Das vierundzwanzigste Türchen
Guten Morgen und frohe Weihnachten, ich sehe, dass einige von euch richtig lagen mit ihrem Tipp:
@****59 hat uns die gestrige Geschichte geschenkt und uns zum Nachdenken gebracht.
Die heutige Geschichte ist auch eine Nachdenkgeschichte, über einen ganz besonders verhexten Weihnachtsabend - elle voilà:
Als ich acht Jahre alt war, lebte ich für ein halbes Jahr bei meinen Großeltern in Rostock, zusammen mit ihren fünf Söhnen. Nach dem Krieg hatten sie sich von Elbing in Polen mit Sack und Pack zu Fuß bis nach Rostock durchgeschlagen und jede schlechte Lektion mitgenommen, die das Leben auf Lager hat. Es hatte ihnen eine harte Schale verpasst und erst, als ich viel älter wurde und sie nicht mehr da waren, verstand ich, wie heiß die Liebe für ihre Kinder darunter gebrannt hatte.
Einen Monat vor Weihnachten mussten wir unsere Wünsche für den Weihnachtsmann aufschreiben. Damals wusste ich zwei Dinge: Dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und dass mir mein Großvater die Ohren langziehen würde – im wahrsten Sinne des Wortes – wenn auch nur ein Schreibfehler oder Fleck auf dem Zettel war. Ich hätte natürlich meine Onkel um Hilfe bitten können, aber dann hätten sie gewusst, was ich mir am liebsten wünsche; hatte Angst, sie würden das gegen mich benutzen, es sich selbst wünschen, so dass ich es nicht mehr bekäme oder sie würden mich damit hänseln. Also schrieb ich keinen Wunschzettel. Oma hatte mich lieb, das wusste ich und sie würde mich bestimmt nicht vergessen, da war ich mir sicher.
Am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezember saßen wir alle im Herrenzimmer, dem Refugium meines Großvaters, um den großen Weihnachtsbaum herum. Oma spielte auf dem Klavier Weihnachtslieder, wir sangen aus voller Kehle und zum Schluss sagte jedes der Kinder ein Gedicht auf. Dann durften wir uns auf die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum stürzen. An jedem war ein Namensschild befestigt und wir scherzten, lachten, jauchzten und reichten es reihum, bis vor jedem ein Haufen Päckchen lag. Vor jedem, nur nicht vor mir. In dieser Nacht habe ich bitterlich geweint. Ich habe mich von allen verlassen gefühlt, keiner war da, der mich lieb hatte, niemand verstand mich. Nicht einmal meine Oma kam, um mich zu trösten.
Am nächsten Morgen brachte sie mir Frühstück ans Bett und setzte sich zu mir. Das hatte sie noch nie getan, sie hatte ihre Liebe immer hinter Strenge verborgen und ich, so schien es mir damals, hatte davon immer am meisten abbekommen. Sie sah mich einen Moment irgendwie nachdenklich an, dann lächelte sie ihr Omalächeln, das ich so sehr liebte – vielleicht, weil ich es so selten sah und strich mir über den Kopf.
„Alle Menschen wollen in ihrem Leben zwei Dinge und davon so viel, wie sie nur bekommen können“, sagte sie. „Sie wollen Aufmerksamkeit und sie wollen Liebe. Und sie wollen ganz viel davon. Doch man bekommt sie nicht umsonst, weißt Du? Man muss sagen: Ich will, dass Du mich beachtest. Man muss sagen: Ich will Liebe. Aber je lauter man das sagt, umso mehr schauen andere auf Dich. Das kann aber weh tun, wenn Du so im Mittelpunkt stehst und deshalb duckst Du Dich und flüsterst nur noch: Hab mich lieb, guck mal, ich bin auch noch da. Ich tu doch nichts, hab mich lieb, nur weil ich geboren wurde, weil ich atme. Du willst Aufmerksamkeit und Liebe, ohne etwas dafür zu tun, ohne ein Risiko einzugehen. Aber so funktioniert die Welt nicht, mein Enkel.
