Das siebenundzwanzigste Türchen
Guten Morgen - ich las hier mehrfach, dass
@*******blau für die gestrige Geschichte verantwortlich sein solle ...
... und ja, er ist es
Heute gibt es wieder ein Märchen, also ist alles möglich
LIEBESENGEL
Meine lieben und treuen Leser. Heute will ich euch ein Märchen erzählen. Einfach mal was Schönes. Die Welt da draußen ist schrecklich genug und mein kleines Weihnachtsbuch soll die Gemüter auch erheitern und nicht immer nur schockieren oder böse Überraschungen bieten:
Der Mensch denkt, er wäre das einzige Wesen auf der Welt, welches Weihnachten feiert. Aber er irrt – wie so oft, wenn es um die Wahrnehmung seiner Umwelt und des ganzen Universums geht. Es gibt so viele andere Weihnachtsfeiern, von denen der menschliche Geist keinerlei Vorstellung hat und die seine Vorstellungskraft komplett überfordern.
Nehmen wir zum Beispiel die Weihnachtsfeiern der Hundeflöhe. Es herrscht ein Jauchzen und Frohlocken in den Tiefen eines jeden Hundefells, das den himmlischen Engeln jährlich große Freude bereitet.
Genauso hoch her geht es beim Tanz der Milben, die sich in den Matratzen austoben, bis die Betten wackeln. Bemerkt niemand, den jeder Mensch ist um diese Zeit wach und nicht im Bett, egal ob alleine vor dem Fernseher sitzend oder mit seinen Lieben um den Weihnachtsbaum tanzend.
Kobolde unterlassen es, den Menschen Streiche zu spielen und singen gemeinsam die schönsten Melodien, die sich in Frequenzen abspielen, die kein Mensch wahrnehmen kann. Sie feiern zusammen mit den Elfen, die erst spät vom feierlichen Bäumestreicheln zurückkommen, um mit den Kobolden am vergorenen Granatapfelblütennektar zu nippen. Schon so manche Elfe hatte sich nach den Feierlichkeiten verflogen und landete irrtümlich in fremden Wäldern oder auf den verhexten Partys am Blocksberg.
Sogar die Sterne feiern, schmeißen mit Sternschnuppen durch das All und pusten Sternenstaub in die Atmosphäre. Manchmal von den Menschen bemerkt als Irrlichter oder besonders imposantes Polarleuchten.
Ich will nun berichten von der Weihnachtsfeier der Amorengel. Hinter den sieben Bergen weit über den sieben Zwergen versammelten sie sich im längst erloschenen Krater eines Vulkans. Erasmus, der für dieses Jahr gewählte Präsident, eröffnete gerade die Feier mit einer kleinen Ansprache:
„... so endet ein für uns spärliches Jahr, denn die Menschen hatten kaum Gelegenheit, sich zu begegnen – und wenn, trugen sie ein Gewand vor dem Mund, das ihr Lächeln verbarg. So wurden viele unserer wertvollen Liebespfeile verschossen, ohne die gebührende Wirkung zu zeigen, denn ohne ein sichtbares Lächeln funktioniert es nicht. Nur wenige Menschen können mit den Augen lächeln und überzeugende Freude ausstrahlen. So kann der durch unsere Pfeile ausgelöste Funke nicht überspringen.“
„Dieses Jahr war wirklich wie verhext“, raunte Drakan seiner Sitznachbarin Farah im Publikum zu.
„Lass die Hexen lieber aus dem Spiel, mein Lieber. Wir wissen doch, dass durch Hexerei herbeigeführte Liebe meist ins Verderben führt“, antwortete Farah.
Sie kamen nicht weiter in ihren Ausführungen über bösen Zauber und Hexerei, denn Milan, ein kleiner pummeliger Amorengel, der sich erstaunlich sportlich zu bewegen wusste, schwebte schreiend den schmalen Pfad zum Inneren des Vulkantrichters herab:
„Das müsst ihr sehen, was für eine Gelegenheit. Zwei Menschen treffen sich zum ersten Mal, trotz allgemeinem Kontaktverbot!“
Helle Aufregung erschütterte die Versammlung. Sie schrien durcheinander, schwebten vibrierend empor und bildeten einen Schwarm, der die Form eines Herzens zeigte.
„Wo?“ fragten sie.
„Folgt mir“, kommandierte Milan nicht ohne Stolz.
Dem Schwarm der Amorengel bot sich nach kurzem Flug ein seltsames Bild. Milan deutete nervös auf ein silbergraues Auto. Der Motor lief, die Innenbeleuchtung brannte, drinnen saß ein Mann, der gelegentlich die Scheibenwischer betätigte, um einen klaren Blick in die verregnete Nacht zu bekommen. Das Fahrzeug stand alleine auf einem riesigen Parkplatz, über welchen sich nun ein weiteres, rotes Fahrzeug näherte. Es hielt neben dem silbergrauen Wagen, die Tür öffnete sich und eine Frau stieg aus. Sie schüttelte kurz ihr schwarzes, halblanges Haar und lächelte in Richtung des Mannes. Beide trugen keinerlei Gewand im Gesicht.
