Die Begegnung
Nestor fühlte sich nicht wohl. Er war seine verlogene Existenz leid. Das Gefühl, dass etwas daran ganz und gar nicht richtig war, wurde immer heftiger in ihm. Es machte ihn aggressiv und launisch. Sein Wirt, dieser Markus Brenner, ertrug ihn mit stoischer Ruhe. Er verstand das nicht. Wenn ihn jemand so beherrschen würde, würde er ihn mit einem mentalen Fußtritt aus seinem Bewusstsein befördern.‚Ich hätte Lust, mich dem Typen mal zu zeigen’, überlegte er, legte sich in seinem Sumpf zurecht und starrte in einen grünblauen Himmel.
Nestor war ein Echsenwesen. Ein junges aber mental sehr starkes Exemplar. Die Echsen lebten in zwei Dimensionen gleichzeitig. Es war ihnen auch möglich, die Zeit zu verändern. Vielleicht nicht gerade verändern, aber sie konnten sie kontrollieren. Einen physischen Körper besaßen sie nicht. Ihr Erscheinungsbild war das Resultat ihrer ehemaligen Existenz. Sie hatten sich weiter entwickelt, auf ihre physischen Körper verzichtet und waren als Energie im Raum-Zeit-Gefüge unterwegs. Aber es waren immer noch Individuen.
Nestor fühlte sich von seiner Körperlosigkeit gefangen. Er schaute gerne durch menschliche Augen. ‚Was sind das für häretische Gedanken’, schalt er sich selber. Meistens kam es über ihn, wenn sein Wirt schlief. Der Körper ruhte, alles funktionierte von alleine. Er brauchte nichts zu tun. Früher hatte er sich manchmal in seine Träume geschlichen. Aber es war langweilig geworden. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass es nicht richtig war.
‚Irgendetwas läuft da total falsch’, murmelte er. ‚Wenn ich ihn gefragt hätte, ob er mich dann aufgenommen hätte? – Bin ich jetzt schon komplett blöd geworden? Warum sollte er das machen wollen? Kein Lebewesen mit Verstand, würde sich das antun?’
Tagelang brütete er über diesen Fragen.
Währenddessen ging sein Wirt, Markus Brenner, seinem Leben nach. Es war das, was er unter Leben verstand. Morgens aufstehen, dann zur Arbeit fahren, Abends nachhause und früh zu Bett. Nicht gerade aufregend. Am Wochenende kamen noch diverse Diskobesuche dazu. Nestor erkannte, dass sein Wirt die Ablenkungsmanöver der Mächtigen voll nutzte. Er fiel drauf rein. Immer häufiger ärgerte sich Nestor darüber.
Er wollte seinen Wirt kennen lernen. Richtig kennen lernen, ihn nicht als leere Hülle sehen, sondern als den, der er war. ‚Hoffentlich weiß er noch, wer er ist, sonst bekommen wir ein Problem,’ überlegte er. Sein Entschluss stand fest. Heute noch würde er sich seinem Wirt zu erkennen geben. Er musste aber vorsichtig zu Werke gehen und etwas machen, dass seit mehreren tausend Jahren keiner mehr gemacht hatte, wenn überhaupt – einen lebenden Wirt verlassen, und ihn um Erlaubnis zur Rückkehr zu bitten.
‚Wenn es misslingt, bin ich am Arsch.’ Nestor kniff die Augen zu schmalen Schlitzen. Es brauchte Mut, so etwas zu wagen. Das Risiko war groß, dass ihn der Wirt zum Teufel wünschte. Er würde auch in der Paralellwelt für Aufsehen sorgen, so etwas blieb sicher nicht unbemerkt. Die telepathische Tätigkeit, die er entfalten musste, würde ihre Wirbel über diese Welt, hinein in die nächste schicken.
Unsicher kratzte er sich am Kopf. Dann zwang er sich aus dem Körper von Markus Brenner. Kälte umfing ihn. Eiseskälte. Einsamkeit. Leere. Er hatte nicht gewusst, dass es so sein würde. ‚Wenn er mich nicht mehr will, bin ich echt am Arsch’, murmelte er.
Markus war gerade aus der Dusche getreten. Er stand am Spiegel und begann Rasierschaum im Gesicht zu verteilen. Erschrocken hielt er inne. „Spinn ich oder was“, sagte er. Im Spiegel sah er folgendes Bild: sein Gesicht, die untere Hälfte mit weißem Schaum bedeckt, daneben schien aus ihm heraus, eine Echse zu klettern. Sie war graugrün, hatte gelbe Augen und war sehr groß. Mit ihren Klauen schien sie zu winken.
Markus lief ein Schauer über den Rücken. Wie angewurzelt stand er da, den Rasierer noch in der einen Hand, die andere schon an der Wange. Er blinzelte. Die Halluzination ging nicht weg.
‚Du spinnst nicht’, hörte er eine Stimme in seinem Kopf. ‚Ich bin ebenso wirklich wie du, wenn auch nicht aus dem selben Stoff.’
