Der Prinz der Schneckenhäuser - ein Märchen
Als der alte König im Sterben lag, rief er seinen einzigen Sohn zu sich.„Eines musst du mir versprechen, mein Sohn“, flüsterte er mit schwacher Stimme, „liebe niemals eine Frau. Ich habe deine Mutter zu sehr geliebt, und als sie bei deiner Geburt starb, ist mein Herz auseinander gebrochen. Ich musste so viele Jahre mit diesem schrecklichen Schmerz leben, um dich aufwachsen und stark werden zu sehen. Ich habe sie jeden Tag vermisst. Das soll dir einmal nicht so gehen. Suche dir eine Frau, aber liebe sie nicht. Du musst einen Weg finden, das zu vermeiden. Versprich es deinem Vater!“
Das waren seine letzten Worte. Der Prinz dachte lange über diese schwere Aufgabe nach. Wie sollte er eine Frau finden, die er zwar zu seiner Königin machen wollte, aber nicht lieben würde? Er hatte sich auf die Liebe gefreut und erwartungsvoll in eine Zukunft geblickt, in der ihm ein liebenswertes Mädchen begegnen würde. Und nun sollte das nicht geschehen dürfen?
Er ging traurig und nachdenklich durch den Wald. Da begegnete ihm ein altes Weiblein, das Holz für den Winter sammelte. Als sie die Falten auf der Stirn des Prinzen sah, fragte sie nach seinen Sorgen. Der Prinz, dankbar eine Zuhörerin gefunden zu haben, erzählte ihr von dem schwer zu erfüllenden Wunsch seines Vaters. Das Weiblein lächelte, als er zu Ende gesprochen hatte:
„Ei, da weiß ich Rat!“
Und sie griff in ihre Schürzentasche und gab ihm erst eine Handvoll leerer, vielfarbiger Schneckenhäuser. Dann schälte sie von den Birkenästen, die in ihrer Kiepe waren, einige weiße Rindenstücke ab.
„Wenn euch jetzt ein Mädchen begegnet, das euch gut gefällt, und bei dem ihr befürchten müsst, euer Herz zu verlieren, dann schreibt das, was euch beglückt, auf die Birkenhaut, rollt diese zusammen und schiebt sie in eins der Schneckenhäuschen. Dann ist die Liebe gefangen, und euer Herz bleibt frei.“
Der Prinz dankte der Alten, die kichernd weiter zog, und steckte die Gaben in seinen Beutel.
Wochen nach der Beerdigung seines Vaters ließen seine Ratsherren ein großes Fest veranstalten, zu dem viele der schönsten und edelsten jungen Mädchen des Landes geladen waren, auf dass der Prinz sich eine Königin aussuchen sollte. Beim abendlichen Ball sollte er seine Wahl treffen. Er tanzte mit der ersten, der Tochter eines angesehenen Ritters. Sie hatte langes blondes Haar, das wie Seide ihren Rücken hinabfloss. Dieses Haar, sein Schimmer, entzückte ihn, sodass er es immer und immer wieder berühren wollte. Schon fürchtete er um sein Herz und rannte schnell auf sein Zimmer. Dort schrieb er „Goldenes Seidenhaar“ auf eines der Birkenstücke und stopfte es in ein Schneckenhaus. Gleich fühlte er sich befreit und ging aufs Neue zum Tanz. Die Nächste hatte bezaubernde Augen. Die betörten ihn an, sobald er das Mädchen ansah, und er konnte den Blick nicht abwenden. Als der Tanz vorüber war, stürzte er in sein Zimmer und verbannte die schönen Augen ins nächste Schneckenhaus.
Die Tochter eines Gutsherren aus der Nachbarschaft hatte ein so entzückendes Figürchen, dass er immer wieder auf das geschnürte Mieder und den Busen, der sich darüber wölbte, schauen musste. Auch dieser Mädchenzauber wurde in ein Schneckenhaus gesteckt. Als er zurück in den Saal kam, hörte er neben sich ein glockenhelles Lachen. Er forderte die Lustige zum Tanz. Bei jeder Drehung lachte sie mehr, und er drehte sich immer wilder, damit er das Lachen noch öfter hören konnte. Ganz schwindlig rannte er auf sein Zimmer. „Das Lachen“ verschwand auch in einem Schneckenhaus.
Da ihm noch immer schwindlig war, auch vom vielen Schreiben, setzte er sich im Ballsaal an einen Tisch und prostete einem Mädchen zu. Sie kamen ins Gespräch, und sie wusste so klug und geistreich mit ihm zu reden, dass er sofort wieder um sein Herz fürchtete. Er flüchtete auf sein Zimmer und zum Schreibtisch. So ging es immer weiter und am Ende des Abends war er vollkommen erschöpft vom Treppenlaufen. Er hatte zwar sein Herz nicht verloren, aber auch noch keine Königin in Aussicht. Dafür aber eine stattliche Schneckenhaussammlung gefüllt: Augen, Haare, ein Kussmund, das Figürchen, das Lachen, die Klugheit und entzückende Füße hatte er schon aus seinem Herzen verbannt. Zuletzt auch noch die Temperamentvolle, die ihn gar nicht mehr vom Tanzboden lassen wollte. Sollte seine Königin all diese Eigenschaften nicht haben?
Wäre das nicht entsetzlich langweilig?
