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Auch Götter machen Fehler

Auch Götter machen Fehler
oder was passiert, wenn überbordende Phantasie, historische Fakten, die Wikipedia und ein bisschen Bildung aus DDR-Zeiten sich in der Waschmaschine zu einer Party verabreden und jemand den Schleudergang einschaltet ...

50.000 v. Chr.
Die Menschen entdecken das Feuer. Das führt zu einer schnellen Zunahme der Population, was den „Großen Alten“ es immer schwerer macht, Begegnungen mit ihnen zu vermeiden. Lange, bevor die ersten Affen von den Bäumen stiegen, wandelten sie bereits über die Erde, die auch sie hervorgebracht hatte. Doch sie verändern sie nicht, die Ehrfurcht vor der Schöpfung und jeder Art von Leben ist ihnen tief in die Gene geprägt, auch wenn das menschliche Gefühlskonzept, Mitleid, Schmerz, Furcht und Gier ihnen fremd sind. Sie können und wollen nicht um ihren Lebensraum mit der aufstrebenden, intelligenten, aber aggressiven Rasse der Menschen kämpfen und so konzentrieren sie ihr Volk auf einer Insel im Atlantik, fast genau in der Mitte zwischen Afrika und Europa, die Menschen vierzigtausend Jahre später einmal „Atlantis“ nennen werden.

7000 v. Chr.
Die Menschen beginnen, Wasserfahrzeuge zu bauen, mit denen die Hohe See befahren werden kann, Zypern, Kreta, Sardinien, Irland, und auch die Kanarischen Inseln werden besiedelt. Für die Atlantiden ist es Zeit, zu gehen. Es dauert noch vierhundert Jahre, bis ihre Zivilisation einen Zustand der Transzendenz erreicht, der ihr Bewusstsein weitestgehend unabhängig von materiellen Bedürfnissen macht. In einer letzten körperlichen Anstrengung verwischen sie alle Spuren ihrer Existenz von der Erdoberfläche. Plato datiert diesen Moment auf 6400 v. Chr. Ihre letzte Ruhestätte finden sie in den riesigen unterirdischen Höhlen der Antarktis, in denen sie ihre Aufmerksamkeit auf die weitere Befriedigung ihrer spirituellen Bedürfnisse richten und die Existenz der Menschheit und deren Entwicklung vollkommen ignorieren. Alles, was sie den Menschen hinterlassen, sind die Legenden über die „Großen Alten“, die aus einer fernen Galaxy gekommen seien – was nicht stimmt - und den Untergang von Atlantis.


1513 n. Chr.
Im Jahr fünfzehnhundertdreizehn zeichnet der osmanische General und Seefahrer Piri Reis die Küste der Antarktis. Doch er zeichnet sie mit Vegetation, die zu diesem Zeitpunkt dort nicht mehr existierte. Sie wurde ca. 4000 vor Christus unter kilometerhohen Eisschichten begraben. Weder konnte er etwas von der Vegetation wissen noch überhaupt Kenntnis haben von der Existenz des sechsten Kontinents. Dieser wurde erst dreihundert Jahre nach seinem Tod entdeckt. Außerdem weist die Karte eine sphärische Verzerrung auf, die in etwa der eines Fotos entspricht, das aus mehreren einhundert Kilometern Höhe aus dem Weltraum aufgenommen worden ist.


1945
Am 16. Juli 1945 um 5:29 Uhr explodiert auf dem Gelände der White Sands Missile Range in der Nähe der Stadt Alamogordo in New Mexico die erste von Menschen gebaute Kernwaffe „Fat Man“ mit der Wucht von 21 000 Tonnen TNT-Sprengstoff. Die tektonische Schockwelle umrundet einmal die ganze Erdkugel, in Arktis und Antarktis registrieren sie die Seismographen und selbst die unzulänglichen Sinne der Menschen nehmen noch in 160 Kilometern Entfernung die Druckwelle wahr. Der Atompilz erreicht eine Höhe von zwölf Kilometern und die Explosion gräbt einen drei Meter tiefen und über 300 Meter breiten Krater in die Wüste, in dem die Sternentemperatur der Explosion den Sand zu grünlichem Glas schmilzt, für das man den Begriff „Trinitit“ erfindet.
Doch es sind nicht nur Maschinen, die die Detonation registrieren. Die Atlantiden begreifen, dass die Menschheit den ultimativen Knüppel gefunden hat und ab diesem Moment nicht nur sich selbst, sondern auch jedes andere Leben auf der Erde vernichten kann.
Die Atlantiden müssen handeln, doch wie? Auch wenn ihre Kenntnis der kosmischen Gesetze viel weiter fortgeschritten ist als die der Menschheit, so verfügen sie längst nicht über die Macht, die die Menschen ihren Göttern zuschreiben. Die Gottgleichen sind hilflos. Ihre Ressourcen sind begrenzt, vor allem Energie ist knapp, weil sie durch die Menschen ortbare Abstrahlungen verhindern mussten. Es reichte gerade für das Überleben ihrer Art. Selbst, wenn dem nicht so wäre, verbietet ihnen ihre Ehrfurcht vor jeder Art von Leben einen direkten Eingriff. Doch ihr Bewusstsein ist mächtig und so finden sie eine Lösung.

1946
In Norwegen wird der Besitzer der größten Reederei, Magnus Ängström, wegen Kollaboration mit den deutschen Besatzern zu lebenslanger Haft verurteilt. Er überlebt nur drei Monate im Gefängnis. Sein Sohn Bengt schwört Rache.

1947
Mit den Truman-Doktrinen beginnt der Kalte Krieg zwischen den Ost- und Westmächten auf der Erde. Beide Blöcke rüsten auf und das Konzept der atomaren Abschreckung führt zu einer forcierten Entwicklung und Produktion von Kernwaffen.

1952
Bengt Ängström hat sich mit absoluter Skrupellosigkeit das Reederei-Imperium seines Vaters zurückgeholt. Er wird Vater eines Sohnes und nennt ihn „Ruud“.

1955
Die Sowjetunion führt ihre erste Antarktisexpedition durch. Die Entbehrungen, die die Expeditionsmitglieder ertragen müssen, sind unmenschlich und niemand wundert sich darüber, dass ausgerechnet der Expeditionsarzt Vitali Loginow am schlimmsten unter Wahnvorstellungen leidet. Trotzdem wird die Expedition ein Erfolg, alle kehren zurück und Vitali Loginow beginnt mit der Erforschung eines Medikaments, von dem er glaubt, dass es die sowjetischen Menschen empathischer gegenüber ihren Mitmenschen machen und ihre Aggressivität verringern kann. Die Idee dazu ist ihm in der Antarktis gekommen.

1957
Das sowjetische Militär interessiert sich für die Forschungen des Arztes. Als er sich weigert, die Ergebnisse offenzulegen, wird er dazu gezwungen.

1958
Loginow muss mit ansehen, wie Militärwissenschaftler mit Hilfe seiner Grundlagenforschungen die Büchse der Pandora öffnen und statt des erhofften Medikaments eine bio-chemische Waffe erschaffen. Noch während ein erster Prototyp unter einem strategischen Bomber TU-85 in der Luft ist, sabotiert Loginow die Sicherheitssysteme des Labors. Es kommt zu einem Ausbruch, bei dem nicht nur er selbst stirbt, sondern auch ein großer Teil der Wissenschaftler und der Bewohner der angrenzenden Siedlung. Auch das Flugzeug stürzt durch ein technisches Versagen über der Ostsee ab und trotz intensivster Suche durch die Angehörigen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und von Marinetauchern der Nationalen Volksarmee der DDR wird nur der Bomber gefunden, nicht jedoch die Waffe. Die sowjetische Regierung stellt das Projekt ein, lässt alle Forschungsunterlagen beseitigen und auch die überlebenden Wissenschaftler und ihre Familien. Nur dem stellvertretendem Laborleiter, einem Onkologen, gelingt die Flucht nach Norwegen. Er kommt in Oslo in einem Werftkrankenhaus des Ängström-Konzerns unter.

1960
Die Wissenschaftler der NASA untersuchen die Karte des Piri Reis und bestätigen, dass die Karte nicht nur echt, sondern auch erstaunlich genau ist. Damit rückt die Karte in den Blickpunkt der Presse und Spekulation werden laut über Außerirdische, die sie gezeichnet haben sollen.

1965
Neunzehnhundertfǘnfundsechzig stellt Sergej Rachmantikow, ein junger sowjetischer Astrophysiker, auf einem Wissenschaftssymposium fest: „Wissenschaft ist nicht, auf alles eine Antwort zu haben. Wissenschaft ist, die richtigen Fragen zu stellen, selbst dann, wenn sie unpopulär sind. Eine solche Frage ist: Auf welcher Erde leben wir? Weil sie die dahinterstehende Vermutung impliziert, dass es mehr als eine geben könnte.“
Er wird ausgelacht.