„Was machst du in meinem Kopf? Geh da raus – ich kann dich genau spüren.“
‚Du fühlst mich? Das halte ich für ein gutes Zeichen. – Ich wollte dich etwas fragen. Ich möchte gerne deinen Körper mit dir teilen.’
„Sonst noch Wünsche! Ich werde mir eine Riesenechse in den Kopf setzten. Schau ich so aus?“
‚Nun, wenn ich ehrlich sein soll – ja.’
Mensch und Echse starrten sich an.
Dann lachte der Mann. „Du bist doch schon längst in meinem Kopf, wieso fragst du noch?“
„Weil es so höflicher ist.“ Nestor war erstaunt darüber, dass Markus bereits gewusst hatte, dass er in ihm war.
„Und wie heißt du? Reptil?“
„Du liebe Güte – nein. Du kannst mich Nestor nennen.“
„Dann bekommst du jetzt ein offizielles Willkommen, Nestor. – Heißt es nicht so schön: teile und herrsche. Nun – wer beherrscht jetzt meinen Körper, wenn ich ihn mit dir teile?“
„Wieso denkst du, dass es dein Körper ist?“
Der Mann blickte nachdenklich an sich hinab. Er fühlte, wie ihm die Kühle eine Gänsehaut bescherte. „Wir reden nachher, Nestor. Mein Körper sagt mir gerade, dass ich mich rasieren und dann schnellstens anziehen soll.“
Nestor blieb als Spiegelbild bestehen. Von dieser Perspektive hatte er noch nie einen Menschen gesehen. Es war interessant. Nestor war sehr wissbegierig. Er hinterfragte so ziemlich alles, was er sah und hörte. Darin glich er Markus. Sein Wirt war überaus scharfsichtig und zurückhaltend mit seinen Äußerungen.
Markus machte sich fertig. Als er dann beim Frühstück saß, sagte er: „So, jetzt weiß ich, dass ich nicht verrückt bin, zumindest hoffe ich es. Erzähl mir von dir.“
‚Du brauchst nicht laut mit mir zu reden. Das geht auch in Gedanken, du hast starkes telepathisches Potenzial.’
‚Freut mich zu wissen. Dann erzähl mal. – Ich werde inzwischen frühstücken. Du weißt sicher, dass ich in einer halben Stunde zur Arbeit muss.’
Nestor begann mit seinem Bericht:
‚Vor vielen tausend Jahren kamen meine Vorfahren auf der Erde vorbei. Die Menschen waren damals noch recht unterentwickelt, hatten gerade mal das Feuer erfunden. Sie erschraken, als die ersten Echsen landeten, und dachten, dass wir Götter wären. Wir ließen sie in dem Glauben. Wir kamen dahinter, dass wir uns mit dem Geist der Menschen leicht verbinden, und von der menschlichen Lebensenergie zehren können. Deshalb kam es zu ersten Verschmelzungen. Am Anfang wurden die betreffenden Menschen sorgfältig unter der Bevölkerung ausgewählt. Es waren meistens Priester oder Priesterinnen. Dann wurde unsere Zahl größer und auch die der Menschen. Wir beeinflussten darauf hin eure Entwicklung, beschleunigten oder behinderten sie, je nach Bedarf und wer von uns gerade die größere Macht hatte.’ Nestor machte eine nachdenkliche Pause. ‚Momentan laufen wir auf ein großes Chaos hin. Es gibt mehrere Kräfte, die im Widerstreit zueinander stehen. Jede hat ein anderes Ziel. Das Ende vom Lied wird die Zerstörung eurer Zivilisation.’
Markus hörte aufmerksam zu. Trank seinen Kaffee und aß sein Müsli dazu. Jeder andere meinte immer, er leide an Geschmacksverwirrung, ihm schmeckte es.
‚Hast du dich deshalb hervor getraut?’, fragte er schließlich.
‚Nicht nur. Ich war neugierig, bin es noch. – Ich hoffe nur, dass mich kein Wächter entdeckt. Sie passen nämlich furchtbar auf, dass uns die Menschen nicht entdecken.’
Er hörte auf zu reden. Markus merkte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken runter lief. Aber es war nicht seine eigene Angst.
‚Überträgst du deine Angst auf meinen Körper?’
‚Tut mir leid. Ich konnte es nicht unterdrücken.’
‚Warum habt ihr keine Körper? Wollt ihr welche und stehlt deshalb unsere?’
Nestor lachte. ‚Wir haben genauso Körper wie ihr. Nur sind unsere nicht ganz so – ähm kompakt. Wir bestehen wie ihr aus Atomen und den noch kleineren Teilen. Frag mich nicht, wie die heißen, das ist eines der wenigen Gebiete, auf denen ich mich nicht auskenne, und die mich auch nicht interessieren. Dein Körper besteht aus lauter Atomen. Du weißt doch, woraus ein Atom besteht? – Kern, Neutron und Proton … und dazwischen ist nichts. Also ist dein Körper nicht ganz so fest, wie du es dir vorstellst. Das ist bei allen Dingen, die du siehst so. Deine Augen und die anderen Sinne sagen dir, dass es stoffliche Dinge sind, deshalb kannst du sie berühren. Ich weiß, dass es nur eine Struktur ist, die nicht wirklich fest ist, und kann deshalb durchgehen, wenn ich will.’
