Der Schugger
Nun will ich mal meine erste Geschichte einstellen und bitte hierzu um Lob und Tadel. Vor allem konstruktive Kritik bringt mich weiter. Vorneweg bitte ich aber bereits um Nachsicht aus folgendem Grund: In der Schule wurden unsere Eltern gebeten darüber abzustimmen, ob man den Kindern das Hochdeutsche in Schrift UND Sprache beibringen solle. Die Abstimmung fiel eindeutig aus. Nur schreiben und lesen, nicht aber sprechen war erwünscht. Damit verfestigte sich über viele Jahre hinweg die schwäbische Grammatik, die für die meisten Menschen, die wo net so an Hintergrund hend and net wisset wie mir schwätzet, gar grausam klingen mag...
Der Schugger
Die Hitze brach zu frühester Stunde schon mit Vehemenz über die Landschaft herein. Nach einer tropischen Nacht folgte nun ein sonnendurchfluteter Morgen und ein Vormittag mit schnell ansteigenden hochsommerlichen Temperaturen.
Die alte Stadt ächzte unter den Sonnenstrahlen. Die Straßenfluchten heizten sich bereits unangenehm auf. Kein noch so leises Lüftchen strich über den Asphalt. Die Menschen huschten Schatten suchend umher. Ein jeder darauf bedacht rasch vor einen Ventilator oder gar in die Nähe einer Klimaanlage zu gelangen.
Wir, eine Gruppe junger Jurastudenten, denen man den Besuch eines Strafgerichtsprozesses am Landgericht Tübingen empfohlen hatte, machten es uns im Gerichtssaal bereits bequem. Dabei ließ sich schon nicht mehr verleugnen, dass ein paar der Anwesenden ihre T-Shirts durchgeschwitzt hatten.
Zwei seitlich an den Wänden aufgestellte klapprige Ventilatoren fächelten geräuschvoll Luft in Richtung der Plätze der Richter, der Staatsanwälte und der Angeklagten mit ihrem sie vertretenden Rechtsanwalt.
Die Angeklagte wirkte nervös. Die Frau, wohl zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, schwitzte was das Zeug hielt. Sie hatte sich für eine eine schwarze Bluse entschieden. Ihr kurzes Haar wirkte gefärbt, zu schwarz für eine natürliche Farbe in ihrem Alter.
Ihr Anwalt trug die für mündliche Gerichtsverhandlungen übliche Robe, schwarz, innen geknöpft, dazu ein weißes Hemd mit Krawatte. Alles viel zu heiß für diesen Tag. Aber grundsätzlich die in einem Strafprozess übliche Bekleidung. Er wischte ständig mit einem Taschentuch über seine hohe Stirn.
Der Staatsanwalt rutschte wie ein Zappelphilipp auf seinem Stuhl umher. Er schien von den hohen Temperaturen unbehelligt zu sein. Dafür sortierte er ständig einen Stapel Papiere hin und her. Seine Robe saß wie angegossen. Auch für Hemd und Krawatte traf dies zu.
Im Raum herrschte, bis auf das Klappern der Ventilatoren und dem Klopfgeräusch der staatsanwaltlichen Akten, angespannte Ruhe. Da riss uns das Niederdrücken einer schweren Türklinke und das laute Erscheinen des Gerichts aus unseren Gedanken. Drei Richter und zwei Schöffen gehören zu einem Schwurgericht wenn ein Fall von besonderer Schwere behandelt werden muss. Eine Richterin und eine Schöffin trugen offensichtlich höhere Schuhe mit nun auf dem uralten Holzboden besonders laut klackernden Absätzen.
Klickerdiklickerdiklick drang es an unsere Ohren, als wir wie von der Tarantel gestochen aufstanden und dem Gericht somit den bei seinem Erscheinen üblichen Respekt zollten.
Die Richter, ebenfalls Robe, weißes Hemd oder Bluse und Krawatte oder Schal tragend, ließen sich zusammen mit den luftig und bunt gekleideten Schöffen auf ihren Plätzen nieder. Die Ventilatoren fächelten ihnen Luft zu. So viel, dass sich einige Papiere des Herrn Vorsitzenden bereits auf den Weg durch den Gerichtssaal machten. Ein wildes Einfangen der weißen Seiten begann, zu dem wir ebenso beitrugen wie der Rechtsanwalt der Angeklagten.