1966
Bengt Ängström stellt seinem Sohn Ruud an dessen vierzehnten Geburtstag Marit Raikkaanen vor. Sie hat den Auftrag, Ruud in seinem Sinne zu erziehen und jedes menschliche Gefühl, dass Ruud auf dem Weg zur Macht behindern könnte, abzutöten. Drei Monate später vergeht sie sich das erste Mal an dem Jungen.

1970
Marit Raikkaanen beendet die Ausbildung von Ruud Ängström. Bengt Ängström lässt sie auf dem Weg zu dem Schiff, das sie in die USA bringen soll, töten, weil sie zu viel Familiengeheimnisse kennt. Es ist der Moment, in dem Ruud beginnt, seinen Vater endgültig zu hassen, weil der ihn die Frau, die ihn vier Jahre lang emotional gefoltert und missbraucht hat, nicht selbst umbringen lässt. Hass und Ehrgeiz sind die beiden bestimmenden Gefühle, die Marit nach diesen vier Jahren noch in ihm übrig gelassen hat. Er beschließt, nicht nur seinen Vater zu töten, wenn er ihn nicht mehr benötigt, sondern auch sich später an der Tochter Marits in gleicher Weise zu rächen.


1974
Ruud Ängström tötet seinen Vater und übernimmt dessen Reederei, Vermögen und Beziehungen. Er ist erst zweiundzwanzig Jahre alt.

1975
Sergej Rachmantikow schlägt seinen Widersachern eine wissenschaftliche Arbeit um die Ohren, in der er selbst unwiderlegbar die Antwort auf seine Frage gibt: "Alles, was ist, oszilliert in Zeit und Raum, sogar Universen. So bilden sie ein Multiversum, in dem die Existenzausprägungen der Sterne, Planeten, ja sogar jedes Elementarteilchens und Energiepartikels im gleichen Raum zur gleichen Zeit existieren können, aber nicht müssen und die Anzahl dieser Ausprägungen ist indirekt proportional zur Schwingungsfrequenz dieses Multiversums. Was wiederum bedeutet, dass die Anzahl der Erden berechenbar ist, wenn es, gelingt diese Schwingungsfrequenz zu berechnen. In jedem Fall ist sie größer als eins. Oder anders gesagt: Wir sind definitiv nicht allein, schon gar nicht die einmalige, unwiederholbare Krönung der Schöpfung und unsere intelligenten Brüder und Schwestern sind keine glupschäugigen Schleimmonster, sondern Menschen wie wir. Alles, was wir tun müssen, ist das Tor zu ihnen zu finden und dieses Tor befindet sich irgendwo auf dieser unserer Erde."
Seine formelstrotzende Abhandlung ist fehlerlos und hält jeder Kritik stand. Doch es ist nur eine Theorie und sie ist erst dann bewiesen, wenn das Tor zu einer solchen Schwesterwelt entdeckt wird. Rachmantikow ist sich sicher, dass sich auf jeder dieser Erdzwillinge, die sich nicht gleich, aber ähnlich entwickelt haben, ein Tor zu ihren Zwillingswelten befindet. Doch es zu finden, muss er anderen überlassen, zwei Jahre nach Veröffentlichung seiner Theorie stirbt er an einem Herzinfarkt.

1979
Einer von denen, die davon besessen sind, dieses Tor zu finden, ist Johannes Hakonsen. Neunzehnhundertneunundsiebzig veröffentlicht der norwegische Geologe eine wissenschaftliche Abhandlung über die Plattentektonik der Erde, in der er zu der Schlussfolgerung kommt, dass sich unter der Antarktis riesige Hohlräume befinden müssen. Das wird sich 1988 bestätigen, als vier Kilometer unter der sowjetischen Antarktisstation Wostok ein über eintausend Kilometer langer Hohlraum entdeckt wird. Er wird „Lake Wostok“ genannt.
Ruud Ängström wird auf ihn aufmerksam. Der junge Erbe der größten Flotte Norwegens ist verzweifelt auf der Suche nach neuen, profitbringenden Geschäftsfeldern, um im Ringen mit der asiatischen Konkurrenz bestehen zu können. Ebenso wie Hakonsen besitzt er einen unbändigen Ehrgeiz und in der Besessenheit und dem Narzismus des Wissenschaftlers findet er einen Bruder im Geiste. Ängström stellt ihm die notwendigen Mittel für dessen Forschungen bereit und erhofft sich im Gegenzug von ihm Unterstützung bei der Erkundung und dem Abbau der vermuteten gigantischen Bodenschätze unter der Antarktis. Sowohl Hakonsen als auch Ängström interessieren sich nicht dafür, dass es einen Antarktissperrvertrag gibt, der Landbesitznahme, kommerzielle Erkundung und Ausbeutung der Antarktis verbieten. Beide wissen, dass der Sperrvertrag in einigen Jahren auslaufen und dann der Run auf die Schätze des sechsten Kontinents beginnen wird, bei dem nur noch das Recht des Stärkeren zählen wird. Darüber, welche Bedeutung eine intakte Antarktis für das Klima der Erde hat, und das ihre ökonomische Erschließung und Ausbeutung sie zerstören würde, machen sich beide keine Gedanken.

1980 – Sven und Christian
Sven Oldenburg, der Vater von Christian Oldenburg, ist studierter Geologe, spricht fließend norwegisch, schwedisch und hat sich auf die Geologie der Nordhalbkugel spezialisiert. Sein Sohn Christian ist hochintelligent, kann den Inhalt ganzer Bibliotheken aus dem Kopf zitieren, ist jedoch zutiefst verschlossen und leidet seit seiner Geburt unter einer Kommunikationsstörung (Asperger Syndrom?) und Wutanfällen, die sich noch verschlimmern, als seine Mutter an einer zu spät diagnostizierten Blinddarmentzündung stirbt. Als er neunzehnhundertachtzig im Alter von zwölf Jahren zwei Klassenkameraden ins Krankenhaus prügelt und einer von ihnen stirbt, sieht Major Müller, Führungsoffizier in der Abteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, eine Chance. Er bietet Sven einen Deal an – Christian kann straffrei ausgehen, wenn Sven dafür als Mitarbeiter der Botschaft der DDR in Oslo für die Stasi spioniert. Außerdem glaubt Müller, in Christian einen geborenen Killer gefunden zu haben, und will ihn ausbilden. Sven geht aus Liebe zu seinem Sohn den Handel ein und Müller bekommt beide in die Fänge. Sven arbeitet für die Botschaft in Oslo und Christian wird ab dem 13 Lebensjahr gedrillt und mit 18 zu den Kampfschwimmern geschickt.

1983
Ruud Ängström weitet die Geschäftsfelder seines Konzerns aus und der aus der Sowjetunion geflohene Wissenschaftler wird der Leiter von Ängström Pharmaceuticals, einem bio-chemischen Forschungslabor an der Küste der Antarktis, das sich Ängström zu großen Teilen vom Militär finanzieren lässt. Ängström hat ein konkretes Ziel: Er will die Waffe, die in der Sowjetunion nicht zu Ende entwickelt wurde, für sich. Sie soll ihm helfen, unerkannt Widersacher zu beseitigen. Mittlerweile geht es ihm nicht mehr nur um das Ausschalten der Konkurrenz für seine Flotte. Er denkt größer, in globalem Maßstab.

Die Atlantiden müssen handeln. Sie waren es, die Valeri Loginow die Idee für diese Waffe eingegeben haben, die eigentlich ein Medikament sein sollte und haben damit erst die Büchse der Pandora für die Menschen geöffnet. Gelingt das, was Ängström vor hat, so haben sie der Menschheit Schlimmeres angetan, als es selbst eine Kernwaffe tun könnte.
Sie entschließen sich zu einem Kompromiss, wenn es aus menschlicher Sicht auch ein ziemlich fauler ist: Sie werden nicht selbst aktiv, sondern erschaffen Johanna, dem Aussehen nach ein Mensch, geben sie ihr all ihr Wissen mit und einen Auftrag: Um jeden Preis die Entwicklung des Kampfstoffes bei Ängström Pharmaceuticals zu sabotieren. Und wieder machen die Atlantiden einen Fehler und. Sie haben ihr ein Gen mitgegeben, das sie selbst, aber nicht die Menschen besitzen und das dafür verantwortlich ist, dass sie in den alten Legenden auch als „Zeitensegler“ auftauchen; als die, die den Strom der Zeit aufwärts segeln, sich an die Zukunft erinnern und von der Vergangenheit träumen. Natürlich konnten sie nie die Zukunft vorhersagen, doch bestimmte Aspekte der Zukunft manifestieren sich in der Gegenwart und sie sind immer an große Personen gebunden. Historische Persönlichkeiten nennt man sie und die Menschen erkennen sie erst dann, wenn sie bereits gestorben sind, manchmal nicht mal dann. Doch das Licht, mit dem solche Menschen bereits vor ihrer Geburt wie Leuchtfeuer den dunklen Ozean ihrer zukünftigen Zeit überstrahlen, konnten die alten Atlantiden noch sehen. Als sie in die Antarktis umsiedelten, ist ihnen diese Fähigkeit verloren gegangen.
Dann löschen sie jede Erinnerung an ihre Herkunft in ihr und sie macht sich auf den Weg aus den Tiefen der Antarktis. Mit ihrer überlegenen Intelligenz findet sie tatsächlich einen Zugang zu Ängström Pharmaceuticals als Wissenschaftlerin und Ärztin. In den Jahren, die sie dazu benötigt, bereiten sich die Atlantiden auf die Verteidigung ihrer letzten Zuflucht in der Antarktis vor.
Sie ahnen nicht, dass es ausgerechnet ein Mensch sein wird, der sie vor den Menschen rettet.