‚Jetzt bin ich wirklich verrückt’, dachte Markus. Er zwickte sich in die Hand. ‚Es tut weh, ich kann nicht durchgreifen – also erzähl mir keinen Scheiß.’
Der Echsenmann lachte schallend. Die Härchen an Markus’ Armen stellten sich auf. Es war ein Laut, als würde Kreide über eine Tafel kratzen.
‚Du musst dich von der Vorstellung lösen, die ihr von der Welt habt. Nicht alles, was du siehst, ist wirklich. Das meiste entspringt nur deiner Vorstellung. Dein Gehirn produziert die Bilder, die du als Realität wahrnimmst.’
Darüber musste Markus erst einmal nachdenken.
‚Lass mir Zeit. Reden wir am Abend weiter darüber. Ich muss jetzt los.’
‚Wir müssen los, Alter. Du musst mich schon mitnehmen.’ Der Mann spürte, wie die Echse belustigt mit den Augen zwinkerte.
Markus brachte den Tag mehr schlecht als Recht über die Bühne. Er hatte sich für eine Abteilungsleiter-Stelle beworben. Gerade heute war das Bewerbungsgespräch gelaufen. Er hatte ein gutes Gefühl, obwohl er bei seinen Antworten nicht recht bei der Sache gewesen war.
‚Du wirst die Stelle bekommen. Es ist wichtig’, sagte Nestor am Abend.
‚Wie meinst du das?’
‚Wenn es so weit ist, wirst du es wissen. Bevor ich nicht sicher bin, dass ich dir völlig vertrauen kann, werde ich dir nichts sagen können. Es ist zu gefährlich. – Du hast keine Ahnung, wie gefährlich meine Leute sind.’
‚Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann’, meinte Markus grinsend. ‚Du sprichst von Vertrauen, hast aber einfach so meinen Körper in Besitz genommen, ohne vorher zu fragen. Das gehört sich nicht.’
Jetzt musste Nestor wieder lachen. ‚Gute Antwort. Ich sehe schon, wir werden uns gut verstehen. Wir sind aus dem selben Holz geschnitzt, wenn du so willst.’
Markus machte es sich vor dem Kamin bequem. Er hatte sich zur Feier des Tages, er wusste eigentlich nicht was er feierte, eine Flasche Wein gekauft.
‚Wie kann ich dein Vertrauen gewinnen, Markus? Soll ich aus dir verschwinden?’
‚Nein. Bleib nur. Irgendwie mag ich dich, auch wenn du fremdartig bist und mich etwas erschreckst.’ In langsamen Schlucken trank er vom Wein. ‚Du sagtest etwas, dass ihr gefährlich seid. In wie fern?’
‚Sie wollen die Weltherrschaft an sich reißen. Aber das wollen sie schon lange. – Die nahe liegende Gefahr besteht jetzt für uns. Sie wollen nicht, dass sich Wirt und Symbiont persönlich kennen. Das verstehen sie als Untergrabung ihrer Macht.’
‚Wie sollten sie denn davon erfahren?’
‚Sie wissen mehr als du denkst. Ständig sind irgendwelche Wächter unterwegs, die beobachten und melden. Jede neue Bewegung wird registriert, und Widerstand wird im Keim erstickt. Wer nicht nach ihren Spielregeln spielt, wird bestraft.’
Er hielt inne, ließ dem Mann Zeit, das Gehörte zu verarbeiten.
‚Wie können wir uns schützen, damit es keiner merkt?’
‚Das ist für dich unangenehmer als für mich.’ Nestor grinste. Ein Funkeln trat in seine Augen.
‚Wie meinst du das?’
‚Wenn wir unter Leuten sind – ich meine da jetzt Menschen und Echsen – musst du dich mir unterwerfen. Sie können ruhig merken, dass wir miteinander reden, aber du musst mich als deinen Herrn anreden. Von ihren Wirten fordern sie absolute Unterwerfung. In manchen Positionen ist es wichtig, dass sich der Symbiont zu erkennen gibt, dann ist der Wirt vollständig unter Kontrolle und kann nicht mal mehr seinen Körper alleine steuern. Das, werde ich nicht mit dir machen.’
Markus war aufgesprungen. Er hatte die Flasche Rotwein umgeworfen. Eine rote Lache bildete sich am Boden. ‚Was?’, rief er ungläubig.
‚Ich will dich ja nicht unterwerfen. Es ist nur zum Schein, und nur wenn wir unterwegs sind. Sollten sie uns draufkommen, dass wir eine wirkliche Symbiose eingehen, sind wir am Arsch, wenn du meine Ausdrucksweise verzeihst.’
Darüber musste Markus erst mal nachdenken.
‚Warum machst du das? Du setzt uns einer Gefahr aus, und verlangst von mir, deinen Diener zu spielen. Das ist viel verlangt.’
