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...und es geschah zu jener Zeit,
dass alles richtig scheiße war. Und zwar ging nichts mehr oder es ging nichts mehr richtig. Vor allem die Köpfe nicht. Sie schlossen zu und nicht mehr auf und nannten es Lockdown. Wasnsonst?
Aber auch die Welt schloss irgendwie ab. Bars waren zu. Clubs waren zu. Restaurants - alle zu. Essen konnte man sich nachhause liefern lassen, was gut war, aber halt auch wieder nicht. Vor allem nicht, wenn man Ippolito hieß, seit nun fast zwölf Jahren geschieden war und Weihnachten nicht so scheiß alleine verbringen wollte.
Also was tut so ein, nun fast gänzlich graumelierter, Ippolito, um das Fest zu retten? Nichts. Gar nichts. So ein Ippolito tut für gewöhnlich nichts. So ein Ippolito wartet. So ein Ippolito wartet darauf, dass jemand anderes etwas macht, jemand anderes etwas wagt; einen ersten Schritt vielleicht. Dass jemand anderes eine Bewegung macht, wie mal ein Lächeln zu verschenken oder einfach mal nett ein simples 'Hallo' auszusprechen.
"Hallo!", sprach die neue Nachbarin aus dem Zweiten ausgesprochen nett. Ippo hatte sie schon ein paar Mal vom Fenster aus gesehen, als sie vor zwei, drei Wochen einzog. Sie wuselte alleine zwischen ihrem Auto und dem Wohnhaus hin und her und wirkte wie ein kleiner Käfer der Beute transportiert, die um ein Vielfaches größer ist als er selbst. Eine kleine, eher rundliche Frau, rot- oder braun- oder rotbraunhaarig, mit Kurven in Leuchtbuchstaben!
Kurven, die Ippolitos Augen beim ersten Anblick festhielten und sie windelweich kloppten. Kurven, die sich unter den Pullovern, Hoodies und Kleidern, ja sogar unter ihrem Wintermantel, bewegen wie Raubtiere in ihrem Käfig. Sie ist so sehr Frau, dass ihr Foto auf Wikipedia im Artikel "Frau" stehen müsste. So sehr Frau, dass er weder Blick, noch Gedanken von ihr lassen kann. So sehr Frau, dass sie ihm auch ein wenig Angst macht.
Als sie am Einziehen war, hatte er überlegt seine Hilfe anzubieten; also nicht für den Kühlschrank oder die Waschmaschine, aber für die Kartons. Er hatte sich ausgemalt, wie das gelaufen wäre. Es wäre gut gelaufen. Es läuft oft gut in der Ausmalung. Sie hätten sich kennengelernt und furchtbar viel geredet und gelacht. Bis in die Puppen. Manchmal vielleicht ernst diskutiert, aber nicht gestritten. Sie hätte geschmunzelt bei seinen raffinierten Pointen und erwähnt, wie köstlich sie seinen Wortwitz fände. Mit ihr könnte er endlich seinen Namen erfüllen. Er hätte ihr in die Augen gesehen und etwas ausnehmend Schönes gesagt über diese Augen, die sogar Engeln leuchten. Smaragde, welche diesen Bildern von Weltraumteleskopen glichen, die Sternennebel zeigen und dich an Gott glauben lassen, als wäre Farbe wie Wasser und Gott selbst wie zwei Kinder, die in der Badewanne planschen und hohldrehen. Rabauken in Ekstase und Wahn, die das Badezimmer bis zur Decke unter Wasser setzen.
Er hätte die Sache mit den Kurven nicht aufs Tapet gebracht; über sowas spricht Ippo nicht. Die Sache mit den Augen hätte er in der Enoteca gebracht, im richtigen Moment, bei nicht unter zwei und nicht über vier Glas Wein, wenn sie zusammen essen gegangen sein würden; irgendwann nach der Coronabelagerung. Ganz am Ende wären sie quieckend im Bett gelandet. Aber romantisch. So einer ist Ippo nicht. Am Ende landet Ippolito in seinen Träumen immer romantisch im Bett, wo er in Wirklichkeit unromantisch alleine aufwacht.
"Hallo? Kann ich vorbei?", fragte die neue Nachbarin Ippolito, der vor den Briefkästen stand mit einer handsignierten Weihnachtskarte seines Versicherungsmaklers in der Hand und, euphemistisch ausgedrückt, gedankenverloren den Zugang zum Treppenhaus versperrte.
"Oh ja, selbstverständlich... Bitte sehr!", Ippolito war fahrig und ließ seine Hand eine unnütze einladende Bewegung in Richtung der Treppen machen, als ob er sie der Nachbarin als Geschenk anböte.