1988

Am vierundzwanzigsten November 1988 kommt es dreizehn Seemeilen nördlich der Küste von Warnemünde zu einem gigantischen Fischsterben in der Ostsee. Der Vorfall erregt internationale Aufmerksamkeit und Boote von Green Peace sind unterwegs. Die Marine der DDR handelt schnell und stößt bei der Suche nach dem Grund auf eine vermeintliche Fliegerbombe am Meeresboden. Ein Trupp Kampfschwimmer, die handverlesene Elite der nationalen Volksarmee der DDR, geht ins Wasser und der Truppführer ist Christian Oldenburg.

Gerade als sie das Ziel erreicht haben, erhält ihr Kommandeur einen Funkspruch vom Oberkommandierenden der Marine persönlich mit dem Befehl zum sofortigen Abbruch. Korvettenkapitän Elsner kann seine Männer unter Wasser nicht erreichen, da sie Funkstille halten (sie operieren außerhalb der Zwölfmeilenzone in internationalen Gewässern, was ihnen offiziell verboten ist). Er lässt das Schnellboot mit voller Kraft den Einsatzort ansteuern, hoffend, dass seine Männer die hochfrequenten Schraubengeräusche hören. Das tun sie auch und als Christian Oldenburg den Abbruch befiehlt, berührt einer der Froschmänner im Abdrehen mit seiner Schwimmflosse die Waffe. Niemand weiß, dass es die Waffe ist, die die sowjetische TU-85 1958 verloren hat, bevor sie über der Ostsee abgestürzt ist.

Die Waffe gibt dass, was noch von ihrer Ladung übrig ist, frei und kontaminiert die beiden Kampftaucher, die ihr am nächsten sind. Es dauert nur Sekunden, bis der Kampfstoff wirkt und beide Kampftaucher auf den weiter entfernt sichernden Christian Oldenburg zurasen und ihn angreifen. Obwohl sie ihn schwer verletzen, kann er sie töten. Er taucht auf, schafft es noch ins Schnellboot, dann bricht er zusammen und wird in das Militärlazarett nach Bad Saarow bei Berlin gebracht. Obwohl keiner der Stiche in seinem Körper lebensgefährlich ist, verfällt er dort von Tag zu Tag mehr. Die Ärzte vermuten das Evans-Syndrom, sind sich aber nicht sicher. Sein Immunsystem ist zusammengebrochen, zerstört statt Krankheitserregern die eigenen roten Blutplättchen und niemand weiß, warum. Wenn der Prozess fortschreitet, werden irgendwann die Organe versagen, weil das Blut nicht mehr genug Sauerstoff zu ihnen transportieren kann.

Es ist blanker Zufall, dass in dem Moment, als das Schnellboot Elsners die Hoheitsgewässer der DDR verlässt, es den Kurs eines norwegischen Frachters kreuzt. Die Besatzung beobachtet, wie Christian Oldenburg mehr tot als lebendig aus dem Wasser gezogen wird und bietet sogar Hilfe an, doch Elsner lehnt ab. Der Kapitän des Frachters hat vor seiner Zivilkarriere bei der norwegischen Marine gedient und der Vorfall ist ihm mysteriös genug, Oslo darüber per Funk zu informieren.

Als der sowjetische Wissenschaftler nach der Katastrophe in dem sowjetischen Labor nach Norwegen floh, ist er vom dortigen Geheimdienst ausgefragt worden und die Ostsee ist nicht groß genug, als dass nicht alle Anrainerstaaten argwöhnisch beobachten, was dort vor sich geht. Der norwegische Nachrichtendienst prüft die Koordinaten, hat eine Vermutung und erteilt einen Auftrag an einer seiner Agenten in der DDR, Informationen zu beschaffen. Der findet jedoch nur heraus, dass es einen schweren Unterwasserunfall gegeben hat und der einzige Überlebende unter strengster Geheimhaltung in ein Militärlazarett gebracht wurde.

Auch Ruud Ängström erfährt durch seine Beziehungen zum Militär davon und von der Wahrscheinlichkeit, dass jemand den Einsatz von X-44 (das war der Codename für den sowjetischen Kampfstoff) überlebt hat. Es ist genau das, was Ängström unbedingt braucht, denn er hat ein Problem – die Forschungen in seinem Bio-Waffen-Labor kommen nicht voran. Immer, wenn sie glauben, einen Zugang zur Steuerung des menschlichen Gehirns gefunden zu haben, erweist er sich als Sackgasse. Dass Johanna dahintersteckt, ahnt niemand. Doch Johanna hat noch mehr getan – ihre Intelligenz und ihr Forscherdrang haben sie in aller Heimlichkeit ein Gegenmittel entwickeln lassen.

Für Ängström ist klar, dass in Bad Saarow der einzige Mensch liegt, der je den Angriff von X-44 überlebt hat und dass sein Blut ihnen wichtige Hinweise geben kann. Ausgerechnet Johanna wird beauftragt, mit Hilfe eines norwegischen Agenten in Berlin eine Blutprobe von Christian Oldenburg zu beschaffen.


Nach dem Vorfall in der Ostsee wird Sven in Oslo informiert, er kommt zurück nach Berlin und wird von Müller abgeholt. Müller war es auch, der den Abbruchbefehl an Korvettenkapitän Elsner hatte funken lassen. Denn Müller hat ein riesiges Problem: Ost und West stecken mitten in Abrüstungsverhandlungen. Würde die Tatsache bekannt, dass die Sowjetunion in den fünfziger Jahren eine Massenvernichtungswaffe entwickeln ließ, die gegen jede Charta verstieß, würde das eine politische Katastrophe auslösen. Der einzige Zeuge dafür ist Christian, und wenn er redet, kann dass sogar zu einem Krieg zwischen Ost und West führen. Müller weiß, dass der Arm des KGB lang ist und dass das, was die Stasi weiß, auch bald in den Akten des KGB auftaucht. Das wiederum bedeutet, dass Christian nicht nur durch seine Vergiftung in Lebensgefahr schwebt, sondern auch mit einem Attentat des KGB zu rechnen ist. Es könnte Müller egal sein, aber er ist ehrgeizig und er will Christians Wissen als persönliches Druckmittel gegen die sowjetischen Genossen im Interesse seiner eigenen Zukunft. Außerdem hat er viel Mühe in den Aufbau der Oldenburgs als Agenten investiert und deshalb will er beide nicht verlieren.
Er holt Sven vom Flughafen in Berlin ab, erzählt ihm nur die halbe Wahrheit über Christian und auch nicht, dass er Christian hat unter Schlafmittel setzen lassen, damit er nicht mit seinem Vater reden kann, bevor ihn ein Psychologe „bearbeitet“ und zum Schweigen veranlasst hat.

Niemand weiß, dass Johanna sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit Hilfe eines Passierscheins, den sie eben diesem Psychologen gestohlen hat, Zugang zu Christian verschafft hat, denn er liegt in der „geschlossenen“ Abteilung des Lazaretts, in der Militärstraftäter behandelt werden. Etwas veranlasst sie, ihm den Schweiß von der Stirn zu wischen, bevor sie ihm das Gegenmittel gibt. Dabei berührt sie ihn, ihr Zeitgen wird aktiv und sie begreift, dass Christian ein Leuchtfeuer sein wird; dass Hakonsen und Ängström bei ihrer Suche nach dem Tor zwischen den Welten die Antarktis zerstören werden, dass Ängström mit Hilfe des dann tatsächlich funktionierenden Kampfstoffs - er wird ihn Perverdrin nennen – ein Imperium aus Geld und Macht errichten wird und das Christian Oldenburg der einzige Mensch sein wird, der die beiden aufhalten kann. Aber sie sieht auch, was dafür aus ihm werden muss und wäre sie als ein Mensch geboren, hätte sie ihn jetzt sterben lassen, um das zu verhindern. Doch Gefühle kennt sie nicht. Noch nicht ... und so injiziert sie ihm das Gegenmittel, wissend, dass sein und ihr Schicksal ab jetzt untrennbar miteinander verbunden sind.