Der Prozess wurde eröffnet. Der Richter las das Persönliche zu der Angeklagten vor, dann die Anklage. Es ging um Mord.
Die Angeklagte hatte ihren Ehemann, einen schon des Öfteren wegen häuslicher Gewalt vorbestraften Kerl, vergiftet. Absichtlich. Heimlich. Mit Geschick. Und mit einem bekannten Gift: E 605. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin hatten ermittelt, dass sie immer morgens das Mittel in den Kaffee des Ehemannes gab, um ihn über einen mittleren Zeitraum hinweg aus dem Leben zu giften.
Der Prozess verlief zunächst unspektakulär. Bis die Angeklagte dem Gericht doch bitteschön mal erzählen sollte was sie denn tatsächlich gemacht hätte – das Ermittelte zu den objektiven Tatbeständen kannte man schließlich schon aus den Akten. Aber ihre Vorgeschichte und ihr konkretes Vorgehen waren von entscheidender Bedeutung für die Bemessung ihrer Schuld.
Die Angeklagte erhob sich und begann ihre Erzählung. Im ersten Satz noch nervös, jedoch dann gefasst, berichtete sie mit Blick zum vorsitzenden Richter von ihrer Tat und ihren Motiven dazu. Das heißt, sie versuchte es zu erklären. Denn der Vorsitzende, eine Hüne von Mann, gut über zwei Meter hoch und auch ein wenig breit geraten, legte sofort seine Stirn in Falten.
Er kam ursprünglich aus dem hohen Norden und redete sauberes Hochdeutsch. Die Angeklagte stammte aus einem größeren Ort am Fuße der Schwäbischen Alb, durch den eine Sprachgrenze verlief. Etwa die Hälfte der Einwohner sprach ein für Außenstehende nahezu verständliches Schwäbisch. Die andere Hälfte sprach ein für Nichteingeborene eher unverständliches Alemannisch, vermengt mit allerlei regional gebräuchlichen Begriffen. Aus dieser Gruppe stammte die Angeklagte ganz offensichtlich, besser gesagt offenhörlich.
Der Richter fragte häufig nach. Jedes fünfte Wort musste sie erklären. Besonders schlimm wurde es immer dann, wenn sie das schwäbische „i ben gwäh“ (ich bin gewesen) in das alemannische „i beh gsai“ (der Schweizer sagt im ‚Hochalemannischen’: irch bin gsie) umwandelte und den Richter damit zunehmend aus dem Konzept brachte.
Die Erzählung war absolut authentisch. Die Frau ließ nichts Wesentliches weg. Bis sie zur Tat kam. Sie erzählte, wie sie jeden Morgen den Filterkaffee für ihren Mann zubereitete, der die Angewohnheit besaß, den Kaffee eher runterzustürzen als ihn langsam zu trinken. Sie erklärte mehrfach, „dr Moah häbe dean Kaffee ällamol ohverscheamt schnäll nah keit“, was für blankes Unverständnis beim Vorsitzenden und zu Gelächter bei allen anderen im Saal führte. Es dauerte nun etwas, bis die Übersetzung, die inzwischen die Schöffin übernommen hatte, beim Nordlicht-Richter ankam.
„Und wie genau haben Sie die Tat ausgeführt“, wollte nun der Vorsitzende wissen weil die Gerichtsmedizin zwar die zugeführte Menge des reinen Giftes, nicht aber die zugeführte Menge des Trägers, also des Kaffees, nämlich eine, zwei oder mehr Tassen, beschreiben konnte. Der Richter erwartete Details. Die erhielt er umgehend.
„I hau jeda Woch a Gnannts E 605 oagriarat ond davo eden Murga an Schugger en dean Kaffee gleerat!“
Aus die Maus!
Der Richter war am Ende dessen, was zwischen Trommelfell und Gehirn noch Platz fand. Er bat die Angeklagte um nähere Erklärungen der verwendeten Mengen. Die aber blieb eisern bei ihrer Beschreibung, dass sie jede Woche vorsorglich „a Gnannts“ E 605 und Wasser zusammengerührt hätte. Und davon gab sie jeden Morgen „an Schugger“ in den Kaffee ihres nicht mehr geliebten Gatten.
