Das fünfte Türchen
Guten Morgen, liebe Rategemeinde, der finale Tipp von
@****59 war der richtige: Unser lieber
@*******blau hat uns diese wahrhaftige Hexengeschichte (also mit echter
) bescherrt.
Heute geht es um eine ganz andere Hexerei - die von den Zeitgenossen, die gern mit Verweis auf ein Buch, in dem alles stünde, die Hirne vernebeln.
Kirche, Kugeln, Hexerei
Sie erinnerte sich noch genau. Jeden Sonntag das gleiche Ritual. Früh aufstehen, rein in die feinen Kleider. Und dann ging es los. Zunächst am nahegelegenen Fluss entlang, über die schmale Brücke und vorbei an den Kleintierzüchtern. Kurz vor dem Ziel noch ein steiler Anstieg und hinter einer Kurve war es zu sehen. Das Gotteshaus. Viele Menschen strömten auf diesen Punkt zu. Zumeist in gedeckten Farben gekleidet und viele mit Hut.
Rosa hatte diese Bilder seit Jahren in einem hinteren Teil ihres Gedächtnisses abgelegt. Gleich bei diesen Impressionen stand auch die Kiste mit den Körperfeindlichkeiten, den Demütigungen, den Befehlen und dem immer herrschenden Zwang in Familie und der allgegenwärtigen Sekte. Es gab keinen Raum für kritisches Denken oder für offene Fragen. Alles hatte sich in einer demütigen Zwiesprache mit Gott zu klären und wenn dieser nicht direkt kontaktiert wurde, dann gab es ja noch seine Stellvertreter auf Erden. Zumeist Laien mit einem schwachen Bildungshintergrund, die ihre eigenen Erlebnisse in der Nazizeit nun durch Machtspielchen hinter einem Altar kompensierten.
Von Geburt an war sie in der religiösen Sondergemeinschaft gewesen, sie lief immer in der Spur. Zwar viele Jahre kritisch und mit innerer Distanz, doch die Aussicht, ihre Familie zu verlieren bei einem Austritt, lähmte lange Zeit. Bis sie selbst zwei Kinder hatte und ihr klar war, jetzt oder nie musste sie dem Wahnsinn entfliehen.
Selten gingen Rosas Gedanken heute noch in diese Vergangenheit zurück. Doch manchmal musste es wohl sein, sie konnte nicht anders.
Es war der 24. Dezember und am Abend nahm sie aktiv an einem Konzert im Rahmen einer Weihnachtsandacht der evangelischen Kirche teil.
Ihre Aktivitäten im kulturellen Bereich der Landeskirche ließen sie erfahren, Kirche war weitaus mehr als früher in ihrer kleinen Welt. Und mit ihrer Befreiung ging die Erfahrung einher, dass Kirche und Erotik für sie einen ganz besonderen Zusammenhang haben. Nicht nur die Sinnlichkeit eines alten Gebäudes faszinierte, nein, es waren auch schon bald ihre Phantasien, die sich immer wieder an realen Erlebnissen und Begegnungen entzündeten.
Diese Gedanken wurden durch das Läuten der Haustürglocke unterbrochen. Vor der Tür stand Ole, der Organist. Lachend übergab er ihr ein Päckchen und setzte sich in einen Sessel. Ole und sie, das war seit einigen Monaten das Gesprächsthema im Sprengel. „Ja, ist er nun schwul oder nicht? Und hat er nun die Ehe von Rosa gesprengt, oder wo ist eigentlich der Ehemann?“ So hörte man allenthalben die Leute reden, wenn sie nach der Messe noch gemeinsam auf der Straße standen.
Besonders irritiert von dieser offensichtlichen Magie zwischen Rosa und Ole war allerdings sein aktueller Liebhaber.