Wenn in sieben Jahren alle Kapitel nicht nur ein- , sondern dreimal oder viermal geschrieben sind und trotz aller Besessenheit sie nicht zusammenpassen, kann man das ganze Projekt in die Ecke schmeißen, wie ich es Anfang des Jahres tun wollte. Oder man sucht nach Gründen, zum Beispiel, dass ein Anfänger sich keinen phantastischen, romantischen Thriller vornehmen sollte, der über dreißig Jahre geht und über einhundert Prota- und Antagonisten hat.
Oder man sucht nach dem wirklichen Grund und der ist ein bisschen versteckt hinter der Freude am Schreiben und Fantasieren und erklärtem Willen zum Perfektionismus: mangelnde Professionalität. Ich habe mich nie getraut, einen Plot zu schreiben und es hat all die Jahre gedauert, zu verstehen, warum er genau hier unabdingbar ist. Weil zu oft der „unbekannte Mann durch die vorher nicht dagewesene Tür kommt und das Kaninchen als letzter Ausweg aus dem Hut gezaubert werden muss, weil die Fäden nicht zusammenpassen. Offenbar gibt es einen Grund, warum man sich Gedanken über die Lebensläufe seiner Helden machen sollte, über die Zeit, in der die Geschichte spielt und über die Umgebung. Weil sonst nichts passt ...
Nun, ich habe vor einigen Tagen einen nicht sehr freundlichen Hinweis bekommen - einige glauben tatsächlich, er wäre gütig und hätte einen langen, weißen Bart - dass ich dann doch vielleicht nicht mehr so viel Zeit zum Rumspielen habe, wie ich dachte. Andererseits hat jeder Taler immer zwei Seiten und die gute ist in diesem Fall, dass ich in der verbleibenden Zeit das tun kann, was mir wirklich wichtig ist. Heißt, Ihr habt mich und meine Schreibe, wahrscheinlich auch meine Kritik, wieder auf dem Hals.

*******blau Mann
3.624 Beiträge
Es tut mir leid für den Hinweis, den er gab. Niemanden lässt sowas kalt, aber man weiß nie was letztlich passiert und was für was gut ist.

Zum Text. Ist das die Zusammenfassung des Plots? Suchst du nach Möglichkeiten der Umsetzung mittels anderer Ansätze oder eher nach Ansatzpunkten im Plot, um ihn zu einem Plot aus einem Guß zu formen, der den Roman trägt und allen Belastungen standhält? Der Plot hat auf jeden Fall viel Potential.

Was anderes. Asperger haben keine Superkräfte. Wir sind oft schlau und manche sehr schlau, aber wir können uns nicht Bibliotheken merken. Das wäre ein Savant, der vielleicht auch im Spektrum ist, aber ein sehr rares Phänomen und als Inselbegabter kein guter Geheimagent oder Auftragsmörder.
*******blau Mann
3.624 Beiträge
Übrigens. Ich kann nicht liken.
Es liest sich sehr fesselnd und hat in meinen Augen viel Potential.

...um hierzu weiterzuspinnen: Die Antlatiden haben hier auf der Erde viele Menschen mit dem Licht infisziert. Und nur dieses Licht (und Liebe) kann die Menschheit heilen.

Herzlichst
Ulrike
Moin.
@*******blau: Es ist eher die Vorgeschichte, im Prinzip so etwas für ein Setting. Die mich hier über die Jahre gelesen haben, kennen eigentlich alles, da ich viele Kapitel hier schon gepostet habe. Doch es fehlt eben überall die Verbindung zwischen ihnen.
Zu Christian: Ich brauche einige spezielle Charaktereigenschaften von ihm, die ihn auf der einen Seite zu einem Außenseiter machen, auf der anderen ihn aber zu Großem befähigen. Die Problematik dabei ist vielschichtig. Menschen wollen immer für alles eine Erklärung, Leser erst recht. Das es gerade Menschen ausmacht, dass sie nicht erklärbar sind, sprunghaft manchmal und die Gesellschaft Menschen, die anders sind als die Norm, schnell ein Etikett umhängt, sie als physisch krank brandmarkt, obwohl sie eben tatsächlich nur von einer Norm? - welche bitte? - abweichen, muss ich, wenn ich richtig gelesen habe, dir nicht erzählen. Außerdem ist Autismus in welcher Form auch immer, ein ziemlich übles und abgenutztes Klischee. Warum kann man Menschen nicht einfach so nehmen, wie sie sind? Muss man ihnen immer ein Etikett umhängen? Das sagt Sven Odelnburg übrigens auch im ersten Kapitel *g*

Links und rechts huschten Bäume vorbei, dann kamen ein paar Häuser. Kinder standen an einer Haltestelle und warteten darauf, dass der Bus sie von der Schule nach Hause fuhr. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und roten Schleifen winkte, vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch, weil sie einfach nur freundlich sein wollte und weil sie noch nichts von der Welt der Großen wusste.
Erwachsene müssen den Dingern immer irgendwelche Schilder umhängen, damit sie sie in Gedankenkisten einsortieren können, dachte Sven. Selbst dann, wenn sie nichts darüber wussten. Hauptsache, sie fanden eine passende Schublade. Die, in die Christian passte, hieß „Evans-Syndrom“.

Naja, nur so gedacht ...
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
(...)Oder man sucht nach dem wirklichen Grund und der ist ein bisschen versteckt hinter der Freude am Schreiben und Fantasieren und erklärtem Willen zum Perfektionismus: mangelnde Professionalität.
Angesichts dieser Ausarbeitung drängt sich da im ersten Moment diese altrömische Weisheit auf: "Ein guter Mensch ist immer Anfänger". Und vielleicht kann man das auch nahezu deckungsgleich auf einen Plot übertragen... *zwinker*
Offenbar gibt es einen Grund, warum man sich Gedanken über die Lebensläufe seiner Helden machen sollte, über die Zeit, in der die Geschichte spielt und über die Umgebung. Weil sonst nichts passt ...
Das ästhetische Dilemma des Gegenwärtigen beinhaltet vielleicht auch die bittersüße Erkenntnis, das die Schönheit der Schöpfung regelmäßig im Zaumzeug des Vergänglichen daher kommt.
Und (künstlerische) Schöpfung vielleicht auch bedingt, der Unabänderlichkeit kontingenter Tatsachen oder überhaupt der Tatsache der Kontingenz mit dem gedanklichen Zusammenfluss des Gewesenen, des Gegenwärtigen und des (scheinbar ungewissen) Zukünftigen zu begegnen. Erfordert es doch einige Überwindung, die bekannte Welt der situativen Wirklichkeit zu verlassen.
Eine beeindruckende Ausarbeitung, welche wir - in dem für dich sicherlich quälenden Prozess- ja bereits in Fragmenten und Sentenzen folgen durften.
Andererseits hat jeder Taler immer zwei Seiten und die gute ist in diesem Fall, dass ich in der verbleibenden Zeit das tun kann, was mir wirklich wichtig ist.
. Was- so scheint mir- nicht nur einen (Erkenntnis-)Gewinn für dich beinhalten dürfte...
Heißt, Ihr habt mich und meine Schreibe, wahrscheinlich auch meine Kritik, wieder auf dem Hals.
Das hoffen wir/ich sehr! Und wenn´s geht, möglichst lange. Der alte Mann mit dem Bart dürfte nach hiesigen Dafürhalten ohnehin ausreichend Gelegenheit haben, andere Prioritäten zu setzen...
Es gibt Texte, lieber @**********hylen, die liest man nicht, da wird man gelesen. Dein Kommentar ist so einer, finde ich. Wie ein heißes Messer durch Butter. Schön ... und danke. Nicht einmal Deine Verwendung in der deutschen Umgangssprache eher selten vorkommender Wörter empfand ich als störend. Tatsächlich musste ich doch die genau Bedeutung von "Kontingenz" noch einmal nachschlagen. Etwas, das ich an guter Prosa (die es so meines Wissens aktuell nicht mehr so häufig gibt) schätze: Den Einsatz von nicht so gebräuchlichen Begriffen da, wo es sich anbietet. Sie sind ein bisschen wie das Salz in der Suppe und genau wie selbige sollte man natürlich auch nicht zu viel davon gebrauchen. Andererseits schmeckt eine Suppe ohne Salz ebenfalls nicht.
So hat mich Lesen schon als Kind weitergebracht - del Antonio, Schreyer, Thürk, Noll - unbekanntes Wort - wo ist das Lexikon? Dabei meine ich nicht Anglikanismen. Die deutsche Spache hat sehr viele wunderbare und auch exakt beschreibende Wörter, doch die meisten davon gehen verloren, weil sie nicht verwendet oder durch englischen Slang ersetzt werden. Lieber Englisch radebrechen, statt ordentlich deutsch lernen. Naja ..
Moin.
Ich habe es zwar schon im Forum gepostet, aber es gehört wohl auch hierher. Nicht zuletzt, weil einige von Euch mir nicht nur hier Mut gemacht haben, sondern mich auch per Mail angeschrieben haben und diese Ideen mir sehr geholfen haben.
Drei Gedanken vorweg. Ich fürchte fast, dass ich nicht gut genug bin, so geschrieben zu haben, dass man „Solaris“ von Lem gelesen haben muss, um es zu verstehen. Allerdings weiß ich hier viele Leseratten ...
Wenn einigen von Euch der Anfang bekannt vorkommt - natürlich, ich arbeite ja immer noch am gleichen Projekt. Allerdings habe ich ihn - auch durch Eure Hinweise - in wesentlichen Teilen angepasst.
Zuletzt: Die Psychologen/Neurologen mögen mir verzeihen. Ich hatte Eure Hilfe nicht beim Schreiben. Vielleicht ist ja unter Euch einer, der dort berufliche Berührungspunkte hat. Es wäre eine große Hilfe, zu wissen, dass ich da nicht allzu viel Blödsinn erzählt habe und wenn ja, ihn mit Eurer Hilfe korrigieren zu können.
Und jetzt, trotzdem: Gute Unterhaltung!