‚Das ist mir klar. Aber ich habe Zeichen gesehen, dass es eine Änderung geben wird. In welche Richtung sie uns führt – wer weiß? Um eine sinnvolle Änderung herbeizuführen, ist es manchmal notwendig, Risiken einzugehen. Ich möchte, dass wir alle gleichberechtigt leben können. Es muss eine Möglichkeit dafür geben.’
Nestor sprach leidenschaftlich. Es war ihm ernst. Seine Überzeugung war felsenfest. Etwas davon musste auch Markus mitbekommen haben. Er wischte die Schweinerei vom Boden auf, entsorgte die leere Flasche. Während er überlegte, hielt sich Nestor bedeckt, ganz im Hintergrund. Markus nahm ihn so wahr, wie er es schon eine lange Zeit getan hatte. Er hatte ihn immer als seine gute innere Stimme bezeichnet. Sein Wegweiser, oder sein Bauchgefühl.
Erst als er wieder vor dem Kamin saß, sagte er: „Vielleicht hast du Recht. Es ist nicht unangenehm, mit dir herum zu laufen. Wenn du sagst, dass es eine große Änderung geben wird, die für alle von Vorteil sein kann, dann möchte ich dazu beitragen. Also, was muss ich tun?’
Nestor erklärte dem Mann seinen Plan. Es war ein kühner Plan und hatte die Ermordung einer wichtigen Echsenpersönlichkeit zum Ziel. Diese Person hatte vor, eine neue Rasse zu gründen. Eine Vermischung von Echsen- und Menschengenen. Dazu durfte es nicht kommen. Es galt, das zu verhindern. Dann gab es noch eine Gruppierung, die Menschen als Sklaven züchten wollten, irgendwo auf dem Erdball hatte anscheinend schon eine Gruppe mit Experimenten begonnen. Es war aber alles so geheim, dass keiner etwas genaueres wusste. Nestor hatte sich die Königin zum Ziel gemacht. Es schien ihm machbar, sie her zu locken. Aber vorher musste er noch eine Frau finden, die sich als Amme eignen würde, auch wenn sie niemals eine solche werden würde. Nestor hatte schon eine im Auge, aber ob sie die Prüfung aushalten würde, war eine andere Frage.
Wichtiger war vorher noch, ob sie beide die Prüfung überstehen würden, um sich der Königin als würdig zu erweisen. Ihm schauderte bei der Vorstellung daran. ‚Es ist grausam’, dachte er in einem letzten privaten Winkel seines Echsenhirns. Dann schüttelte er alle Gedanken an Gefahr und Scheitern ab. Er musste Markus vorbereiten, ohne ihm zuviel Angst zu machen.
Dann begab er sich auf die mentale Suche. Das nächste Ziel war jetzt die Prüfung. Nach kurzer Zeit fand er die zuständige Echse. ‚Lenea, lass mich zur Königin, ich glaube, ich habe eine Amme für sie.’
‚Was für Neuigkeiten, Nestor. Hier kommt alle Naselang jemand vorbei und behauptet das. Dir fehlt sogar die Unbedenklichkeitsprüfung. Also, verschwinde wieder.’
Damit hatte er gerechnet. ‚Von mir aus Lenea. Aber wenn sie dahinter kommt, dass jemand eine Brutstätte für sie gefunden hat, und sie nicht informiert wurde, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.’
Die Echse dachte kurz nach, dann zuckte sie die Achseln, und sagte: ‚Dann musst du vorher durch das Tor – du weißt, was das heißt.’
‚Lass das meine Sorge sein.’
‚Morgen früh, mit deinem Wirt’, sagte sie nur, und drehte sich wieder weg.
Nestor atmete tief durch. Dann ging er wieder in den Körper zurück.
‚Wo warst du?’, fragte Markus.
‚Du bist sehr aufmerksam. Ich muss dich morgen zu einer Prüfung mitnehmen. Eigentlich hatte ich gehofft, es alleine machen zu können, aber sie wollen seit neuestem immer den Wirt dabei haben.’
‚Sprich nicht in Rätseln.’
‚Die Prüfung.’ Nestor sprach leise. ‚Ich mag nicht daran denken. Aber für dich ist es wichtig, dass du dich für diese Zeit total meinem Willen unterwirfst, sonst haben wir beide keine Chance auf Erfolg, und die Welt wird bald voll von Chimären sein.’
Das war eine erschreckende Vorstellung. Ein kalter Schauer nach dem anderen rann über seinen Rücken. Beide schwiegen. Jeder gab sich einem möglichen Zukunftsbild hin.
Zeitig am nächsten Morgen weckte Nestor Markus.
‚Wir müssen uns auf den Weg machen. Bist du bereit?’
‚Nein. Aber ich werde tun, was du sagst’, antwortete Markus müde.
‚Danke. Ich hoffe, dass wir die Prüfung bestehen.’
Dann gingen sie los. Zu dem geheimen Treffpunkt. Ein Wagen wartete vor der Tür. Markus stieg ein. Nestor hatte ihn gewarnt, ja keinen Ton von sich zu geben und immer nur gerade aus zu schauen. Wenn möglich sollte er nicht mal blinzeln. Nestor wollte nicht jetzt schon die Herrschaft über den Körper übernehmen.