Am nächsten Morgen machte er wieder einen Waldspaziergang. Er dachte an seinen Vater, die Mutter, die er nie gekannte hatte, und die schwere Bürde, die ihm das Versprechen auferlegt hatte. Plötzlich hörte er Gesang. Eine zarte Stimme schickte eine wunderschöne Melodie durch den dichten Wald. Er folgte den Tönen und sah auf einer Lichtung ein Mädchen mit einem Korb. Ihr braunes Haar war in dicken Zöpfen um den Kopf gewunden. Anmutig bückte sie sich immer wieder, um die Beeren zu pflücken, die zu ihren Füßen wuchsen. Fröhlich sang sie dabei, als ob die Arbeit sie nicht anstrengen würde. Er näherte sich ihr und sprach sie höflich an. Sie wandte ihm ihr Gesicht entgegen. Er schaute in ein Paar warmer brauner Augen, die ihn offen anblickten.
„So sehen wir uns also wieder, mein Prinz!“
Der Prinz konnte sich nicht erinnern, diese Augen oder diesen herrlichen roten Mund schon einmal gesehen zu haben, doch er brachte vor Entzücken keinen Ton hervor. Die Schöne hielt ihm lächelnd ihren Korb hin, und er meinte solch ein Lächeln noch nie gesehen zu haben. Da er auf ihr Angebot, Beeren zu nehmen, nicht reagierte, nahm sie ein paar davon zwischen ihre zarten Finger und schob ihm die süßen Früchte in den offen stehenden Mund. Sie zog ihn zu sich auf die Wiese und fragte ihn nach dem gestrigen Fest. Sie lachte herzlich über manche seiner Schilderungen. Das Lachen steckte ihn an. Doch dann trübte sich seine Stimmung wieder, denn schon bald würde die Versammlung des Hohen Rates sein, bei der er eine Königin benennen müsste. Sie gab ihm den Rat, geduldig abzuwarten, die rechte Frau würde ihm schon noch begegnen. Als sie aufstand um zu gehen, sah er ihre nackten Füße, wohlgeformt und zierlich. Sie ging mit leichtem Schritt davon.
Als sie zwischen den Bäumen verschwunden war, erwachte er wie aus einer Betäubung. Er wollte ihr nachrufen, sie fragen, wann er sie wieder sehen könnte, doch sie war nicht mehr zu sehen. Sein Herz fühlte sich schwer und leicht zugleich an. War das die Liebe, vor der er so gewarnt war? Er hetzte durch den Wald, zurück ins Schloss und vorbei an verblüfften Dienern auf sein Zimmer. Und nahm ein Birkenstück und begann zu schreiben.
Er beschrieb ihre helle Stimme, ihr schönes Gesicht, ihr Haar, ihren Wuchs, ihren Fleiß, ihre Finger, ihre Großzügigkeit, ihre Klugheit, ihr Lachen.....viele Birkenstücke waren bald mit enger Schrift gefüllt. Doch er hatte nur noch ein Schneckenhaus übrig. Mit zwei Birkenbriefchen war es dem Platzen nahe. Er versuchte weitere Rinden in den bereits gefüllten Schneckenhäusern unterzubringen; vergeblich, noch immer lagen zu viele liebenswerte Eigenschaften des Mädchens vor ihm. Erschöpft schlief er über dem Tisch ein.
Im Traum sah er das Mädchen wieder, sie hatte eine Krone auf ihren Zöpfen und anstatt des Beerenkorbes eine Wiege im Arm.
Als er erwachte, hatte er heillose Angst. Sollte sie seine Königin werden, dann würde er sie lieben müssen. Würde sie aber nicht seine Frau, würde er sich für immer nach ihr sehnen. Angstvoll rannte er erneut in den Wald. Er musste die Alte treffen und sie um weitere Schneckenhäuser bitten. Den ganzen Tag lief er zwischen den Bäumen umher, ohne sie zu finden. Auf einem moosigen Stein ruhte er sich aus und schlief ein.
Ihm träumte, das ganze Schloss sei voll Schneckenhäuser und niemand konnte sich bewegen, aus Angst, die Schneckenhäuser zu zertreten und damit die Liebe frei zulassen. Die Schneckenhäuser wurden immer mehr und er drohte, zwischen ihnen zu ersticken. Er erwachte schreiend und sah neben sich das Mädchen, das ihn freundlich anblickte. Um ihren Hals hing eine Kette aus Schneckenhäusern. Er griff danach.
„Gib mir noch ein paar davon, ich brauche sie“, bat er.
Sie lachte:
„Du lieber, dummer Prinz, glaubst du, du kannst die Liebe aus deinem Herzen verbannen, in dem du sie aufschreibst? Und wenn du alle Birken in diesem Wald beschriften würdest und alle Schneckenhäuser des Erdreichs damit füllen würdest, es gibt keinen Zauber gegen die Liebe. Wenn die Liebe nach deinem Herzen greift, öffne es ihr. Sie wird dir immer mehr geben als nehmen. Auch mein Herz ist voll davon, voller, als ich jemals beschreiben könnte. Also lass uns diese Liebe leben, ohne Furcht vor den Schmerzen, die sie vielleicht bereiten kann. Denn ein Herz ohne Liebe ist ein totes Herz. Das kann auch dein Vater nicht gewollt haben.“
Damit gab sie ihm einen Kuss und ging mit ihm auf sein Schloss, wo sie ihm eine liebevolle Frau, ihren Kindern eine zärtliche Mutter und seinem Volk eine gute Königin wurde.
©tangocleo 2009