Leider war die Angeklagte aus lauter Nervosität, da sie merkte, dass es in der Konversation zwischen ihr und dem Richter nicht so recht stimmte, nicht mehr in der Lage eine durch Zeichensprache oder durch Umschreibungen geeignete Form zu finden, um den Richter aufzuklären.
Das Ganze gipfelte darin, dass nun alle Personen um den Richter herum es als selbstverständlich hinnahmen, dass die Frau von einem Schugger sprach. Dessen ungefähre Menge war auch allen Schwaben im Saale klar. Nur eben nicht dem Richter. Ein wenig schwieriger war es mit dem „Gnannda“. Man diskutierte unter den Richtern und Schöffen. Der Begriff stellte sich als eine vorwiegend von alten Weingärtnern verwendete Wortwahl dar, die die Menge an gesundheitsförderlichem Trollinger bezeichnete, die diese alten Männer pro Mahlzeit tranken. Das konnte natürlich bei dem einen mehr und bei dem anderen weniger sein. Aber es entsprach ungefähr einem „Viertele“, also 250 Millilitern. Mit der Mengen eines Viertele erklärte sich die Angeklagte durch heftiges Kopfnicken einverstanden.
Über ein schlichtes Bemühen des Kopfrechnens näherte man sich nun dem „Schugger“. Bevor dieser jedoch auf einem Blatt Papier von der Schöffin vorgerechnet wurde, zückte der beisitzende Richter seine von zuhause mitgebrachte Teekanne, schraubte den Deckel ab und goss eine kleine Menge Tee in den nun als Becher verwendbaren Deckel. Er kippte dazu die Kanne leicht an, goss und setzte sofort wieder ab.
„Des, Herr Kollege, isch an Schugger“, erklärte er beflissen.
Im deutschen Recht gilt bei der Formulierung eines Gesetzes, beim Formulieren eines Vertrages oder bei dem Vortrag von Tatbeständen der Bestimmtheitsgrundsatz. Man will also in aller Deutlichkeit wissen, worum es geht.
Die Schöffin zückte einen Stift und notierte, wobei sie laut dazu sprach: „Wenn nämlich einmal pro Woche 250 Milliliter Gemisch von E 605 und Wasser angerührt wurde, dann hätten wir pro Tag 250 Milliliter, geteilt durch sieben Tage, also ... (man merkte wie sie versuchte im Kopf zu dividieren) .., also, dann hätten wir pro Tag ... ich sag mal 35 Milliliter. Das ist ein wenig mehr als ein Glas Schnaps.“
Der Hüne hob die Augenbrauen. Das kam ihm bekannt vor. Trank er doch an den Wochenenden so gerne einen Klaren oder auch mal einen guten Grappa.
Es war geschafft. Die Angeklagte blies laut hörbar die Luft aus. Sie war erleichtert. Der Herr Vorsitzende hatte seine exakte Bestimmung des täglich zugeführten Giftgemisches und schien ebenfalls erleichtert zu sein.
Schließlich konnte er nun davon ableiten, dass der Ehemann ein selten einfältiger Mensch gewesen sein musste, wenn er so viel Giftgemisch – immerhin überschlägig ein Achtel seines morgendlichen Kaffees – geschmacklich nicht bemerkte. Das konnte sich nun durchaus auf das Maß der Schuld der Angeklagten auswirken. Denn das Gericht wollte der Frau unbedingt entgegen kommen, um die von ihr durch ihren Mann jahrelang erlittenen Qualen bei der Verurteilung berücksichtigen zu können. Vor allem wollte man weg von der im deutschen Recht sehr hohen Strafandrohung für einen Mord.
Er sprach die Angeklagte darauf an, wieso denn ihr Ehemann nichts gemerkte hätte.
Worauf die Angeklagte laut heraus prustete: „An ällaweil bsoffener Grasdackl war’s!“
Die Schöffin übernahm wieder die auch in diesem umgangssprachlichen Anwendungsfall etwas länger dauernde Übersetzungsarbeit.