Endlich waren sie angekommen. Der Ort war ihm fremd. Markus befolgte seine Befehle. Er ging geradeaus, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen. Er hatte eine Scheißangst. Nur mit Mühe konnte er ein Zittern unterdrücken. Die Welt war hier noch in ein schattenhaftes Zwielicht getaucht. Vor ihnen tauchte ein altes Lagerhaus auf. Darauf gingen sie jetzt zu. Zwei Männer standen vor einem Tor. Es wurde geöffnet, als sie durch waren, sofort wieder geschlossen. Im Inneren der Halle war es dunkel. Nur eine kleine Lampe sorgte für einen Lichtfleck. Es war nicht mehr als eine Lache in der Dunkelheit.
Markus hielt in der Mitte der Halle. Er spürte die aufkommende Angst mit jeder Faser seines Körpers. Bis jetzt war sein Leben bar jeder Gefahr gewesen. Er stand einfach nur da. Fühlte sich beobachtet, und kämpfte gegen den Impuls sich verstecken zu wollen. Nestor gab ihm leise Anweisungen. ‚Jetzt ist es soweit. Ich übernehme …’ Dann durchfuhr Markus ein schreckliches Gefühl der Hitze. Er schien aus sich heraus gerissen zu werden – amputiert. Von einem fernen Winkel seines Selbst sah er sich im Dunkeln stehen. Stramm wie ein Zinnsoldat. Die Hände an die Oberschenkel gepresst. Er fühlte, wie Nestor in seinem Gehirn das Kommando übernahm. Das Gefühl der Hitze ließ nach. Die Berührung war weniger schlimm, als er befürchtet hatte. Langsam ließ er sich fallen. Er musste Nestor jetzt vertrauen. Vielleicht hing ihrer aller Leben davon ab.
Nestor war jetzt Markus. Das Bewusstsein des Menschenmannes, hatte sich zurück gezogen. Er stand und wartete. Wie lange es dauern würde, wusste er nicht.
Endlich kam jemand auf ihn zu. Er kannte ihn nicht. Es war ein älterer, fast kahler Mann. Er strahlte Autorität aus. Nestor fühlte sich daneben klein. Kurz kamen ihm Zweifel über sein Vorhaben. Es war verrückt. Einfach verrückt, zu glauben, dass es einen Weg geben würde, das Geschick der Menschen ändern zu können. Dann stählte er seinen Willen. Er durfte nicht zaudern. Er musste lügen, auch wenn sie ihm das Herz heraus rissen und ihn verschlangen. Nestor fühlte, wie sich seine Nackenschuppen sträubten. Er dehnte die Klauen, der Menschenkörper blieb stramm stehen. ‚Cool bleiben. Setz dein bestes Pokerface auf’, redete er sich zu.
Der kahle Mann stand ihm jetzt gegenüber. Eine goldene Echse schien um den Körper. Sie fixierte ihn einen Augenblick und ließ ihn wieder los.
„Gut, dann lass uns beginnen. – Es gibt das Gerücht, dass gegen die neue Königin ein Attentat geplant ist. Deshalb sind unsere Prüfverfahren verschärft worden. Du bist jetzt das erste Exemplar, das mit seinem Wirt antreten muss. Solltet ihr scheitern, …“ Er sprach nicht weiter. Aber das Schweigen sprach Bände. Nestor lief es kalt den Rücken runter. Die alten Prüfungen waren nicht sehr schwer gewesen. Sie sollten nur die Loyalität auf die Probe stellen. Das hier würde – anders werden. Er bekam jetzt wirklich Angst.
Der Kahle drehte sich um. Dann sprach er weiter, während er ging: „Du wirst dich aus deinem Wirt so weit zurück ziehen, dass ich ihn übernehmen kann. Nur so können wir sicher sein, dass kein Verbrecher eingeschleust werden kann. Während ich ihn überprüfe, wirst du dich auf der anderen Seite testen lassen.“
Nestor erstarrte. Mit einem Mal schoss es ihm in den Kopf, wer der Kahle war. Der goldene Drache, hatten ihn manche genannt. Es handelte sich um den gefinkeltsten Befrager, der derzeit existierte. Und er lebte schon lange, zu lange. Nestor beschloss, dass er der nächste auf der Liste sein würde. Er verbannte den Gedanken und versuchte gleichmütig zu bleiben. So als wäre es ihm egal, was mit Markus passieren würde.
Leise gab er eine Warnung an seinen neuen Freund weiter: ‚Wir haben Pech. Du wirst auf dich gestellt sein – und ich auf mich. Sollte einer von uns scheitern, ist es mit uns beiden vorbei. Mach dich auf Qualen gefasst, die du dir im Traum nicht vorstellen kannst.’ Er hielt kurz inne. Markus wollte etwas sagen, doch Nestor redete gleich weiter: ‚Das meiste wird sich auf der Gedankenebene abspielen. Du kannst ihm ein Schnippchen schlagen, in dem du eigene Bilder erstellst. Es ist nicht alles real, was du sehen oder fühlen wirst. Anderes dagegen schon. Ich weiß nicht, wie ich dir noch helfen kann. – Es geht los.’