Rainer
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Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten. Obrigkeit, Kirche und Krieg, sie immer daran zu erinnern und die Hölle, auf dass die Seelen jener, die den Kopf nicht beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. So macht man es die Leute glauben, und nichts davon ist wahr. Die Hölle ist nicht heiß, sondern kalt; so sehr, dass die arme Seele, die sich dahin verirrt, nicht abgefackelt, sondern schockgefrostet wird. Dieses Reich der Verdammnis existierte lange, bevor es auf der Erde jemanden gab, der genug Hirn gehabt hätte, an einen Herrn über ihm zu glauben. Es ist die Antarktis und Robert Falcon Scott schrieb über sie in sein Tagebuch: „Großer Gott! dies ist ein schrecklicher Ort.“

Stürme wie ich sie nirgendwo sonst gesehen habe, rasen über ihren kilometerhohen Eispanzer in einer sechsmonatigen Nacht, die so rabenschwarz ist wie das Herz eines Kredithais und in der die Temperaturen in Bereiche fallen, in der Flüssigkeitsthermometer einfach nur zerplatzen. Schützt du dich vor der Kälte, schickt sie dir einen Blizzard auf den Hals; gehst du vor dem Sturm in Deckung, reißt sie das Eis unter deinen Füßen auf; stehst du auf festem Grund, rollt sie häusergroße Felsen heran und hast du das alles überlebt, spielt der Kompass verrückt und du findest den Weg zurück nicht mehr. Sie verzeiht keine Fehler und zu glauben, sie besiegt zu haben, ist einer. Scott war auf dem Rückmarsch vom Südpol, hatte schon das Basislager vor Augen, da schlug sie ein letztes Mal zu und schickte einen Schneesturm. Er erfror jämmerlich, nur ganze achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt.

Das kann keine Natur sein, niemals kann ich das glauben, erst recht nicht nachdem, was in den letzten Tagen hier geschehen ist. Irgendwo hier lauert ein tückischer Verstand und jede Nacht höre ich seinen Ruf wie Odysseus den Gesang der Sirenen. Er ruft nach mir, will ein neues Kräftemessen mit mir, will eine neue Chance, mich umzubringen. Warum nicht auch die anderen? Hakonsen? Johanna? Nur ich ... oder wollen sie ihn nicht hören?

Es ist die letzte Nacht, die ich so noch ertragen kann. Dann werde ich mich ihm stellen. Morgen früh, von Angesicht zu Angesicht ...


Ein Kälteschauer rann mir den Rücken herab und ich schlug das Tagebuch mit dem abgegriffenen roten Ledereinband von Thore Wejndahl zu. Es hatte einen fast wundersamen Weg zurückgelegt, bis es irgendwann zwischen den Patientenakten auf meinem Schreibtisch gelandet war und das, was ich eben gelesen hatte, war der letzte Eintrag darin, den er selbst geschrieben hatte. Ich hatte den norwegischen Expeditionsleiter nicht gekannt und wusste nicht mehr über die Antarktis, als ich in der Schule gelernt hatte. Hingegen kannte ich von Berufswegen uns Menschen besser, als mir manchmal lieb war. Wir waren hilflos, wenn wir der Natur ohne Technik gegenüberstanden; kommunikations- und gefühlsunfähig ohne unsere Smartphones mit Rechtschreibprüfung und Smileys und panisch, wenn wir bei einer Überlandfahrt einen Atemzug ohne Pollenfilter machen mussten. Wenn wir auf die Urkräfte der Natur trafen, sahen wir überall Heimtücke und es konnte es gut sein, dass Thore Wejndahl in seinen letzten Stunden den Gegner, mit dem er sein ganzes Leben lang als Antarktisführer gerungen und der ihn letztendlich besiegt hatte, vermenschlicht hatte. Wir und die gleiche Natur, die uns hervorgebracht hatte – wir waren keine Freunde mehr und ich fragte mich, ob es auf den anderen Erden auch so war.

Vor über fünfzig Jahren, neunzehnhundertfǘnfundsechzig, hatte Sergej Rachmantikow, ein junger sowjetischer Astrophysiker, auf einem Symposium in Moskau gesagt, dass Wissenschaft nicht bedeutet, auf alles eine Antwort zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, selbst dann, wenn sie unpopulär sind und bisherige, als unabänderlich geltende Wahrheiten in Frage stellen. Man hielt es für den Allgemeinplatz eines Profilierungssüchtigen und er bekam, natürlich, höflichen Beifall. Doch er hatte nur die Frage vorbereitet, um die es ihm wirklich ging und die lautete: Auf welcher der denkbaren Erde leben wir?

Nachdem er sie gestellt hatte, klatschte niemand mehr, Totenstille herrschte im Saal, bis die ersten begriffen, dass seine Frage implizierte, dass es mehr als eine Erde geben könnte. Dann lachten sie los, andere fielen ein, wie ein Lauffeuer breitete es sich aus, bis schließlich der ganze Saal dröhnte vor Lachen und Rachmantikow wie ein geprügelter Hund mit gesenktem Kopf das Podium verließ.
Zehn Jahre lang vergrub er sich in Selentschukskaja im Kaukasus an seinem Arbeitsplatz, dem damals größten Spiegelteleskop der Erde. Dann veröffentlichte er seine zweite Doktorarbeit, in der er auf brillante Art und Weise seine eigene Frage beantwortete: Niemand weiß, wie viele Erden existieren, denn alles, was ist, oszilliert; Universen durchdringen sich in Raum und Zeit und bilden ein Multiversum, in dem die Existenzausprägungen der Sterne, Planeten, ja sogar jedes Elementarteilchens und Energiepartikels im gleichen Raum zur gleichen Zeit existieren können, aber nicht müssen und die Anzahl dieser Erdausprägungen sich indirekt proportional zur Schwingungsfrequenz dieses Multiversums verhält. Er bewies, dass die Anzahl der existierenden Erden berechenbar ist, unter der Voraussetzung, dass diese Schwingungsfrequenz gemessen werden konnte und dass sie in jedem Fall größer ist als eins.
Seine Arbeit strotzte vor Formeln und Berechnungen, die nur die wenigsten verstanden, aber sie hielt jeder Kritik stand und schlug ein wie eine Bombe, nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der gesamten Welt der Wissenschaft.

In dem einzigen Interview, dass er danach gab, sagte er: „Ist es nicht schön, zu wissen, dass wir Menschen definitiv nicht allein sind, nicht die unwiederholbare Krönung der Schöpfung sind und unsere intelligenten Brüder und Schwestern keine glupschäugigen Schleimmonster, sondern Menschen wie wir? Alles, was wir tun müssen, ist das Tor zu ihnen zu finden und ich bin davon überzeugt, dass es irgendwo hier auf unserer Erde befindet. Ich glaube nicht, dass wir uns sehr unterscheiden. Nicht einmal, dass wir uns unterschiedlich entwickelt haben. Auf jeder unserer Schwestern wird es auch ein Moskau geben und einen Baikalsee.“

Doch das Tor dahin auf unserer Erde zu finden, musste er anderen überlassen. Nur wenige Tage nach diesem Interview starb er an einer Hirnblutung.