Die Nachbarin sah ihn an, wie wenn er nicht wirklich alle Tassen im Schrank hätte, aber dafür ein ausgesprochen nettes Teeservice, denn sie schmunzelte. Sie schmunzelte über beide Wangen hinweg als sie die vier schweren Einkaufstaschen wieder anhob, die sie abgestellt hatte, um auf den Tagträumer zu warten und sich all die Predatoren ihn anfauchend in Bewegung setzten.
"Darf ich?", fragte sie etwas forsch und schob zuerst ihren Blick, dann ihren für Ippo gefährlich von Beutegreifern bevölkerten Loukoumkörper vorbei, jegliche Abstandsregeln verhöhnend. Ippo hatte nicht wirklich Platz gemacht und brachte außer dem seligen Grinsen eines Teenagers nichts zu Stande. Ihre Haare flossen an ihm vorbei, wie ein Fluss aus Feuer und sie entfachten die Luft. Wohl eher hellbraun oder doch rot? Sie rochen so gut. Soo gut.
Aber als sie an ihm vorbei war und er dann sah, wie sie sich mühte, die schweren Tragetaschen die Stufen hochzuschleppen und er diese divinen Raubtiere sich nicht wiegend, aber schuften sah, tat er...
...wieder mal nichts. Gar nichts. Er blieb sogar stehen und gab vor, er lese weiter die Weihnachtskarte. Tatsächlich handsigniert. Sieh an!
Plötzlich aber riss eine der Taschen an der Seite auf und Kartoffeln purzelten heraus und lieferten sich umkämpfte Rennen mit dem Rosenkohl die Treppe hinab. Sie alle landeten um Ippos Füße herum und weiter unten. Die Nachbarin drehte sich entsetzt um und fragte sich mürrisch, wie sie das jetzt lösen sollte und Ippolito höflich, ob er ihr vielleicht helfen könne. Er sagte, selbstverständlich könne er das und fing eifrig, aber hölzern, an all die Knollen einzusammeln. Aber wie und wohin? Die Nachbarin sah ihm zu und das lähmte ihm irgendwie die Gedanken und machte ihn nur noch kopfloser. Also begann er einfach alles in die Taschen seines Mantels und seiner Hose zu stopfen. "Gehen sie schon vor, ich komme nach!", winkte er ab, ohne sie anzusehen. Ihre Augen sind vielleicht Smaragde, aber sie bohren wie Diamanten, dachte er sich.
Es kostete ihm Einiges an Nerven, aber die Sache war, dass seitdem sein Bäuchlein die Verniedlichung des Wortes nicht mehr rechtfertigte, er zusehends Atemnot beim Schuhebinden bekam. Weswegen er die Schuhe eigens aufs Genaueste kontrollierte vor jedem Ausgang.
Mit Müh und Not also und einigem akrobatischem Ungeschick schaffte er es schließlich alles einzusammeln und schwitzend in den zweiten Stock zu tragen. Ihre Tür stand offen und wohlige Wärme, sowie der Duft von Kardamom und Zimt ergossen sich hinaus ins Treppenhaus. Er ging hinein und warf zaghaft ein fragendes, kindliches Hallo? in die Wohnung.
"Ich bin in der Küü-che!", warf sie zurück. Im Flur standen noch Umzugskartons gestapelt. Das Wohnzimmer leuchtete farbenfroh im Kerzenlicht und in der Küche stand sie dann da, in einem weichen, etwas zu eng und daher makellos anliegendem, senfgelbem Wollkleid und versuchte eine Packung Kaffeebohnen ins oberste Regal des Vorratsschrankes zu hieven. Der Anblick ihrer durchgedehnten, in blickdichten mauven Strumpfhosen gefassten Beine, ihres zum Reinlegen leckeren, runden Hinterns, der ihm auf seine Weise zuzwinkerte und ihrer warmen und weichen Brüste, die sich ein Herz nahmen und die Flucht nach vorne ergriffen und so den Schwerpunkt ihres Kandiskörpers um Einiges verschoben, verursachte mehrere gravierende seismische Inzidenzen in Ippolitos Verstand und zerschossen diesen auf Guggu-Gagga-Niveau. Die Nachbarin drehte sich um und erwischte Ippolito ungedeckt, mit den Schilden unten und Ippolitos Augen, wie sie wie aufgedrehte Welpen auf ihrem Körper tobten, übermütig hoch und runter rasten, ausgelassen herumsprangen und sich glückselig auf ihm wälzten, als ob niemand zusah. Jemanderine sah aber zu. Das war die Sache und die Sache bereitete Vergnügen.
"Was machen Sie eigentlich ein Weihnachten...?", fragte die Nachbarin amüsiert und stellte sich eine Bescherung vor, bei der sie unterm Baum liegt, endlich wieder...
"Nichts!" , antwortete Ippolito. "Nichts..."