Neutrale Perspektive - Hilfe/Meinungen gefragt
Moin.Aus bestimmten Gründen kann ich eine Szene nur in der neutralen Perspektive schreiben. Das habe ich noch nie gemacht und kann nicht einschätzen, ob sie die erhoffte Wirkung hat.
Diese Perspektive müsst ihr euch vorstellen wie einen Film, den sich der Leser UND auch der Erzähler ansehen - keine Innensicht der Protagonisten möglich, keine Gedanken, keine Begründungen. Erzählt wird nur was geschieht, also nur visuelle und akustischen Eindrücke, die Außenstehende wahrnehmen.
"Sie hörte ..." geht nicht. "Er dachte ..." schon gar nicht und so weiter.
Trotzdem sollte natürlich, wie in jedem Kapitel, Spannung erzeugt werden, eine unverhoffte Wendung dabei sein, Hektik ausbrechen. Geht aber hier nicht anders. Das Schwierigste aber, finde ich, ist, den Leser nicht dumm im Regen stehen zu lassen, weil er die Hintergründe nicht kennt. Die Handlung muss also absolut selbsterklärend sein. Das ohne zusätzliche Eindrucksvermittlung des Erzählers scheint mir ein bisschen wie die Quadratur des Kreises.
Meinungen und Vorschläge liebend gerne erwünscht.
Dankeschön
Rainer
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„Ich lasse die Tür hier zum Gang offen“, sagte der Posten schließlich. „Lassen Sie die Krankenzimmertür nur angelehnt und rufen Sie, wenn Sie mich brauchen, bitte.“
Ohne Antwort ließ sie ihn stehen, ging die paar Schritte, entriegelte die Tür, ließ sie hinter sich einen Spalt offen und warf einen Blick in den Raum.
Wenn man von den Gittern vor dem kleinen Fenster absah, besaß er die tiefgründige Persönlichkeit einer Backsteinmauer. Wie jedes Krankenzimmer, das auf sich hielt, stank es nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, kaltem Kantinenessen und Urin. Aus einer undichten Armatur tropfte Wasser in ein Waschbecken aus halb abgeplatzter Emaille und der weiß gestrichene Stahlblechschrank daneben konnte gut in seinem vorigen Leben als Soldatenspind gedient haben. Die zerkratzte Sprelakartoberfläche des Nachtschranks neben dem Stahlrohrbett war so leergefegt wie das Südfrüchteregal im Konsum zu Weihnachten und keine Vase mit einem Blumenstrauß zur Erinnerung an die Liebste und keine Pralinenschachtel von Angehörigen verdeckte die gelben Altersflecken darauf. Daneben stand ein Stuhl, auf dem weder Sachen lagen, noch Schuhe darunter standen; ja, nicht einmal Krücken waren zu sehen. Christian Oldenburg hatte noch nie aus eigener Kraft das Bett verlassen und offenbar schien niemand davon auszugehen, dass er es in nächster Zeit tun würde.
Am Fußende des Bettes hing ein Klemmbrett mit der Patientenakte. Ohne es abzunehmen, blätterte sie kurz mit einer Hand darin, dann stellte sie ihr Tablett auf den Nachtschrank und zog sich den Stuhl neben das Bett.
Christian Oldenburg schlief tief und fest auf dem Rücken; über einen Port in seiner linken Armbeuge lief aus einem Tropf das Schlafmittel; der Port in seiner rechten Armbeuge war verschlossen. Er hatte ein ausdrucksstarkes, kantiges Gesicht mit einem energischen, fast quadratischen Kinn, kräftiger Nase und einer hohen Stirn, auf der Schweiß perlte. Obwohl er erst dreiundzwanzig Jahre alt war, schien sein Gesicht nur aus Kanten zu bestehen, so festgefügt und unabänderlich, als hätte das Leben darin schon alles abgeschliffen. Von der unfertigen Weichheit der Jugend, die Entwicklung verspricht, war nichts mehr darin zu sehen. Er atmete tief und gleichmäßig, aber sehr langsam und selbst im Schlaf sah er noch nach Kampf aus. Nicht einmal die totenblass über den spitz hervorstechenden Wangenknochen spannende Gesichtshaut konnte ihm diese Ausstrahlung nehmen und auch nicht die frische rötliche Narbe auf seiner linken Wange, die sich wie eine Schlange in Richtung Mundwinkel wand.
