwerk wie der Glaube, der es schuf. Zum ersten Mal lese ich den Namen: St. Jakob.
©tangocleo 2009