Das Gesicht im Wasser -des Märchens 1. Teil
Vor langer Zeit, als das Herz und der Verstand beim Menschen noch fest miteinander verknüpft waren, lebte in einem Dorf ein Maler. Sein Name war Staffel. Vielleicht hieß er so nicht von Anfang an, aber bald nannte ihn jeder so. Und er war ein guter Maler, sogar ein hervorragender Maler, denn er malte mit dem Herzen. Sobald er eine Wiese malte, konnte man auf dem Bild nicht nur das Gras und die Blumen sehen, sondern man spürte auch den warmen Sonnenschein und hörte die Vögel singen. Malte er ein Haus, so sah man später nicht nur Wände und Fenster, sondern man hörte auch die Bewohner darin lachen und roch einen guten Braten aus der Küche. Wenn er aber einen Menschen malte, erkannte man auf der Leinwand nicht nur dessen Gesicht, sondern auch seine Gedanken und sein Herz. Dass es sich so mit Staffels Bildern zutrug, lag am See. Nicht am Wasser, sondern am Gesicht im See. Das hatte einst Staffel bei seinem ersten Versuch beobachtet, den frühen Nebel über dem Wasser zu malen, und ihm aus Freude über seinen Eifer die Gabe geschenkt, nicht nur mit dem Pinsel, sondern auch mit dem Herzen zu malen.Das Motiv, das Staffel am liebsten malte, war Fee.
Fee war ein Mädchen aus dem Dorf und lebte allein in einem Haus, das ihr die Eltern hinterlassen hatten. Nicht ganz allein, denn immer bei ihr war ihr Hund Fleck. Und auf dem Hof gackerten ihre Hühner. Oft kamen ihre drei besten Freundinnen zu Besuch: Nella, Lena und Helen. Das waren die drei Schwestern vom Nachbarhof. Staffel malte auch die Vier, wenn sie miteinander im Schatten der Linde saßen und sich Geschichten vorlasen. Oder wenn sie den jungen Küken das Stroh aus dem Flaum zupften. Da sah man auf seinen Bildern nicht nur vier glückliche Mädchengesichter mit roten Wangen und strahlenden Augen – nein, da hörte man auch fröhliches Plaudern und herzliches Lachen.
Aber malte er Fee – Fee, wie sie einen Wiesenstrauß vom Feld brachte, wie sie das frisch gebackene Brot zum Auskühlen auf den Küchentisch legte, wie sie am Abend mit ihrer Flöte am Fenster stand – dann zauberte sein Pinsel nicht nur ein schlankes Mädchen mit braunen Zöpfen und Sommersprossen, lustigen Augen und roten Lippen auf das Papier, sondern auch die Reinheit ihrer Gedanken und die Freude in ihrem Herzen. Und das Zeichnen dieses Wesens machte ihn so froh, dass er es immer wieder malen musste.
Einmal im Jahr feierte das Dorf ein großes Fest. Wenn alle Bauern ihre Ernte eingefahren hatten, und die Scheunen und Keller voll mit den Gaben der Felder und Obstbäume waren, die Fässer mit dem Saft der Trauben gefüllt und die Arbeit des Sommers getan war, schmückten alle den Dorfplatz mit Blumen und stellten Tische und Bänke auf. Volle Krüge und dampfende Schüsseln luden zum fröhlichen Mahl. Die Musikanten spielten zum Tanz und alles, was zwei Beine hatte, drehte sich zu den Klängen der Fideln und Flöten. Dieses Jahr hatten die vier Freundinnen fleißig bei den Vorbereitungen geholfen und sich mit neuen Kleidern und Blumen im Haar festlich geschmückt. So fehlte es nicht an jungen Burschen, die sie immer wieder zum Tanz aufforderten.
Auch Staffel war da, aber er tanzte nicht. Zwar hätte er gerne seine Fee im Kreis herumgewirbelt, aber dann hätte er nicht malen können. Und das Malen war ihm doch wichtiger als der Tanz mit Fee. Er fühlte, seine Aufgabe in der Welt war das Malen. Es hätte dann ja auch kein Bild gegeben, auf dem man die Tanzenden mit ihren erhitzten Gesichtern und strahlenden Augen hätte sehen können. Kein Abbild der Fröhlichkeit und Ausgelassenheit. Und nicht des hohen Besuchs, der das Fest ehrte. Denn zum ersten Mal war König Edel zum Dorftanz gekommen. Noch hatte ihn keiner erkannt, denn er hatte zum Spaß Bauernkleidung angelegt.
König Edel lebte zwei gute Stunden Kutschfahrt entfernt auf seinem Schloss. Er hatte noch nicht lange die Regentschaft von seinem Vater geerbt, aber schon die Liebe seiner Untertanen gewonnen. Denn er war ein guter und gerechter König. Schon länger war er auf der Suche nach einer Braut. Doch die Prinzessinnen der benachbarten Königshäuser waren ihm allesamt zu hochnäsig oder zu eitel oder zu gierig oder alles zusammen. Keine hatte bisher sein Herz berührt. Da hatte ihm seine kluge Mutter geraten, dass er sich eine Frau im Dorf suchen solle. So war er mit seinem beiden besten Freunden, den Grafen Hell und Licht, verkleidet zum Fest ins Dorf gegangen.
Gerade hatten sie sich unter die Tanzenden gemischt, als Staffel sein Bild begann. Da fielen ihm die Fremden gleich auf. Hatten sie doch die drei Schwestern zum Tanz geholt. Der König tanzte mit Nella, Graf Hell mit Lena und Graf Licht mit Helen. Aber Staffel konnte Fee nicht entdecken. Sonst war sie doch immer in der Nähe der Freundinnen gewesen.
Da sah er sie endlich in der Menge. Auch sie tanzte mit einem Fremden. Groß war der, ganz in Schwarz gekleidet. Das war kein Bauer aus der Umgebung. Staffels Pinsel, der ihm sonst so sicher ein Abbild dessen, was sein Meister sah, malte, schien sich zu wehren, die fremde Gestalt abzubilden. Es machte Staffel große Mühe, Fee und ihren Tänzer auf das Festbild zu bannen. Dabei schien Fee so glücklich zu sein. Sie strahlte in den Armen des schwarzen Mannes.
Plötzlich zuckten Blitze am Himmel. Schnell brach ein heftiges Gewitter über die fröhliche Menge herein. Eilig wurden die restlichen Speisen in die Häuser getragen und die Musikinstrumente eingepackt. Staffel schützte sein noch nicht fertiges Bild durch ein Sacktuch und ging schnell heim. Die Mädchen schlangen ihre Tücher um den Kopf und rannten nach Hause. König Edel hastete mit seinen Begleitern zum nahen Wäldchen, wo die Kutsche verborgen stand. Der schwarze Fremde war verschwunden.
Als Fee nach Hause gekommen war, ging sie zum Fenster ihrer Kammer und betrachtete das Toben des Wetters. Sie hatte in die schönsten Augen eines Mannes geblickt. Sie träumte von dem fremden Tänzer. Würde sie ihn wieder sehen?
©tangocleo2009