Die Welt ist schief
Seit drei Tagen ist die Welt schief. Vor drei Tagen habe ich aufgehört, mit zwei verschieden langen Beinen durch die Welt zu stolpern. Plötzlich ist Boden auch unter meinem linken Fuß, wo sonst nur welcher unter dem rechten war. Das rechte war mein Standbein, das linke das Spielbein, aber viel Spielen ging gar nicht. Es baumelte da irgendwie immer nutzlos herum zwischen mir und der Welt. Es war eine Attrappe, dachte ich manchmal, es tat nur so, als sei es ein Bein. Es war unzulänglich. Ballast.
Auf den ersten Blick sah es aus wie ein ganz normales Bein, zumindest von der Form her, und wie es sich in der Anordnung zu den anderen Gliedmaßen verhielt. Viel Bein, leider nicht in der Länge. Aber es gab sich immerhin so, als sei es ein Bein, so lange ich es nur in Ruhe gelassen, ihm nicht zuviel Beinarbeit abverlangt habe. Es hat nur Bein gespielt. Ein Spielbein eben.
Wir werden trainieren müssen, mein Körper und ich und das ehemalige Spielbein. Ich muss es zum zweiten Standbein ausbilden. Nicht nur die Muskeln, sondern auch die Knochen. Es muss tragen lernen, seine volle Rolle übernehmen. Es muss zu seiner Beinheit zurück finden, es hat keine Ausrede mehr, denn die etwa drei Zentimeter, die ihm bisher gefehlt haben, die sind jetzt da.
Es ist ja nicht komplett neu in der Rolle. Bis vor gut zehn Jahren hat es noch ein wenig mitgearbeitet. Hat zwar oft rumgenörgelt wegen der drei Zentimeter, aber es hat immerhin kleinere Aufgaben ausgeführt, unter Anleitung. Dann hat es sich aus dem aktiven Dienst verabschiedet. Nun muss es sich erinnern.
Das mit den drei Zentimetern allerdings - das ist komplett neu, nicht nur für das Bein. Auch der Rücken, die komplette Rückseite, alle sind verwirrt. Die Welt fühlt sich schief an, auch im Sitzen.
Umorientierung ist jetzt angesagt, eine Neuordnung der Dinge. Gut, die grundlegenden Aufgaben werden bleiben, aber die Zusammenarbeit zwischen den Einzelteilen muss überdacht und neu organisiert werden.
Und damit wird die Welt in ganz kleinen Schritten wieder gerade gerückt. Dieses Schiefe an der Welt war mir nie bewusst. Während eines kurzen Zeitfensters nur werde ich es wahrnehmen. Wir Menschen sind anpassungsfähig. Die Welt ist schief, aber meist fällt uns das gar nicht weiter auf. Wir passen an, die Welt uns oder uns der Welt. Eine kurze Gelegenheit ist dies, zu erkennen, wie schief die Welt sein kann. Und dann hoffen, dass es mir trotz erfolgreicher Anpassung gelingt, diesen ungewöhnlichen Blick auf die Welt, die um drei Zentimeter ver-rückte Perspektive nicht sofort wieder zu vergessen.