Sie wurden getrennt.
Markus war sich wieder seines Körpers bewusst. Er sah den alten Mann vor sich stehen. Sofort kamen ihm Bilder von KZ-Verbrechern in den Sinn. Ein fremder Gedanke schlängelte sich in sein Hirn. Er fühlte ihn wie Finger tasten. Sie suchten einen Weg, in sein Kontrollzentrum. Markus zwang sich, den Weg frei zu geben. Er fühlte einen ziehenden Schmerz. Es war zum Aushalten. Der Mann sagte: „Sehr schön. Du weißt, wie man gehorcht. – Jetzt wollen wir mal sehen, wie weit dein Gehorsam uns gegenüber geht. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du der Königin verschworen sein, und sie mit deinem Leben verteidigen.“
Markus liefen kalte Schauer über den Rücken. Er hoffte, dass es dazu nicht kommen würde. Irgendwie musste er es schaffen, sich dem Willen der Echse zu beugen und trotzdem seinen eigenen Willen behalten.
„Ich werde deine Körperfunktionen jetzt noch nicht übernehmen. Du wirst so lange stramm stehen, bis ich dir etwas anderes sagte. – Verstanden!“
Markus fuhr bei diesen Worten erst recht der Schreck in die Glieder. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper, gleichzeitig schwitzte er aus allen Poren.
„Um es dir nicht zu leicht zu machen …“, begann der Befrager und ein Schmerz durchfuhr Markus, wie er ihn sich nicht vorzustellen hätte vermocht. Flüssiges Metall schien durch seine Adern zu laufen. Er schrie und krümmte sich. Warf sich zu Boden und krallte die Fingernägel in den Beton.
„Auf mit dir!“, brüllte der Echsenmann, und zog ihn an den Haaren nach oben. „Du sollst stramm stehen! Wir haben noch nicht begonnen. Haltet ihr denn überhaupt nichts aus?“ Den letzten Satz warf er verächtlich hin. Dann spie er ihm vor die Füße. Ließ das flüssige Metall weiter durch die Adern laufen. Markus rappelte sich auf. Biss die Zähne zusammen. Er versuchte gleichmäßig zu atmen. Den Schmerz weg zu denken. Es funktionierte tatsächlich. Gerade lange genug, um wieder zu stehen und die Augen gerade aus zu lassen. Kochendheißen Tränen rannen ihm aus den Augen und verbrannten die Wangen. Er fühlte die Haut platzen. Aber er sah weiter gerade aus. Sein Atem ging stoßweise. Nur sein leises Stöhnen war zu hören. Der Befrager umrundete ihn. Schien zufrieden.
„Gut. Wie nennen sie dich, Hülle?“
Markus wurde kurz wütend. ‚Hülle?’, dachte er. ‚Ich werde dir gleich Hülle geben!’ Dann besann er sich eines Besseren, und sagte zwischen zusammen gebissenen Zähnen: „Brenner, Markus.“ Er konnte einen neuerlichen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, blieb aber stehen. Nur an der Anspannung der Muskeln konnte man die Anstrengung erkennen, die es ihn kostete. Schweiß perlte auf seinem Gesicht, tropfte die Nase runter. Sein Hemd klebte an ihm. Tränen quollen noch immer aus den Augen.
„Wo bist du?“
Brenner verstand die Frage nicht. Also sagte er einfach: „Hier.“
„Falsche Antwort.“ Ein erneuter Strom flüssigen Metalls ergoss sich in seine Adern. Der Schrei der ihm entfuhr, war so laut, dass kurz die Tür aufflog und einer der Wachmänner reinschaute. Der Befrager drehte sich zur Seite, entschuldigte sich für den Lärm. Dann drang er in Brenners Gehirn und legte das Sprachzentrum lahm.
Markus wurde panisch. Er wusste nicht, dass sich Angst steigern lässt. Nun wusste er es.
Er wollte schreien. So sehr er es versuchte, seine Kehle blieb stumm.
„So ist es besser, Hülle. Wir wollen ja niemanden auf uns aufmerksam machen.“
Markus kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben. Das Gesicht immer starr gerade aus gerichtet, hatte er das Gefühl von innen her zu verbrennen.
„Wo bist du?“
‚Ich kann doch nicht antworten’, dachte er verzweifelt. Dann spürte er, wie ihm jemand an die Kehle ging. Es war keine mentale Berührung, sondern eine physische Hand, die seinen Adamsapfel gekonnt nach innen presste. Er röchelte.
„Wo bist du?“
‚Ich weiß es doch nicht! Um Himmels willen, lass mich los!’, brüllte er in Gedanken.
„Bravo!“ Kam als Antwort. Die Hand wurde aber belassen, wo sie war. „Immer schön gerade stehen und den Blick nach vorne richten.“ Die Worte wurden fast sanft gesprochen. Als er fortfuhr, kamen sie wieder hart: „In Zukunft sprichst du mich mit ‚mein Herr’ an, verstanden!“ Der Griff an seiner Kehle wurde fester. Markus spürte, wie sich die fremde Haut in seine zu bohren schien. Das flüssige Metall schwappte weiter durch seinen Körper, wurde aber durch die Angst vor dem Ersticken verdrängt. Am liebsten hätte er diese Hände von seinem Hals entfernt. Irgendwie brachte er keine Bewegung mehr zu Stande. Mit Schaudern stellte er fest, dass er sich nicht bewegen konnte. Der Befrager hatte ihn bereits in der Hand.
