Das zwanzigste Türchen
Guten Morgen, liebe Mönch:innen
, dann will ich mal die Glocke läuten und verkünden, wem wir die gestrige Geschichte von der Hexe, die nicht in den Ofen, sondern in die hohe See geschoben wurde, zu verdanken haben:
@*********Joe62 war es. Ich drück Dir die Daumen, dass Du Deine Brille wiederfindest, was für ein Albtraum, ohne Brille zu sein.
Heute wird es raunächtig, es ja bald soweit.
Die Kraft der Raunächte
Die Raunächte… sie sind lang, sie sind kalt und sie sind vor allem eines: Sie sind dunkel! Sie beginnen am 25. Dezember und sie währen zwölf Nächte. Die Zeit der Geister, sie endet am 6. Januar. Zwölf Nächte, in denen so viel geschah, dass unzählige Mythen sich um sie ranken. Wahrlich die interessantesten sind die aus dem Norden, um Freya, um Odin, um Thor.
Ana nahm die Sache mit den Raunächten ernst, sehr ernst sogar. Anfangs war es nur ein faszinierendes Mitfiebern in alten Sagengeschichten gewesen, ein Lauschen auf die Gottheiten vergangener Völker und Kulturen. Eine Spurensuche. Doch dies Jahr war sie einem Lockruf gefolgt, den ein Rabe von einer alten Trauerweide herab ihr zugekrächzt hatte. Eine Idee war geboren.
Pünktlich in der Nacht der Wintersonnenwende, dem großen „Mutterfest“, begab Ana sich nicht an den Ofen, um Plätzchen zu backen. Sie war auch nicht damit beschäftigt die Tanne zu schmücken, draußen im Freien der großen Dunkelheit zu huldigen, oder sich zu besinnen. Stattdessen ging sie in ihre Schreibstube und entzündete eine Kerze. Wartete einen Moment, bis der Raum sich genügend erhellt hatte, sodann schnitt sie 13 gleichgroße, quadratische Zettel zurecht. Auf jedem dieser Zettel schrieb sie einen Wunsch, den sie sich selbst erfüllen wollte und konnte. Sie ließ sich viel Zeit mit dem Ausfüllen, denn die Nacht war lang und dunkel, es war die längste Nacht des Jahres, wie jedermann weiß und jede Frau auch.
So kam es, dass sie erst mit ihrer Aufgabe abgeschlossen hatte, als der junge Morgen zarthimmelblau dämmerte. Erst dann faltete sie die 13 Zettel zusammen und verwahrte sie in einer bronzenen Schale. Um dem Schicksal die Wahl zu überlassen, welcher dieser 13 Wünsche es letztendlich sein sollte, den Ana sich zu erfüllen hatte, wollte sie in jeder Raunacht ein gefaltetes Papier verbrennen. Nur den einen Zettel, den dreizehnten, der letztendlich übrig blieb, den durfte sie öffnen.
Am Abend der neunten Raunacht ließ Ana sich ein heißes Wannenbad einlaufen. Wohlriechende Kräuter und Essenzen entspannten ihre Sinne, das heiße Wasser ihren Körper, und die Gedanken schweiften hinfort, hin zu einem Schamaninnen-Workshop, an dem sie vor ein paar Wochen teilgenommen hatte, um die Wölfin in sich, das Urweib, zu entdecken. Eine Freundin hatte sie darauf aufmerksam gemacht, und sie dachte, warum nicht auf der Suche nach dem Sinn des Lebens einfach direkt bei mir selbst anfangen? Sie ließ ihre Gedanken sich weiter ausbreiten. Und da sah sie wieder das Bild. Das Bild von der Hüterin des Feuers. Das ist das Erbgut, das seit tausenden von Jahren von Frau zu Frau weitergegeben wird. Das ist es. Die Frau sitzt und wacht am Feuer und draußen streunen die wilden Männer umher. Sie sehen das Feuer, wollen natürlich hin. Dahin, wo es warm ist. Dahin, wo die Frau ist. Sie begehren das Feuer, begehren das Weib. Die Männer sind erregt, wollen hin. Bloß die Frauen lassen sie nicht so einfach heran. Sie sind wählerisch. Kann er sie auch beschützen? Ist er stark? Kann er sie ernähren, bringt er genügend Beute heim?
Sie warten ab, sie sind kritisch. Sie schauen sich an, was die Männer anstellen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht wirft der wilde Mann ihr einen besonders fetten Hasen vors Feuer, vielleicht zeigt er ihr stolz seine Verwundungen, seine Narben aus irgendwelchen Kämpfen, vielleicht präsentiert er ihr das prächtige, steife Glied. Und die anderen Männer auch, buhlen um die Gunst des Weibes.