Rosa setzte sich ebenfalls in einen Sessel, befühlte mit ihren Händen das Päckchen und sah Ole fragend an. „Was ist das?“ „Moment, pack es bitte noch nicht aus, erst später kurz bevor du rüber zur Kirche gehst.“ Ole setzte sein umwerfendes Lächeln auf und begann zu erklären. „Wir kennen uns jetzt schon zwei Jahre und immer wieder in der Weihnachtszeit stelle ich an dir so eine aufsteigende Melancholie fest. Deshalb dachte ich mir, man könne diese Stimmung radikal verändern. Vielleicht muss man dich nur ein wenig mit deinen eigenen Phantasien, die ich ja gut kenne, verhexen.“
„Verhexen“, fragte sie, „an Weihnachten, kurz vor der Messe? Na du bist gut, lass das mal nicht die Hardcore-Christen hören!“ „Na, mit denen hast du doch überhaupt nichts am Hut!“ Er musste laut lachen. „Denk nur daran was wir alles schon in der Kirche getrieben haben, ich sage nur Orgelbank.“ Sie stand auf und küsste ihn auf die Stirn. „Du bist der Beste, das weißt du! Ich wüsste gar nicht wie ich ohne dich die letzten beiden Jahre überstanden hätte.“
Er stand auf und ging zur Tür. Vor den Konzerten gab es immer noch einiges zu richten und vorzubereiten, vor allem an seiner geliebten Orgel.
„Okay, wir sehen uns dann in der Kirche und bitte mach das was auf dem Zettel steht.“ „Zettel“ sagte sie fragend und drückte schon wieder auf dem kleinen Päckchen herum.
Nach einem kurzen Weihnachtstelefonat mit ihren Kindern ging sie ins Bad, schminkte sich sorgsam die Lippen, schlüpfte in ein schwarzes schlichtes Kleid und wollte eben eine Strumpfhose anziehen als ihr das Päckchen wieder einfiel. Etwas zittrig gespannt riss sie die Verpackung auf. Noch zwei weitere Verpackungen kamen hervor. Zunächst nahm sie das flache Teil, öffnete es. „Oh, wow“, flüsterte sie vor sich hin, „halterlose schwarze Seidenstrümpfe, Ole du Schuft!“ Dann nahm sie sich den Rest vor. Sie schaute fassungslos auf zwei lila Liebeskugeln, die mit einem Band verbunden waren. Dabei sah sie den Zettel. „Du wirst heute Abend diese Strümpfe tragen und natürlich auch diese Kugeln, schließlich ist Weihnachten und da sind Kugeln nicht nur am Baum Pflicht“. Sofort wurde es ihr ziemlich heiß. Ole hatte den Punkt getroffen, der sie augenblicklich in eine andere Stimmung versetzte.
Sie folgte den Anweisungen, schlüpfte dann in die schwarzen Schuhe und nahm den Mantel von der Garderobe. Die Notenmappe unterm Arm querte sie den Platz vor der Kirche. Bei jeder Bewegung spürte sie die Bewegung der Kugeln. Sie spannte die Muskeln an und auf ihrem Gesicht zeigte sich bereits eine rosige Erregung. Bei der Begrüßung der Sängerinnen und Sänger sagte einer, „na Rosa, Du bist aber heute in guter Stimmung“. „Ja, wenn man sich die glänzenden Kugeln am Baum anschaut, dann kommt man in glänzende Stimmung“ erwiderte sie lachend.
Der Kirchenraum füllte sich, die Messe nahm ihren Lauf, der Chor sang ein grandioses „Gloria“ sowie Auszüge aus Bachs Weihnachtsoratorium. Am Ende einer jeden Weihnachtsmesse stand in dieser Kirche das große Orgelwerk. In diesem Jahr hatte sich Ole die Symphonie Nr. 3 en fas dièse mineur op.28 (1911) von Louis Vierne ausgesucht. Er liebte dieses Werk besonders, auch weil er damit an der Cavaillé-Coll-Orgel in Notre Dame, Paris, im letzten Jahr konzertierte.