„Wer will die Königin töten?“
Markus gab keine Antwort. Der Griff um seinen Hals wurde fester. Das flüssige Metall schien mit einem Mal hart zu werden. Er hatte das Gefühl, als würden sämtliche Blutgefässe gesprengt. Er dachte, dass er explodieren würde.
„Wer – will – die – Königin – töten? Sag – es – mir!“
‚Ich weiß es nicht, Herr. Welche Königin, Herr?.’ Markus war am Verzweifeln. Er wusste nicht, wie lange er noch aushalten würde. Er hatte von Foltermethoden gelesen. Aber von so etwas hatte er noch nie gehört. Da stand so ein kleiner kahler Mann, der von einer goldenen Echse gesteuert wurde und presste ihn aus.
Das Echsenwesen schien mit der Antwort zufrieden zu sein. Er nahm die Hände weg. Nun konnte Markus wieder ungehindert atmen. Das Gefühl unsagbaren Schmerzes blieb aber. Sein Körper stand nach wie vor stramm in der Mitte der Halle. Er fühlte jeden Muskel, jede Sehne in seinem Körper. Alles schien nach Bewegung zu schreien. Aber der Echsenmann hielt ihn gefangen.
„Du wirst hier so lange stehen, bis ich dir etwas anderes sage!“ Damit drehte er sich um, und ließ Markus stehen. Das Lampe wurde ausgemacht. Es war stockdunkel in der fensterlosen Halle. Er war gefangen an einem fremden Ort, und es gab noch keine Chance auf ein Entkommen.
Nestor war auf einer anderen Ebene. Er fühlte den goldenen Drachen auf sich zu kommen. „Wie ich sehe, willst du dich endlich mal um unsere Gunst bemühen“, höhnte er.
Nestor senkte den Kopf.
„Gut, dann bestehe die Prüfung, und du bist einer von den Glorreichen.“
Nestor dachte, dass er noch nie so einen pathetischen Unsinn gehört hatte. Schnell senkte er den Blick. Er hatte Angst, sich zu verraten.
Die Schuppen des Befragers glänzten im Sonnenlicht der Nebenwelt.
„Für dich habe ich mir eine gesonderte Art der Befragung überlegt. Da du dich ja durch hervorragende geistige Qualitäten auszeichnest“, er sagte das sehr verächtlich, als wäre eigenständiges Denken eine gefährliche ansteckende Krankheit, „habe ich mir gedacht, dass du deinen Sumpf verlässt und die Wüste durchquerst. Während der Durchquerung wird die Befragung stattfinden.“
Nestor erschrak. Er war nicht für die Hitze geschaffen. Seine Haut brachte Feuchtigkeit. Angst ließ seine Schuppen in graugrünem Licht pulsieren. Seine Nackenschuppen sträubten sich. „Wie ich sehe, bist du dir der Gefahr durchaus bewusst.“ Der Befrager klang befriedigt. „Öffne deinen Geist!“, befahl er. Nestor zögerte. Bevor der Befrager reagieren konnte, senkte er seine Barrieren und gab sein Denken frei.
Nur einen Lidschlag später stand er auf einer weiten Sandebene. Eine blass gelbe Sonne briet vom Himmel. Sie trocknete seine Schuppen aus. Er kniete im rauen Sand. Warum wusste er selbst nicht. Dann sprach eine Stimme zu ihm: „Steh auf und lauf!“
Wie von einem fremden Willen gelenkt stand Nestor auf. Er lief. Während er lief, wurden immer wieder Fragen an ihn gestellt. Er hatte das Gefühl, als trocknete sein Panzer aus. Sein Mund war trocken, die Zunge schwoll an. Er wollte hecheln, konnte es aber nicht, weil es die Schleimhäute noch mehr trocknete. Dann kamen die Aasvögel. Er bemerkte sie schon von weitem als schwarze Punkte am Himmel. Schnell kamen sie näher. Ob er wollte oder nicht, er konnte seine Augen nicht von ihnen wenden.
„Wer bist du?“, kam die erste Frage.
Nestor schnaufte. Er war atemlos, wagte aber aus Angst vor den Aasvögeln nicht, stehen zu bleiben. „Nestor vom blauen Sumpf. Entschlüpft aus einem Ei von Osiris im Erdjahr 1807.“
Er lief weiter. Der Sand verbrannte ihm die Fußsohlen. Er wusste nicht, dass er Schmerzen aushalten würde müssen. Noch ging es. Dann fühlte er einen fremden Schmerz. Es war Markus! Er litt wie ein Hund. Nestor fühlte das Feuer wie in seinen eigenen Adern. Er versuchte einen Teil davon zu absorbieren. Seine Art konnte das. Er wusste, dass er es konnte, er musste es einfach können.