Du bekommst Aufmerksamkeit nur, wenn du etwas leistest, dass diese Aufmerksamkeit wert ist. Du bekommst Liebe nur, wenn Du Liebe gibst. Wenn Du das nicht verstehst, wirst du ein Tapetenkritzler und ein Papierballwerfer oder noch schlimmer, ein böser Troll.“
Ich muss sie ziemlich verständnislos angesehen haben und sie lachte. „Tapetenkritzler sind Kinder, die glauben, dass sie von ihren Eltern nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Sie bekritzeln dann die Tapeten zu Hause. Die Schelte, die sie dafür bekommen, ist für sie immer noch besser, als gar keine Aufmerksamkeit. Na ja, und Papierballwerfer sind die Kinder in Deiner Klasse, die den Unterricht stören. Sie können vielleicht keine fünf Worte geradeaus schreiben und bekommen deshalb auch nicht so viel Lob wie Du. Deshalb stören sie den Unterricht, weil sie so wenigstens Aufmerksamkeit von denen bekommen, die so sind wie sie.“
Sie stand auf. „Deine Weihnachtsgeschenke haben Großvater und ich heute Morgen unter den Baum gelegt. Aber merk Dir das. Wenn Du etwas willst, musst Du Dich auch trauen, es zu sagen. Natürlich in der richtigen, in der angemessenen Form und die ist ganz bestimmt nicht Schreien. Sonst bekommst Du es nämlich nicht.“
Sie wollte hinaus gehen, aber ich hielt sie fest. „Oma, und was sind die bösen Trolle?“
„Tja, weißt Du ...“, sie blieb in der Tür stehen und senkte die Stimme. „Das sind die bösen Ungeheuer aus den Märchen. Sie machen nichts selbst; sie ducken sich vor allem weg und sind neidisch auf die, die den Mut haben, das nicht zu tun. Weil sie denken, dass die anderen die Aufmerksamkeit und Liebe bekommen haben, die eigentlich Ihnen zustünde. Dann ziehen sie diese in ein tiefes schwarzes Loch, da, wo sie selber hausen. Sie sind zu feige, sich auf ehrliche Art und aufrecht das zu erkämpfen, was sie wollen.“
„Kann man denn nichts dagegen tun?“ Ich stellte mir große, uralte Monster vor, mit Krallen an den Händen, schuppiger Haut und schiefen, verfaulten Zähnen und eine Gänsehaut lief mir den Rücken herunter.
Meine Großmutter lächelte. „Aber ja doch. Rede nicht mit ihnen, denn dann gibst du ihnen genau das, was sie wollen. Du fütterst sie mit Deiner Aufmerksamkeit und zum Dank dafür entziehen sie Dir alle Deine Kräfte, nehmen dir Deine Stärke und du wirst klein und hässlich wie sie.“
Ich war ein Kind. Für mich waren alle Erwachsenen wie meine Großeltern und meine Mutter – groß, klug und weise. „Aber kann man denn nicht mit ihnen reden? Es ihnen sagen? Das müssen Sie doch verstehen!“
Großmutter schüttelte den Kopf und irgendwie sah sie ein bisschen traurig aus dabei. „Nein, sie würden dich nicht verstehen wollen. Solche Menschen schauen immer nur in den Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter.“
Sie ging und ich lief ihr noch im Schlafanzug hinterher, packte meine Geschenke aus und rannte dann vor Freude jauchzend wie ein Indianerhäuptling nicht um den Totempfahl, sondern um den Weihnachtsbaum.
Diesen 25. Dezember habe ich niemals vergessen und seltsam - jedes Mal, wenn ich die Nachrichten anmache, journalistische Ergüsse in der Zeitung lese oder auf Phoenix Bundestagssitzungen verfolge, muss ich an meine Großmutter denken und ich frage mich dann, ob sie das mit den Tapetenkritzlern und Papierballwerfern wohl nur auf Kinder bezogen hatte?