Guten Morgen, seid ihr alle da?
Diejenigen von euch, die unsere gestrige Geschichte mir zugeschrieben haben, lagen falsch
– es war
@*******tee , die uns zeigte, wohin einen die Sehnsucht führen kann.
Die heutige Geschichte entführt uns in ein Land vor langer Zeit, wo Dinge geschehen, die den Lauf der Geschichte hätten ändern können, wenn nicht ein Sack Reis umgefallen wäre…
Die verhexte Weltformel
Es mochte im fünften Jahr der Regentschaft des ehrwürdigen Kaisers Hongzhi gewesen sein, als der Schriftgelehrte und Erfinder Yi –é-Shí frühmorgens seine Schriftrollen in sein bereits prall gefülltes Lastentuch verstaute. Schwer lastete das Bündel auf seinem Rücken, als er kurz nach Sonnenaufgang mit der Monatsproduktion handgefertigter Sonnenschirme und der kärglichen Ernte der Maulbeerbäume seine Hütte nebst seinem stets nörgelnden Weib und seiner fünf ewig hungrigen Kinder verließ. Nicht ohne die mahnenden Worte seines Weibes mit auf dem Weg zu nehmen, welche ihn noch bis zum Ende des Bergdorfes hinterherschallten.
Sein Weib hatte es wahrlich nicht leicht mit ihm. Musste sie doch immer ein Auge auf ihn haben. Ging doch seine Gelehrsamkeit regelmäßig mit verhexten Träumereien und einer ausufernden Vorliebe für den Pflaumenschnaps einher. Er solle nicht wie so oft herumtrödeln und ohne Umschweife den geradesten Weg in die gut zwei Tagesmärsche entfernte Gebietshauptstadt nehmen. Um seine Zerstreutheit wissend steckte ihm das Weib einen handgeschriebenen Einkaufszettel mit einem Nackenschlag zu. Dass er nur nicht vergaß, rechtzeitig vor der Wintersonnenwende ausreichend Reis in der Stadt einzutauschen, damit Weib und Kinder in den Wochen des starken Schnees nicht hungern und darben müssten.
Das Geschäft mit den Sonnenschirmen ging schlecht, nachdem die Mode am kaiserlichen Hof des Zhu Youtang das Umhertragen der aus Bambuspapier gefalteten Schirme als zu beschwerlich erachtete. Und sich alle Welt in üppige Seidengewänder hüllte, die den Unbillen von Sonne, Wind und Regen genauso gut trotzten. Es dauerte viele entbehrungsreiche Monde, bis Yi –é-Shí eine Erfindung machte, die ihn zuversichtlich stimmte, neben seinem Geldbeutel auch die Mägen seiner Kinderschar zu füllen. Und ihm die Zeit zu schenken versprach, um sich endlich den aufdrängenden Fragen nach den Kräften des Universums und allem Seins widmen zu können. Vom Weibe scheinbar unbemerkt schneiderte Yi –é-Shí mondelang beutelartige Stoffgebilde, welche nur an die Kragen der Seidengewänder geheftet werden mussten und das Tragen der klobigen Bambushüte entbehrlich machte. Eine Idee, welche er dem kaiserlichen Patentamt in der Stadt vorzustellen und dann mit der Gunst der Oberen auf dem städtischen Hauptmarkt feilzubieten gedachte.
Er beschloss, diese modische Revolution nach seinem verstorbenen Meister Ka-Puh-Tse zu benennen, welcher ihn neben dem Handwerk des Sonnenschirmfertigens auch in die Künste des edlen Tuchschneidens einweihte.
Beschwerlich war der Abstieg von den Anhöhen. Tief sanken die Füße im knietiefen Schnee, der jeden Meter des Bergpfades ausfüllte. Schwer lastete das Lastenbündel, je länger er unterwegs war. Wachsam musste er sein, gähnten ihm doch klaffende Abgründe entgegen, welche sich durch die tiefhängenden Nebelschwaden unvermittelt auftaten.