Hatte er recht gehabt? Das Tor war nie gefunden worden und aus der anfänglichen Euphorie war nach und nach Ernüchterung geworden, bis sich irgendwann nur noch wenige Wissenschaftler mit der Suche danach beschäftigt hatten. Der Bau von Raketen und die Erforschung des Weltraums waren einträglich für die, die damit ihr Geld verdienten, einträglicher als durch ein simples Tor zu einer anderen Welt zu gehen. Vielleicht wollte man es auch gar nicht, denn wenn Rachmantikow recht gehabt hatte, könnte es vielleicht unter diesen Erden eine geben, in der die Antarktis Thore Wejndahls ein blühender Garten war; eine Welt, auf der die Menschen gelernt hatten, im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie zu zerstören wie wir es taten und in der es keinen Weltkrieg gegeben hatte – es wäre für die kleinen und großen Potentaten unserer Zeit eine Katastrophe, bräche doch ihre Lüge von der besten aller Welten, in der wir leben sollten, für alle sichtbar zusammen.

Vielleicht gab es sogar eine Erde, auf der Schwerin keine Millionenstadt war, sondern nur ein Provinznest. Was dann doch ziemlich schwer vorstellbar war, wenigstens für mich. Meine Heimatstadt war zwar nicht das Zentrum des Universums, aber sie quoll aus allen Nähten und wohin ich auch schaute, überall wuchsen neue Häuser so schnell empor wie Birkenschösslinge zwischen verlassenen Bahngleisen.
Irgendwo fiel leise eine Tür ins Schloss. Es war kurz nach zehn abends, wahrscheinlich lösten sich die Schwestern gerade ab. Ich schaltete die Schreibtischlampe aus und reckte mich. Ich sollte besser nach Hause gehen, meine Gedanken machten ohnehin Bocksprünge. Durch das Halbdunkel des Flurs ging ich zum Automaten und drückte den Knopf für einen Kaffee. Der Becher fiel in die Halterung und leise zischte das kochende Wasser in der Maschine; beruhigende Geräusche voller Normalität, in meiner kleinen Stationswelt hier in der psychiatrischen Klinik keine Selbstverständlichkeit. Der Ausgabearm fuhr heraus, ich entnahm den Becher, stellte mich ans Fenster und blickte über den nachtdunklen Schweriner See.

Die Lichter der Skyline der Stadt überstrahlten den Glanz der Sterne, ganz vorne der monströse Tower von NordicSF, der Ort, an dem Ragnar Borg jetzt das Sagen hatte und nicht weit davon entfernt der Koloss der Europabank mit dem gigantischen Hologramm der Europafahne darüber. Neun Sterne für neun, ja, was eigentlich? Staaten nannten sie sich nicht mehr, Staaten hatten Grenzen, deswegen waren auch nur noch neun geblieben, weil die anderen ihre dicht gemacht und gesagt hatten, ihr könnt uns mal – also neun irgendwas zum Geldschöpfen und Steuern einsacken.

Es war lange her, dass ich einmal geglaubt hatte, dass dieser Anblick ein Sinnbild meiner Welt war; geglaubt hatte, dass nur Menschen in ihr lebten, die liebten und hassten; manchmal auch zornig wurden oder dumme Dinge taten; die gesund oder krank waren, arm oder reich, jung oder alt und nichts weiter. Dass es hinter dem schönen Schein noch eine andere Welt gab, in der Menschen kalten Herzens das Blut von Ihresgleichen vergossen oder – noch schlimmer - vergießen ließen, hatte ich lange nicht wahrhaben wollen, bis ich ihnen begegnet war. Seit dreißig Jahren tauchte ich ab in die Tiefen menschlicher Seelen und noch immer konnte ich nicht akzeptieren, dass ich dabei manchmal in einer Jauchegrube schwimmen ging; konnte ich nicht verstehen, dass es Menschen gab, die sich selbst weder als grausam noch als brutal ansahen, obwohl für sie der Unterschied zwischen dem Fällen eines Baumes und dem Töten eines Widersachers nur in der Höhe der Summe bestand, die sie aus ihrer Portokasse dafür bezahlen mussten, und in der Wahl des richtigen Werkzeugs.

Etwas stach mir in die Hand und ich blickte nach unten. Ich hatte den leeren Kaffeebecher zerquetscht. Zu viel Arbeit, zu viele Stunden hier, zu viele Jauchegruben in den letzten Jahren – es wurde wirklich Zeit für mich, Feierabend zu machen. Ich holte mir noch einen Becher Kaffee für die Fahrt nach Hause, hinterließ der Nachtschwester ein paar Zeilen und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.
Wolken zogen vor den Mond, als ich aus der Tür trat, die bioluminiszenten Leuchtstreifen im Gehweg erhöhten sanft ihre Lichtintensität und die schiefe Sommerlinde am Ende des Wegs zum Ausgang der Klinik, unter der ich meistens, außer im Sommern natürlich, meinen Wagen parkte, wies mir mit ihrem Duft den Weg. Jemand hatte letztes Jahr ein Herz und einen Pfeil, der es durchbohrte, in ihre Borke geritzt, die Rinde war vernarbt, das Herz sah aufgequollen aus und an der Stelle, an der es der Pfeil getroffen hatte, war es in zwei Teile zerbrochen. Trotzdem hatte das verletzte Herz den schiefen Baum nicht davon abhalten können, zu blühen, wie er es schon seit vielen einhundert Jahren immer im Sommer getan hatte und seine Pollen machten aus der lauen Mittsommernacht ein Sinnesfeuerwerk. Wie der sanfte Abschiedskuss einer Geliebten - tief atmete ich ihn ein und wieder fragte ich mich, auf welchen krummen Pfaden meine Gedanken heute Nacht unterwegs waren.

„Sie arbeiten zu lange.“ Eine Gestalt trat hinter dem Baum hervor und mit einem satten Geräusch klatschte mein Kaffeebecher auf die Bodenplatten, Spritzer landeten auf meinen Füßen und ich verhielt mitten im Schritt.

„Womit bewiesen wäre, dass mein Gewissen weiblich ist.“ Es war das erstbeste, was mir einfiel.
„Ein Mensch mit Gewissen. Ich bin begeistert.“

Ihre Stimme war deutlich und akzentuiert, mit einer Vibration in den Untertönen, die in schlaflosen Nächten dafür sorgt, dass man sich wünscht, sie weiter zu hören, weil es eine Stimme war, die die Seele streichelte. Dunkel, fast rauchig. Eine schöne Stimme, was den Spott darin nur umso ätzender machte.
Ich drehte mich um. „Das bezweifle ich. Aus dem Alter, in dem es Frauen für sinnvoll erachtet haben mochten, mir aufzulauern, bin ich heraus. Wenn ich es genau bedenke, hat mir nie eine Frau aufgelauert.“

Nur Patientinnen, aber das war ein kalkulierbares Berufsrisiko als Stationsarzt der Psychiatrie und damit konnte ich umgehen. Damit, dass mir eine Frau mitten in der Nacht hinter einem Baum auflauerte, eher weniger. Sie war dunkel gekleidet, wirkte kräftig und größer als ich. Was nichts bedeuten musste, ich war nur mittelgroß und der tägliche Stress sorgte dafür, dass ich schlank blieb. Ihr Alter mochte irgendwo zwischen dreißig und vierzig liegen. Es war nicht hell genug, als dass ich mich auf eine genauere Schätzung eingelassen hätte. Ohnehin schien sie eine von jenen Frauen zu sein, bei denen jeder Mann bei einer Altersschätzung nur ins Fettnäpfchen treten konnte. Tizianrote Locken fielen ihr ungebändigt fast bis zur Hüfte herab, ihr ovales Gesicht war bleich. Im Mondlicht wirkte es wie aus Marmor gemeißelt und die wie bei einer Orientalin leicht schrägen Augen schimmerten in einem so intensiven Grün, das jede Raubkatze neidisch geworden wäre.

Scheinbar locker stand sie vor mir und doch wehte ein Hauch von Angespanntheit zu mir herüber. Wie eine Angestellte der Klinik wirkte sie nicht und wie eine Patientin schon gar nicht. Natürlich konnte ich mich irren - ich hatte auch schon einmal einen Pfleger an seinem ersten Tag für einen Patienten gehalten und zur Tanztherapie schicken wollen. Immerhin verzichtete er am nächsten Tag dann auf Jesuslatschen und Dreadlocks und erschien sogar pünktlich zum Dienst.

Sie hatte sich mit dem Rücken an den Baum gelehnt, ein Knie angewinkelt und malträtierte mit dem Absatz einer Stiefelette den Stamm. Wäre ich die Rinde gewesen, ich hätte geschrien.