„Dann Nestor vom blauen Sumpf, sage mir, wo du bist.“
„Verdammt, ich bin hier, in dieser elenden heißen Wüste!“
Die Schmerzen nahmen zu. Nestor fiel auf die Knie. Jetzt hatte er das Gefühl, als würde er mit flüssigem Harz übergossen, das sofort aushärtete. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Das Gesicht in den heißen Sand gedrückt, lag er da.
„Falsche Antwort – Wo bist du?“
„Ich weiß es nicht“, rang er sich schließlich ab.
Der Druck wurde entfernt, und er konnte wieder aufstehen. Er lief weiter. Die Geier waren schon ganz nahe. Einer landete vor seinen Füßen und schrie erbärmlich. Nestor blieb wie angewurzelt stehen. Der Schnabel des Vogels war gebogen, die Augen blickten hungrig zu ihm her, als hoffte es, dass er fallen würde. Dann gesellte sich noch einer dazu, und noch einer, bis etwa zwanzig von der Sorte vor ihm saßen oder hüpften.
Jeder Schritt wurde beobachtet. Nestor blieb stehen. So hatte es keinen Sinn. Er war eingekreist.
„Wer will die Königin töten?“
Die Frage traf ihn unvorbereitet. Er hatte noch nicht so früh damit gerechnet. Oder war es gar nicht mehr so früh und sie hatten ihn hier schon länger gefangen gehalten, als er dachte? Die Geier schrieen, spreizten ihre Schwingen, hüpften um ihn rum. Sie hofften auf fette Beute. Nestor überlegte, wie er lügen konnte, ohne entdeckt zu werden
„Ich weiß es nicht“, rang er sich schließlich ab.
„Ich glaub dir nicht“, die barsche Antwort. Die Geier hüpften näher. Einer sprang ihm ans Bein und trieb seinen Schnabel in die Schuppen am Knie. Nestor schrie auf. Nun kamen auch die anderen Geer. Jeder hieb mit seinem Schnabel auf ihn ein. Dann brach er zusammen. Die Beine waren abgefressen, zumindest hatte er das Gefühl, dass da nichts mehr war.
„Wer will die Königin töten?“ Immer die gleiche Frage.
„Ich weiß es nicht.“
Nestor versuchte, sich im Sand zu vergraben. Verzweifelt suchte er Schutz. Doch der Boden war hart und fest. Es gab keine Möglichkeit, sich zu schützen. Die Fragen wiederholten sich solange, bis die Geier bei seinem Herzen angelangt waren. Dort hörten sie auf.
„Das letzte Mal frage ich dich Nestor: wer will die Königin töten?“
„Ich weiß es nicht! Und jetzt töte mich endlich!“, schrie er zurück. Es kostete ihn eine enorme Willenskraft, der Wahrheit auszuweichen. Neben den eigenen Schmerzen hatte er auch noch die von Markus übernommen.
Nestor fühlte, wie ihm das Bewusstsein schwand. Hier durfte er es unter keinen Umständen verlieren. Gerade als er spürte, wie der erste Geier an seinem Herz zu zerren begann, war er wieder im Körper von Brenner. Am liebsten hätte er jetzt geweint. Aber er merkte, dass es Markus verdammt schlecht ging. Sein Bewusstsein hing nur mehr am sprichwörtlichen Faden. Nestor nahm alles an Schmerzen auf, das er aufnehmen konnte. Presste die Zähne fest zusammen und projizierte sie in die Wüste, aus der er gerade gekommen war. Er merkte, wie sich Markus entspannte. Nur sein Körper war noch immer nicht frei.
Jetzt ging das Licht wieder an. Der Befrager trat in den Lichtkegel.
„Nestor, du hast die Prüfung bestanden. Deine Hülle darf dich jetzt in die Wohnung zurück tragen. Wenn die Königin so weit ist, wirst du es erfahren.“
Damit war Markus frei gegeben. Mit letzter Kraft fing Nestor den fallenden Körper und steuerte ihn hinaus. Markus war zu erschöpft, um sich darum zu kümmern.
Markus hielt das Angebot der goldenen Echse tief in sich verborgen. Er hatte ihr noch keine Antwort gegeben, sich Bedenkzeit erbeten.
‚Es tut mir leid’, sagte Nestor, als sie zuhause waren.
Markus antwortete nicht. Es dauerte einige Tage, bis er sich bereit erklärte, wieder mit Nestor zu sprechen. Dann waren sie sich einig, dass es so auf der Welt nicht weiter gehen durfte. Es durfte keine Folter mehr geben, keine Intoleranz. Jede Existenz ist wertvoll, und verdient es zu leben.
„Wir werden jetzt die Amme holen“, sagte Nestor eines Tages. „Ich fürchte, diesmal werde ich derjenige sein, der Schmerzen bereiten muss.“
Markus war alarmiert: „Warum, Nestor?“
„Weil wir sie prüfen müssen. Wenn sie nach gibt, können wir sie nicht brauchen, dann sind wir tot, alle drei. Also hoffe, dass sie so stark ist, wie ich denke."