Auch wenn die Verlockungen der Stadt seinen Schritt beflügelten, so würde es ihm nicht gelingen, sein Ziel an einem Tag zu erreichen. Die Dunkelheit setzte bereits ein, als sich Yi –é-Shí müde und durchgefroren in einer Höhle verkroch und ein Feuer entfachte. Begleitet mit Gebeten zu den Feuergeistern, deren Beistand er sich gegen die dunklen Mächte und den Gestalten der Nacht erflehte. Wolfsgeheul mischte sich mit dem unheimlichen Wispern der unglücklichen Ahnen, denen der ewigen Seelenfrieden verweigert schien und deren Seelen bereits weit vor den Raunächten rastlos nach neuen Verkörperungen suchten. Mühsam nur hielt Yi –é-Shí sich wach und im Knistern des vor ihm züngelnden Feuers durchforschten seine Augen die Unendlichkeit des nächtlichen Sternenzelts. Staunend eröffneten sich ihm das Firmament und damit auch die Fragen nach den großen kosmischen Wahrheiten. Dankbar ließ er sich von diesen Fragen durch die Nacht leiten. Wusste er doch, dass die angerufenen Feuergeister auf dem Berg immer dann von den umherstreunenden Wölfen und Schlangen abließen, sobald ein Lebender nächtens die Augen schloss.
Leichter Schneefall setzte ein, als Yi –é-Shí kurz vor dem Morgengrauen vom Nachtlager aufbrach. Auch wenn sich das Lastenbündel auf seinem Rücken zusehends von der Nässe des Schnees vollsog, wurden seine Schritte leichter. Nur noch dieser eine Aufstieg zur letzten Anhöhe, dann würde es nur noch gut zwei Stunden bis in die Stadt dauern.
Bereits vom letzten Bergkamm aus konnte Yi–é-Shí die Tore der Stadt erkennen. Und Zuversicht breitete sich in seinem Herzen aus, als er den steilen Bergkamm herabsteigend die göttlichen Vorboten des kaiserlichen Tors am Stadtrand erspähen konnte. Im kaiserlichen Tor konzentrierte sich nicht nur die weltliche Macht des Kaisers, sondern nach alten Überlieferungen auch sämtliche kosmische Energie. Beim Anblick dieses Doppeltores, welches die Kräfte des Ying und Yang bündelte, stutzte Yi –é-Shí. War es nun ein „M“, welches die Kräfte des Chi sammelte oder ein umgestürztes „E“, durch welches jeder Besucher der Stadt schreiten musste. Als ein Reisbauer aus der Stadt kommend das kaiserliche Tor durchschritt, ergriff Yi –é-Shí noch mehr Verwirrung. Waren es womöglich zwei „C“, welche den Inbegriff kosmischer Macht symbolisierten? Von einem Moment auf das Andere durchzuckte Yi –é-Shí der zündende Gedanke: E=mc².
Welch kosmische Erkenntnis. Mit Tränen in den Augen sank Yi –é-Shí nieder und konnte sein Glück kaum fassen. Sämtliche Gewissheiten und Zweifel schienen sich in dieser Weltformel zu vereinen. Und den mittlerweile vom Alter gebeugten Gelehrten für die vielen Mühen zu entschädigen, welche er über viele Jahrzehnte der Meditation und dem Studium alter Schriftrollen auf sich nahm. Hastig kramte Yi –é-Shí in seinen Taschen und dem Lastentuch, damit ihm diese Formel im hektischen Gewimmel der Stadt nur nicht verloren ginge. Missmutig musste er aber feststellen, dass er bei aller akribischen Planung offenbar versäumt hatte, seinen Kalligraphiepinsel mit auf die Reise zu nehmen. Hilflos blickte er um sich. Dieser Gedanke, diese Weltformel durfte keinesfalls verloren gehen und musste den Weg in die Welt nehmen. Töricht der Gedanke, diese Formel in den Schnee zu ritzen. Und so wanderte sein Blick zu einer windgeschützten Felsspalte abseits des Pfades. Der schneegeschwängerte Bergkamm hüllte sich zusehends in dichten Nebel. Es galt, keine Zeit zu verlieren und so ritzte Yi –é-Shí die Weltformel flugs unter dem schützenden Geäst eines Gingkobaums in den Waldboden.