„Kruzifix!“, brummte Ana in ihrer Wanne. „Was sind das nur für verdorbene Gedanken?“ Vielleicht ist es aber auch nur ein Lächeln, ein bestimmter Blick, seine wundervollen blau-grünen Augen, die wie kristallene Bergseen am frühen Morgen im ersten Sonnenlicht strahlen. Vielleicht ist es auch von allem etwas, versuchte sie sich abzulenken, und das Bild von hart aufgerichteten Penissen, die alle verlangend auf sie ausgerichtet waren, aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Ja, so muss es gewesen sein, früher. Erst wenn die Frau sich sicher ist, dass ER es ist, den sie ans Feuer lässt, den sie zu sich lässt, wählt sie ihn aus. Aber wie ist sie sich sicher? Gab es früher eine tief ausgeprägte Intuition? Die viel gelobte weibliche Intuition? Sehr wahrscheinlich. Vermutlich war diese Intuition für die Frauen überlebenswichtig. Und die Männer? Die waren aller Voraussicht nach überglücklich, dass sie der Auserwählte waren und benahmen sich dann auch entsprechend männlich. Sie gaben der Hüterin alles, was ein Mann geben konnte. Sie übernahmen die Verantwortung für den Gral, verteidigten ihn, versorgten ihn und gaben der Frau das, was sie brauchte. Der Mann nimmt die Frau und die Frau gibt sich ihm hin. Oder gibt der Mann ihr seine Männlichkeit und die Frau nimmt es an? Geben und Nehmen. Wie Yin und Yang, dachte Ana und lächelte vergnügt. Irgendwie ist alles schon seit Urzeiten bekannt.
Und heute? Sie dachte an ihre eigene geschiedene Ehe. Man hatte sich nichts mehr zu sagen, das Feuer war raus, war erloschen. Sie, die Hüterin, konnte es nicht verhindern, weil er, der Mann, kein neues Holz mehr brachte. Geschweige denn hackte. Und was die weibliche Intuition anging… Sie schnaubte selbstkritisch. Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte die sich in ihrem Fall als ähnlich zuverlässig erwiesen wie eine Wünschelrute aus Zuckerwatte. Sonst wäre ihre Wahl damals wohl kaum ausgerechnet auf einen Mann gefallen, der ihr statt eines fetten Hasen sein gesammeltes Selbstmitleid zu Füßen legte.
Missmutig tauchte sie unter, ließ bedächtig ein paar Blasen blubbern, zählte langsam bis 30, bevor sie wieder hervor kam und begierig die Luft einatmete. Nein, so konnte es nicht mehr weiter gehen, es musste etwas geschehen. Sie ging nun auf die 40 zu, die Uhr tickte.
Und so fokussierte sie heute am Neunten noch einmal all ihre Energie und Gedankenkraft auf den einen Wunsch, dass der zum Schluss übrig blieb und sie ihn sich erfüllen konnte.
Sie hatte einen Kimono übergeworfen, sich die Haare geföhnt, ihr Lieblingsparfum aufgetragen und kniete nun vor dem offenen Kamin. Das trockene Birkenholz knisterte und knackte, orangerote Flammen leckten sich feurig über die Scheite, sprachen mit verlockenden, gutturalen Stimmen aus längst vergangenen Zeiten. „Ana … Annapūrṇā, die Göttin der Nahrung und des Überflusses, sie ist bei dir. Vertrau ihrer Kraft und ihrer Lebensfreude”, so wisperte ihr das Feuer zu.
Fünf blieben noch. Nur fünf. Die magischen 5. Und Ana war optimistisch, dass diese eine auf Papier gebannte Idee darunter war. Alle Zeichen schienen dafür zu sprechen. Schauten da nicht lodernde Augen aus diesem Feuer? Augen, die bis ins Mark ihrer Wünsche blickten? Die alles zu sehen schienen und ihr ermutigend zuzwinkerten? Tanzten da nicht flackernde Gestalten zwischen den Flammen, geboren aus Schatten und Glut und ihren eigenen Gedanken? Schwestern ihrer Fantasie. Mit feurigen Fingern schienen sie ihr über den Rücken zu fahren und Botschaften auf ihre Haut zu schreiben. Jeder Buchstabe ließ einen feinen Reiz durch ihre Nervenbahnen vibrieren und schenkte ihr noch ein Quäntchen mehr Kraft. Voll der inneren Einkehr und verbunden mit dem Universum, mit der Energie der Alleinheit, langte Ana in die Bronzeschüssel, vermischte die verbliebenen gefalteten Papiere und übergab letztendlich auch den neunten Zettel dem Feuer. Sah gebannt dabei zu, wie die Flammen ihn gierig verschlangen.
Oh ja: Am Ende dieser Raunächte würde sie genug von der Kraft gesammelt haben. Sie würde stark genug sein, um sich diesen 13. Wunsch tatsächlich zu erfüllen. Und das Feuer würde nicht wieder verlöschen. Diesmal nicht.