„Haben Sie sich eine Meinung gebildet?“ Sie ließ die Arme fallen und stieß sich mit den Schultern vom Stamm ab. „Dann lassen Sie uns ein Stück gehen.“

Wenn ich beim Schachspielen etwas nicht mag, dann sind es Eröffnungszüge, die in keiner Bibliothek stehen. „Aber gerne. Ich wollte Sie ohnehin fragen, ob ich Sie nicht zu Ihrer Station begleiten soll. Wenn der Nachtschwester auffällt, dass sie fehlen, bekommen Sie Ärger.“

So schnell, dass ich nicht einmal sah, wie sie die zwei Schritte zu mir machte, packte sie mich bei den Aufschlägen meiner Jacke. „Ich könnte Sie schlagen.“

Sie fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen, als würde sie Lust empfinden oder würde sie empfinden, wenn sie es tat. Unauffällig warf ich einen Blick nach links und rechts, doch nirgendwo rührte sich etwas. Vorsichtig erwiderte ich: „Wahrscheinlich. Ich bin ein alter Mann, viel Spaß würden Sie daran wohl kaum haben. Lust vermutlich noch weniger.“

Wieder huschte ihre Zunge über die Lippen wie eine kleine rosafarbene Schlange. „Was wissen Sie schon von Lust?“

Wenig, dafür umso mehr von den Abgründen, in die sie Menschen zerren konnte. Ich hatte täglich mit ihnen zu tun, aber das ging sie nichts an. Gar nichts ging sie hier etwas an. Sie hatte einen erstaunlichen Griff und ihn keine Sekunde gelockert.

Mit aller Ruhe, die ich aufbringen konnte, sagte ich: „Lassen Sie mich bitte los.“

Zögerlich gab sie mich frei, glättete mit der Hand meine Jackenaufschläge und wiederholte: „Gehen sie ein Stück mit mir. Dann werden Sie verstehen. Bitte.“

„Nein.“

Ich ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Sie seufzte. Es klang nicht sonderlich echt. Das, was dann kam schon: „Ich könnte natürlich auch Borg sagen, dass Svensson bei Ihnen so etwas wie eine Beichte abgelegt hat. Was denken Sie, würde Borg dann tun? Mit Ihnen?“

Ich erstarrte. Ragnar Borg war der Sektionschef Deutschland von NordicSF und der Statthalter Hakonsens hier in Schwerin. Er war auch derjenige, der persönlich Svensson in der Antarktis eine Kugel in den Rücken gejagt und ihn so zur Strecke gebracht hatte. Die Kugel steckte noch immer in Svenssons Rückgrat und er konnte nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen. Borg hatte eine Operation untersagt und ihn für alle Welt für tot erklärt. Dass ich Svensson noch als Elfjährigen gekannt hatte, hatte mir ein paar mehr als nur unangenehme Fragen von Borg und seinen Leuten eingebracht, aber ich hatte glaubwürdig genug simulieren können, dass ich nichts wusste. Dass Svensson mir erzählt hatte, dass er seiner Geliebten Johanna Hakonsen das Genick gebrochen hatte und dass das der Grund war, warum er dreißig Jahre später hier in Schwerin im Alleingang fast den ganzen Konzern Hakonsens im Blut seiner Vorstandsmitglieder ersäuft hatte, hatte er dem Arzt erzählt. Auch wenn dieses Krankenhaus hier wie so vieles anderes in der Welt Johannes Hakonsen gehörte, war mir das Arztgeheimnis heilig und deswegen hatte ich mich von Borg nicht weichklopfen lassen. Doch wenn er von diesem Gespräch erfuhr, würde er auch vor einem alten Arzt nicht Halt machen. Damit stellten sich zwei Fragen: Woher wusste sie das und was wollte sie von mir?

Sie wartete ein paar Schritte entfernt. „Beschleunigen Sie Ihre Denkprozesse etwas, Doktor und dann kommen Sie. Ich meine es ernst.“

Einen Moment zögerte ich noch, dann warf ich meine Tasche in den Wagen. Was blieb mir anderes übrig? Ich hätte schreien können oder weglaufen, aber irgendetwas sagte mir, dass beides keine gute Idee war. Die Kraft, mit der sie meine Jackenaufschläge gepackt hatte, war erheblich gewesen.

Sie hakte sich bei mir ein und nach einigen Minuten, in denen sie mich stumm zwar sanft, aber bestimmt in Richtung des Parks gesteuert hatte, sagte sie: „So bin ich auch mit Chrrristian spazieren gegangen, als er mich hier besuchen kam.“

„Sie waren noch nie Patientin hier. Ich sehe Sie zum ersten Mal.“

Erst, als ich geantwortet hatte, fiel mir auf, dass sie Svensson beim Vornamen genannt hatte und auf eine besondere Art, wie jemand, der ... ihm sehr nahe steht. Niemand hatte ihn beim Vornamen genannt, nicht einmal er sich selbst. Weil kein Mensch auf der Welt ihm noch nahe stand.

Sie lächelte mit schmalen Lippen, als wüsste sie es besser. „Ich habe nur auf den Busch geklopft. Anders hätte ich Sie wohl kaum überreden können. Er hat also mit Ihnen geredet und Sie haben Borg nichts davon gesagt.“

„Vorher. Bevor er in die Antarktis ging. Eine Geschichte von Blut und Tränen, in der nicht einmal er, der sie doch vorangetrieben hatte, einen Sinn erkannte. Nur seine Endstation und die unsichtbare Hand eines zu ihm nicht gerade gnädigen Schicksals.“

„Es war weder das Schicksal, noch unsichtbar, aber man sieht immer nur das, was man sehen will. Selbst er ...“

Wir kamen an einer alten Holzbank vorbei, die einzige im ganzen Park, wenn ich mich noch recht erinnerte. Man hatte sie wohl übersehen, als Hakonsen und NordicSF hier alles modernisiert hatten. Nicht einmal die Bänke hatten sie vergessen, überall standen sie herum – hässliche braune Dinger aus Plastik mit Wärmefäden unter der Sitzfläche, die sich einschalteten, sobald sich ein Patient darauf niederließ und mit einem Solarpaneel, das dafür die Energie lieferte, wenn die Sonne schien.

„Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Doktor.“ Sie blieb stehen. „Ich kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Wir waren es immer, die Angst vor euch hatten und als ihr vor fünfzigtausend Jahren das Feuer für euch entdeckt habt, wussten wir, dass es Zeit war für uns, zu gehen.“

Ich habe Unglaubwürdigeres von meinen Patienten gehört als diesen Satz. Wenigstens bewirkte er, dass sich wieder etwas von dem Arzt meldete, der ich doch war. Der nicht urteilt, der nur Gefährte ist auf der Suche nach dem Ausgang aus dem Irrgarten einer kranken Seele und hofft, dass der Patient auch die Kraft findet, durch diesen hindurch zu gehen, wenn er nach Wochen oder Monaten endlich gefunden ist. Wie es aussah, musste ich für sie nach einem Scheunentor Ausschau aushalten.

Sie ließ mich los, setzte sich auf die Bank und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Kommen Sie, setzen Sie sich ein bisschen zu mir. Mögen sie düstere Legenden?“

Nein, mochte ich nicht. Nicht jetzt, nicht außerhalb der Dienstzeit, in der ich genug davon hörte, die nicht nur düster, sondern schwärzer als die Nacht waren und eigentlich überhaupt nicht. Ich mochte jetzt zu meinem Auto gehen, nach Hause fahren und eine Tablette gegen Wahnvorstellungen von Frauen, die einen ahnungslosen Psychologen mitten in der Nacht in einen dunklen Wald entführten, nehmen. Aber es sah so aus, als würde ich damit noch ein bisschen warten müssen.

Ich setzte mich neben sie und wenn ich ein bisschen zu theatralisch dabei stöhnte, so ignorierte sie es wenigstens. Eine Weile schwieg sie und atmete schwer, als müsste sie Kraft sammeln, dann sagte sie: „Ich habe ein bisschen recherchiert. Ihre Art, mit Verrückten wie mir umzugehen, genießt einen gewissen Ruf. Lassen Sie mich sehen, ob er richtig ist. Also, vor langer Zeit lebten die Affen in den Bäumen und die Menschen auf der Erde. Die Affen ernährten sich von Früchten und kleinen Tieren und wurden von Gefühlen geplagt; die Menschen ernährten sich von der Energie des Wassers und des Windes, ihr Denken war so geradlinig und klar wie das Strahlen der Sonne; Mitleid, Schmerz, Furcht, Gier, Hass und ... und ... Liebe ... so etwas kannten sie nicht, ja, sie verstanden es nicht einmal. Trotzdem war ihnen tiefe Ehrfurcht vor jedem Leben, egal, ob Pflanze, Tier oder Affe, in die Gene geprägt. Aber den Affen genügten die Bäume nicht, sie stiegen herab, lernten, aufrecht zu gehen und das Feuer zu bändigen und die Affen, die am lautesten brüllen konnten, machten sich zu Oberaffen und bestimmten über die Affen, die nur eine leise Stimme hatten. Immer mehr wurden sie und die Menschen flohen vor den Affen, die nicht einmal Respekt vor dem Blut ihrer eigenen Art hatten, auf eine einsame Insel. Doch ihre Hoffnung auf Frieden währte nur ein paar tausend Erdumläufe um die Sonne. Die Oberaffen ließen Schiffe bauen und egal, wie viele von ihnen das Meer auch verschlang – die Affen eroberten eine Insel nach der anderen und kamen immer näher. Die Menschen schufen sich biologische Maschinen, die sie versorgten und verschwanden von der Oberfläche der Erde. Alles, was den Affen blieb, waren Legenden über Götter, über die Großen Alten, die aus einer fernen Welt gekommen waren – was nicht stimmte - und deren Untergang. Die Menschen richteten ihr Interesse auf Dinge, die größer waren als sie und schlossen die Affen aus ihrer Wahrnehmung aus. Das war ihr erster Fehler und er sollte sich bitter rächen. Langweile ich Sie, Doktor?“

Es war gut, dass sie mich aus ihren Phantasien herausriss. Satz für Satz war es mir schwerer gefallen, bei mir selbst zu bleiben. Ihre leise Stimme hatte etwas Suggestives und mich zusammen mit dem Rauschen des Windes in den Kronen der Bäume fortgetragen in ihre Welt, ihr Innerstes. Das ist in meinem Beruf ein unverzeihlicher Fehler. Ihre Frage holte mich wieder zurück und fast war ich ihr dankbar dafür. Hatte sie es mit Absicht getan?