Aufgeregt zogen die Engel ihre Pfeile aus den Köchern und spannten ihre Bogen.
„Nicht alle auf einmal“, zischte Erasmus noch, doch es war zu spät. Ein Hagelschauer von Liebespfeilen prasselte auf die Dame nieder. Man hörte sie kurz vor Freude lachen, während sie die Beifahrertür des silbergrauen Autos öffnete und einstieg.
„Sie haben wir erwischt, aber was machen wir mit ihm?“, fragte Damara, eine kecke Liebesengelfrau mit wallendem, rotem Haar.
„Abwarten“, grinste Loran, ein schwarzhaariger Amorengel mit dunklen Augen im kantigen Gesicht.
Der Mann im Fahrzeug hielt eine Thermoskanne in den Händen, öffnete sie und füllte zwei Tassen mit dampfendem Kaffee.
„Eine Verabredung zum Kaffee im Auto, weil alle Gaststätten geschlossen sind. Wie süß.“ säuselte Nia verträumt, auf einer rosa Wolke liegend, den Kopf in den Händen, die Arme auf die Ellbogen gestützt.
Im Auto strahlte Licht. Nicht das schwache Licht der Innenbeleuchtung, sondern das Strahlen der Frau, die, von so viel Liebespfeilen getroffen, Funken sprühte wie eine endlose Silvesterrakete.
„Abwarten“, wiederholte Loran, „ihn erwischen wir auch noch, früher oder später steigen sie aus um...“ Er kam nicht zum Ende seines Satzes, denn in dem Moment öffneten sich beide Türen des Wagens. Der Mann spannte einen Schirm auf und spurtete um das Fahrzeug, um die gerade aussteigende Frau vor dem Regen zu schützen.
Wieder prasselten Unmengen von Liebespfeilen nieder, diesmal auf den Mann. Die Amorengel hatten von diesem verhexten Jahr so viele Pfeile übrig und so wenige Erfolgserlebnisse, dass sie jetzt gewillt waren, ihre Köcher gnadenlos zu leeren. Doch während die Frau Fontänen von Funken versprühte, die selbst die Menschen aus der Ferne als helles Licht wahrnehmen müssten – wenn sie nicht damit beschäftigt wären, unter zahllosen Weihnachtsbäumen ihre Geschenke auszupacken und von der längst verblassten Liebe zu träumen – stiegen von dem Mann nur ein paar kleine Lichtchen auf, die wie verirrte Glühwürmchen wirkten.
„Na warte“, grinste Loran und zog einen besonders dicken Pfeil aus seinem Köcher, benetzte die Befiederung lüstern mit seiner Zunge und setzte die Nock auf die Sehne. Er zog den Pfeil durch, um den Bogen zu spannen.
„Nicht den Panzerknacker, du weißt, was er anrichten kann“, warnte Erasmus. Doch Loran wahr nicht zu stoppen.
„Diesen Tölpel müssen wir zu seinem Glück zwingen!“
Loran lies den Pfeil los. Ein kurzes Zischen und die Engel sahen zu, wie der dicke Pfeil den Mann mitten ins Herz traf.
Damara pfiff anerkennend durch die Zähne: „Loran, unser Meisterschütze!“
Der Mann stutze kurz, fasste sich an die Brust, während auch er plötzlich von sprühendem Funkenregen umgeben war. Die beiden gingen lange im nahe gelegenen Park spazieren, redeten noch stundenlang im Auto und trennten sich schließlich wieder, um mit dem jeweiligen Auto den Platz zu verlassen.
„Ob das was wird?“, fragte Milan leise, „wäre jedenfalls ein schönes Highlight unserer diesjährigen Weihnachtsfeier.“
Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurden der Mann und die Frau ein glückliches Paar mit einer nicht enden wollenden Liebesgeschichte. Doch zuerst musste er sich im Krankenhaus am Herzen behandeln lassen. Er war nicht mehr der Jüngste und litt schon viele Jahre an gebrochenem Herzen. Der Panzerknackerpfeil hatte neue Feuer im Herzen ausgelöst, auch wenn die ärztliche Diagnose auf Herzrhythmusstörungen lautete.
Die Frau wurde schon vor dem Treffen durch eine ebenso schwerwiegende, klinische Behandlung aus ihrem bisherigen geregelten Leben katapultiert. Sie lebte jetzt unter dem Motto „Wer schon einmal seinen Tod plante, denkt ganz neu über das Leben“.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so lieben sie noch heute.