Die Oberen des kaiserlichen Patentamtes zeigten sich gütig und so fand sich Yi –é-Shí mit einem kaiserlichen Siegel versehen flugs auf dem Marktplatz wieder, auf welchem ihm die reichen Bürger der Stadt seine Stoffbeutel regelrecht aus der Hand rissen. Stolz und mit prall gefüllten Reisbeuteln brach er bereits in den frühen Nachmittagsstunden auf. Leicht wurde sein Schritt angesichts des freudigen und dankbaren Lächelns, welches ihn wohl zuhause empfangen würde, wenn seine schmächtige Gestalt mit vollen Taschen die Eingangspforte ausfüllte.
Das Wetter schlug um und das Schneetreiben nahm stetig zu, je höher er an der ersten Bergkette aufstieg. Kaum konnte man noch die Hand vor Augen sehen, als Yi –é-Shí die Stelle erreichte, an der er die Weltformel in den Waldboden ritzte. Steil war der Hang zu dem Gingkowäldchen und die Last der schweren Reisbündel auf seinem Rücken drückte schwere Schweißtropfen auf Yi –é-Shís Antlitz. Das Geäst der Gingkobäume beugte sich unter der Last des Schnees und Yi –é-Shí konnte unter der knietiefen Schneeschicht besten Willens nicht mehr ausmachen, wo er die Weltformel in den Waldboden ritzte. Unwillig und zunehmend wütend kratzte er ziellos im Schnee, bis er unter der Last der Reisbündel das Gleichgewicht verlor und mitsamt dessen den Berghang herunterrutschte. Schlimmer noch als die unzähligen Beulen und lädierten Knochen wog, dass sich das Lastentuch im Fallen öffnete und sich dessen Inhalt über den gesamten Berghang verteilte. Über Stunden mühte sich Yi –é-Shí, jedes noch so kleine Reiskorn aus dem Schnee zu klauben, bevor er sich gebeugt und verzweifelt auf dem Heimweg machte.
Drei Tage dauerte es, bevor sich Yi –é-Shí wieder in sein Heimatdorf traute. Mit erschrockener Miene nahm ihn sein Weib in Empfang, so wie er sich dann durchnässt und nur noch mit einem Stiefel in die Hüte stahl. Der Schrecken des Weibes wich zügelloser Wut, als sie erkannte, dass der von Schmutz und Schnee durchsetzte Reis bereits aufgequollen war und in nur wenigen Tagen verderben würde.
Im Dorf vernahm man in den kommenden Wochen nur noch selten Yi –é-Shís Stimme. Allenfalls vernahmen die Dorfbewohner nur die Wehklage der hungernden Kinder und die Schmerzschreie Yi –é-Shís, wenn der Rohrstock seines erzürnten Weibes auf ihn niedersauste. Man gewöhnte sich daran und an die Erkenntnis, dass oftmals ein großer Geist scheitert, wenn in China ein Sack Reis umfällt. Keiner ahnte seinerzeit, wie entsetzlich dieser Verlust des Wissens für das Reich der Mitte tatsächlich ausfiel. Fiel doch das große Reich mit dem Untergang der Weltformel in eine dunkle Zeit. In der es bestimmt war, dass es dann einer Langnase wesentlich später und viele tausend Meilen entfernt vorbehalten blieb, die Weltformel dem Kosmos und dem Dunkel der Zeit zu entreißen.
Das Reich der Mitte wiederum fiel über Jahrhunderte gegenüber anderen Mächten technologisch zurück. Ein Rückstand, der sich erst mit der Erfindung solarbetriebener Glückskatzen auszugleichen schien.
Yi –é-Shí und sein Wirken gerieten bereits eine Generation später in vollkommene Vergessenheit. Lediglich die Gewohnheit, wie seinerzeit Yi –é-Shí einen Mond vor der Wintersonnenwende seinen Stiefel achtlos vor die Haustüre zu werfen, überdauerte die Zeiten. Wenngleich auch keiner mehr so recht wusste, weshalb. Genauso, wie sich die wahre Bedeutung der Weisheit im Dunkel der Geschichte verlor, wenn in China mal ein Sack Reis umfällt.