Jetzt kam Rosas nächster Einsatz. Mit ihren hohen Schuhen und den kugeligen Schwingungen an ihrer intimsten Stelle, schritt sie die hölzerne Treppe zur Orgelempore hinauf. Dort grinste ihr schon Ole entgegen. „Und alles fit?“ „Du Schuft, ich kann bald nicht mehr und jetzt noch das ganze Orgelstück über mehr als 20 Minuten. Wie soll ich das aushalten?“ „Mach dich locker, das wird doch geil, wenn du beim Registrieren innerlich etwas spürst!“
Sie sah seitlich an ihm vorbei auf die Noten. Alle Stellen an denen sie die Register ziehen musste waren gezeichnet, so wie sie es auch lange geübt hatten. Schwierig waren immer die Seitenübergänge, doch auch das Noten Umblättern machte sie nicht zum ersten Mal.
Stille, absolute Stille.
Ole machte noch kurz seine Konzentrationsmeditation. Und dann ging es los.
Allegro Maestoso, durchdringend, förmlich die Haut wegpustend am Anfang und im Kontrast die zurückfallende ruhige Linie bis dann wieder alles am Tosen war. In diesem Moment der absoluten Durchdringung mit Klang, verstand Rosa was Ole mit „verhext“ gemeint hat. Sie befand sich in einer anderen Welt. Die Musik brauste und trug sie davon und die Kugeln in ihrem Innern passten sich der Klangbewegung an.
Eine kurze Steigerung brachte abschließend das musikalische Thema nochmal ins Pedal und dann klang der Satz im grandiosen Unisono aus. Ein langsames Fortschreiten der Musik, weg von einer anfänglichen Aufgewühltheit und Unruhe hin zu einer immer größeren Ruhe, machte sich im zweiten Teil breit. So als ob sich aus einer anfänglichen Isolation langsam ein Raum auftut indem Begegnung möglich ist.
Rosa war wie in Trance, ihr Körper wandelte sich durch das Brausen und sie konnte nicht mehr unterscheiden zwischen innen und außen. Große Mühe hatte sie der Partitur mit den Augen zu folgen um immer die passenden Register zu ziehen. Ole nickte mit dem Kopf bei einer Veränderung als Hinweis für sie, doch mehrmals griff er auch einfach selbst zu den Registerzügen aus Ebenholz. Ohne nach Rosa blicken zu können spürte er was in ihr vorging. Sie war ihm nicht nur räumlich nah. Die Orgel hatte für sie beide eine unfassbar erotische Kraft mit der Möglichkeit ganz tiefe Gefühle aufzuwirbeln. Nach dem wundervollen Adagio setzte das Finale den fulminanten Schlusspunkt.
Als der letzte Orgelton schon längst verklungen war, spürte Rosa immer noch diese Erfüllung und Kraft. Ole stand auf, verneigte sich am Rande der Orgelempore, nahm die begeisterten Zurufe und den Applaus entgegen. Rosa sank ermattet auf einen Stuhl neben dem Instrument und hatte so lange die Augen geschlossen, bis sie Oles Stimme hörte. „Auf, jetzt geht’s zum Glühwein!“ Rosa seufzte genüsslich, „können wir beide nicht noch ein bisschen hier oben bleiben?“ „Kein Problem, wir kommen nachher nochmal zurück. Ich habe auch etwas zum Essen dabei. Lass dich überraschen.“ Ole nahm sie an der Hand und ging mit ihr hinunter ins Kirchenschiff, mitten durch die Menschenmenge zur Glühweinausgabe. „Prost! Und schöne Weihnachten Rosa!“ Er küsste sie auf die Wange und sie flüsterte „Du Hexer, du Schuft, das ist nicht mehr zu toppen!“ „Na, warte es ab, mir fällt noch mehr ein“ flüsterte er zurück.
„Wahnsinn, da geht man doch gerne in die Kirche“ murmelte sie noch leise, bevor sie sich dem Pfarrer mit den besten Weihnachtswünschen zuwandte.