Sie holte aus ihrer Kitteltasche ein Paar Operationshandschuhe, streifte sie über und entnahm ihm über den Port in seiner rechten Armbeuge eine Ampulle Blut. Die Schnelligkeit und Präzision, mit der sie das tat, verriet, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal tat. Dann zog sie die Handschuhe wieder aus, ließ sie zusammen mit der Ampulle in ihrer Kitteltasche verschwinden, nahm das Tablett mit ihren Utensilien und ging zur Tür. Sie hielt ein Ohr an den Spalt zwischen Tür und Rahmen, griff nach der Türklinke, da murmelte Christian etwas im Schlaf. Sie verhielt mitten in der Bewegung, dann drehte sie sich um. Schweiß floss von seiner Stirn, mehr als noch vor wenigen Minuten und etwas davon rann ihm in die Augenwinkel. Nach einem fast unmerklichen Zögern ging sie zum Waschbecken, feuchtete ein Handtuch an und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Die Sanftheit, mit der sie das tat, stand im krassen Gegensatz zu ihren energischen, fast harschen Schritten auf dem Flur und auch zu der professionellen Effizienz, mit der sie ihm Blut abgenommen hatte. Als hätte er ihre Berührung gespürt, veränderte er im Schlaf ein wenig seine Position. Sein linker Arm rutschte von der Bettkante und stieß dabei gegen ihr nacktes Knie.
Halb über ihn gebeugt, atemlos verharrte sie, jeden Muskel angespannt, als wollte sie weglaufen und konnte es doch nicht. Schließlich befreite sie sich aus ihrer Starre, schüttelte den Kopf und starrte ihm ins Gesicht. Dann, fast widerstrebend und wie unter einem Zwang, legte sie ihm ihre Hand auf die Stirn und schloss ihre Augen.
Auf dem Flur ertönt ein leises Geräusch. Sie reißt die Augen wieder auf, springt zur Tür, lauscht, aber da ist niemand. Sie schleicht die zwei Schritte an das Fußende von Christians Bett, greift nach seiner Akte, blätterte sie eilig durch – mehrmals wieder zurück und wieder vor – hängte sie sie wieder an den Bügel über dem Fußende. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, greift nach den Utensilien, die sie mitgebracht, aber nicht benötigt hat, nimmt sich selbst Blut ab. Fahrig wirkt das alles, hektisch und der Gegensatz zu ihrer vorherigen Professionalität ist unverkennbar. Sie nimmt sich nicht einmal Zeit, den Gummischlauch an ihrem Oberarm zu lösen, als die Ampulle gefüllt ist, springt auf, stoppt den Zulauf des Schlafmittels in Christians linker Armbeuge, entfernt den Schlauch von seinem Port und injiziert ihm stattdessen - zweimal muss sie dabei ansetzen – das Blut, das sie sich eben selbst abgenommen hatte.
Immer wieder gehen ihre Blicke zur Tür, die Ampulle wird leer, sie verbindet den Infusionsschlauch wieder mit dem Port, da verzerrt sich Christians Gesicht. Hände in das Bettlaken gekrampft, durchgebogener Rücken – Erschrecken schießt ihr ins Gesicht. Mit ihrem ganzen Körpergewicht wirft sie sich auf ihn, presste ihm beide Hände auf den Mund. Gequältes Stöhnen – sie kann es nicht unterdrücken, doch dumpf wird und leise. Leise genug, dass es nicht durch die Tür dringt. Der Kampf ist unfair. Sie ist kräftig, er im Tiefschlaf. Einmal noch bäumt er sich auf, dann fällt er zurück und erschlafft.
Schwer atmend richtet sie sich auf. Stimmen erklangen auf dem Flur, nicht nur ein einzelnes Geräusch und gehetzt schaute sie zur Tür. Sie warf noch einen Blick auf Christian, zog schnell die Decke über seinem bewegungslosen Körper glatt und setzte eine OP-Maske auf, die nur ihre grünen Augen frei ließ. An der Tür atmete sie ein paar Mal kräftig aus und ein, dann trat sie auf den Gang hinaus.