„Wenn es so wäre, würde es etwas ändern?“, antwortete ich.

„Nein. Worte ändern nichts.“ Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, dann legte sie wieder auf ihr Knie. Es war eine schöne Hand, mit langen Fingern, ohne Falten und hervortretenden Adern auf dem Handrücken und mit kurzen schlanken Nägeln. Junge Mädchen, die nie hart gearbeitet haben, besaßen solche Hände. Ich sah ihr die Kraft nicht an, mit der sie mich vorhin gepackt hatte.
„Worte haben noch nie etwas geändert“, wiederholte sie. „Nur Taten, im Guten wie im Bösen und manchmal ist es nicht einfach, dazwischen zu unterscheiden. Die Oberaffen ließen immer größere Waffen bauen und die Menschen taten etwas, was ihrer Natur zuwiderlief: sie mischten sich ein. Viele Affen starben deswegen und es stürzte die Menschen in einen tiefen Konflikt mit sich selbst. Ihre Kenntnis der kosmischen Gesetze war weit fortgeschritten, aber sie anzuwenden, hatte sie nie interessiert. Macht hatte sie nie interessiert, Zeit nichts bedeutet, Eile hatten sie nicht gekannt - sie waren stille Beobachter dessen gewesen, was ist, was war und was sein wird; kalte, machtlose Götter, die auf einmal begreifen mussten, dass ihre Zeit abgelaufen war und so lernten sie dann zum Schluss doch noch ein Gefühl kennen: Angst.“

Sie verstummte und ich wartete, ob es noch eine Fortsetzung gab. Doch sie schaute nur mit leerem Blick über den See. Ich sah so einen Blick nicht zum ersten Mal, zeitliche und räumliche Desorientierung konstatierte ich für mich. Das Schlüsselwort hatte sie gesagt: Angst. Nicht die ihrer ominösen Götter, die schob ihr Unterbewusstsein nur vor. Es war ihr eigene Angst, die sich so manifestierte. Doch sie machte nicht den Eindruck, als ob sie Hilfe annehmen wollte und wenn es so war, gab es wenig, was ich für sie tun konnte. Außer, es wenigstens zu versuchen.

Langsam stand ich auf und sagte mit der gleichen Stimme, mit der ich schon viele tausend Male in solchen Momenten gelogen hatte: „Ich denke, wir sollten gehen. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen, dann kommen Sie morgen bei mir vorbei und ich bin sicher, dass wir ihnen helfen können.“

„Glauben Sie an Schicksal, Doktor?“

Sie schaute mich an, aber ihr Blick sagte mir, dass sie immer noch nicht wieder bei mir war. Ich streckte meine Hand aus: „Kommen Sie.“

Schwer zog sie sich an meiner Hand empor und diesmal war ich es, der sie führte. Nach ein paar Schritten sagte sie: „Die Menschen mussten nicht an Schicksal glauben. Sie wussten, dass es existiert und sie ergaben sich darin. Doch bevor sie das taten, erschufen sie ein Wesen, das aussah wie ein Affe, verweigerten ihr jedoch deren Gefühle und gaben ihr stattdessen all ihr Wissen und einen Auftrag: Zu verhindern, dass sie jemals entdeckt wurden. Dann löschten sie das Wissen um ihre Herkunft in ihrem Gehirn und verdammten sie zu einem Leben unter den Affen.“

Es war nicht schwer, zu erkennen, was sie mir sagen wollte. Manchmal denke ich auch, dass ich von Affen umgeben bin, auch wenn mich dann sofort das schlechte Gewissen plagt und ich mich schnell wieder zur Ordnung rufe. Das ist eine typische menschliche Eigenschaft, es sei denn, sie wird bestimmend wie bei ihr. Dann ist es keine Eigenschaft mehr, sondern eine Erkrankung der Seele. Meistens ist sie heilbar.

Wir standen wieder an meinem Wagen. Ich drückte ihren Arm, dann ließ ich sie los. Ich wusste, dass ich ihr jetzt nicht vorschlagen durfte, mit mir in die Klinik zu gehen. Immer noch hatte ich im Hinterkopf, dass sie mir mit Borg und Svensson gedroht hatte. Warum und wie so, war nicht so wichtig. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es im Dunstkreis dieser beiden Männer überproportional viele kranke Seelen geben musste. Wahrscheinlich war sie eine davon.

Ich sagte: „Ich bin so ab zehn in der Klinik morgen. Kommen Sie vorbei und wir reden ein wenig. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

„Sie wollen einer armen Seele aus dem Dunkel der Verdammnis helfen? Kein Vertun? Sie überschätzen sich, Doktor.“

Eisiger Spot troff aus ihren Worten und plötzlich war sie wieder die Frau, die mich vorhin gepackt hatte. Sie straffte sich und ihr Blick klärte sich. „Dann sagen Sie Borg, dass er mich haben kann. In zwei Tagen, wenn die Sonne über der Klinik, in der er Chrrristian vor mir versteckt, am höchsten steht und er mich fünf Minuten mit ihm sprechen lässt. Sagen Sie ihm das, Doktor!“

Es war nicht ihre Stimme, die, auch wenn sie wie das Knallen einer Peitsche geklungen hatte, mich erstarren ließ. Es war etwas ganz anderes: Ich kannte nur einen Menschen, der jemals und das auch noch ziemlich häufig, das Wort „vertun“ gebraucht hatte – Christian Svensson. Mein Kopf knüpfte Verbindungen, die es nicht geben konnte, nicht geben durfte ...

„Wer sind Sie?“ Mehr brachte ich nicht heraus.

„Das werden Sie wissen, wenn Sie mir die fünf Minuten bei Svensson verschaffen.“

Ich schrie: „Ihr Name!“

Ihre Antwort klang, als spuckte sie mir ins Gesicht: „Ich bin ein Affe, Doktor, nichts weiter als ein Affe. Mit Gefühlen, die ich nie gewollt habe und die mir das Leben bei euch zur Hölle gemacht haben. Ihr wisst gar nicht mehr, was euch so einzigartig macht.“

„Das wäre?“

„Hoffnung, Doktor, Hoffnung.“

Sie machte zwei Schritte, dann drehte sie sich noch einmal um: „Und mein Name ist Johanna.“

Damit ging sie und mir blieb nichts anderes, als ihr nachzuschauen. Wahrscheinlich stand mir sogar der Mund offen. Ihre letzten Wort waren wie die unsichtbare Hand gewesen, die mit einem Ruck den Vorgang vor dem Fenster aufreißt und den Blick auf das freigibt, was wirklich ist. Etwas in mir wusste, dass jedes Wort, das sie gesagt hatte, die Wahrheit gewesen war und ich erinnerte mich an das, was Svensson mir gesagt hatte, bevor er gegangen war: „Es sind zu viele Zufälle, kein Vertun. Wenn etwas geschieht, dann deswegen, weil es irgendjemand so geplant hat, und das, was zufällig scheint, ist nix weiter als das Eintreten der Notwendigkeit. Irgendwo ist eine Hand, die das alles steuert. Ganz sicher!“

Borg, Hakonsen und vielleicht auch Svensson mochten Johanna für nichts weiter als eine biologische Maschine halten. Ich hätte es auch tun müssen, weil ich Arzt bin und wissen sollte, was einen Menschen ausmacht.

Mittlerweile war ich mir da nicht mehr so sicher, denn immer dann, wenn sie Svenssons Vornamen ausgesprochen hatte, war etwas in ihren Augen gewesen, von dem ich wünschte, dass es jemals in den Augen einer menschlichen Frau für mich geleuchtet hätte.

Und alles begann vor gut dreißig Jahren in den kalten Wassern der Ostsee vor Warnemünde ...
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