Drachentraum
Schweißgebadet schrecke ich aus meinem kurzen Schlaf auf, knipse die Stehlampe neben dem Sofa an und sehe auf die Uhr. Null Uhr fünfzehn. Noch ein wenig benommen gehe ich in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Während das kalte Wasser mich ein wenig belebt, erinnere ich mich dunkel an die wirren Bilder meines Albtraumes.Die Träume. Seit mein Lieblingsonkel Hans vor ein paar Wochen plötzlich starb, kommen die Träume jede Nacht zu mir. Ich schrecke dann, so wie auch heute Nacht, verschwitzt und verwirrt hoch und kann mich immer nur an blitzlichtartig auftauchende Bilder voller Schrecknisse, die ich nicht deuten kann, erinnern.
Onkel Hans… Wir hatten nicht mehr viel Kontakt miteinander, seit Angelo starb. Eigentlich hatte ich seitdem zu niemandem mehr wirklich Kontakt. Ich wollte niemanden mehr um mich haben, der auf mich einreden würde, dass die Erde sich weiter dreht, dass ich irgendwann wieder lachen könne und dass die Wege des Herrn nun mal unergründlich sind. Und nun, wo Onkel Hans tot ist, habe ich ein schlechtes Gewissen. Deshalb trage ich auch das Armband wieder, das er mir zu Angelos Geburt schenkte. Onkel Hans hatte es mir aus einer seiner vielen Asien-Reisen mitgebracht und mir am Tag der Entbindung, als er mich im Krankenhaus besuchte, um das Handgelenk festgemacht, mit den Worten, dass es mich vielleicht irgendwann leiten würde. Ich war damals ganz fasziniert von der schönen Silberarbeit. Ein aus feinen Silberdrähten geflochtenes, dickes, schweres Armband, das sich bei jeder Bewegung anschmiegt. Der Verschluss besteht aus zwei Drachenköpfen, die sich gegenseitig anblicken. Ich trug es Tag und Nacht, überzeugt, dass eine gute Kraft in ihm stecken würde. Bis zu dem Tag, als ich mein Baby morgens tot in seinem Himmelbettchen fand. Onkel Hans war betrübt darüber, dass ich das Armband nicht mehr mochte. Aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, es wieder aus der Schmuckschatulle zu nehmen, wo ich es ganz unten, unter wertlosem Kram vergraben hatte. So, wie ich mich selbst vergraben hatte und vor der Außenwelt am liebsten weggelaufen wäre.
Ein wenig klarer im Kopf und wieder halbwegs Herr meiner Sinne, gehe ich ins Schlafzimmer und nun endlich zu Bett. Es kann ja nicht angehen, dass ich jeden Abend auf der Couch einschlafe, weil ich Angst habe, zu Bett zu gehen und wieder Albträume zu haben!
Schnell schlafe ich diesmal ein und fühle mich, als ich erwache, wohl und erfrischt. Ich räkele mich noch eine Weile in meinem Bett. Schließlich ist Sonntag und ich muss ja nicht aufstehen, wenn es draußen noch dunkel ist. Draußen ist es dunkel? Also muss es immer noch Nacht sein, denn es ist ja erst September. Warum bin ich denn schon wieder wach?
Mit einem Mal fühle ich mich beobachtet. Meine linke Hand tastet nach dem Schalter meiner Leselampe über dem Bett, findet ihn und drückt auf den Knopf. Zunächst muss ich die Augen vor dem Licht zusammenkneifen. Mit der Rechten finde ich die Brille auf dem Nachttisch und setze sie auf. Schließlich bin ich ohne das Ding blind wie ein Maulwurf.
Merkwürdig. Alles ist wie immer. Aber noch immer fühle ich mich irgendwie beobachtet. Ach was, das sind nur diese verdammten blöden Träume! Oh, das Drachenarmband liegt ja neben mir auf dem Bett. Irgendwie muss sich wohl der Verschluss gelöst haben.
Ich nehme es in die Hand und lege es auf den Nachttisch. Ich werde es morgen früh wieder anziehen. Der Rest der Nacht vergeht traumlos.
Der Sonntag vergeht, wie einsame Sonntage vergehen. Tasse Kaffee am Morgen im Schlafanzug, ein wenig rumhängen im Internet, verspätetes Frühstück am frühen Nachmittag und ein langer Abend vor der Flimmerkiste mit anschließendem Einschlafen auf dem Sofa.
Ich träume wieder. Die Bilder sind so erschreckend und einsam. So kalt… Immer wieder sehe ich mein Baby, meinen Angelo vor mir. Doch inzwischen ist er ja schon fünf Jahre alt. Und ich sehe ihn in dem Alter, in dem er jetzt wäre. Aber er ist kein fröhliches Kind. Er sieht mich immerzu nur traurig an. Und es kommt mir vor, als formte sein Mund immer wieder das Wort Mama. Das Wort, das ich nie von ihm hören konnte, da er ja noch ein Baby war, als er starb. Ich will zu ihm hinlaufen, ihn in meine Arme schließen, seinen Geruch einatmen, ihn trösten… Aber das Bild löst sich vor mir auf.
Ich werde beobachtet! Plötzlich habe ich ein ziehendes Gefühl an meiner Linken. Das Armband! Es scheint sich zu bewegen!
Schnell mache ich Licht und zucke zurück. Ja, das Armband windet sich immer schneller um meinen Arm. Die Bewegung scheint zu zerfließen und der Verschluss zwischen den zwei Drachenköpfen löst sich. Es fällt von meinem Handgelenk, schlängelt sich übers Bett und gleitet zu Boden. Ich fühle mich wie in einem Sog aus Zeit und Raum und vergesse alles, was ich je über Wahrheit und Märchen gelernt habe. Das Armband scheint sich zu verändern, die Drachenköpfe werden größer und das Band dazwischen formt sich mehr und mehr zu einem echsenhaften Leib. Bei all der Bewegung vollzieht sich dieser Vorgang trotzdem in vollkommener Stille. Kein Geräusch dringt an meine Ohren. Mein Schlafzimmer wirkt mit einem mal winzig denn der Drache erfüllt bereits den gesamten Raum. Die zwei silbrig schimmernden Drachenköpfe scheinen an eleganten Hälsen über mir zu schweben, während ich in Kaninchenstarre auf dem Bett liege meinen Blick nicht von ihm wenden kann. Mein Mund formt einen entsetzten Schrei, doch kein Laut kommt über meine Lippen.
Tief in mir kann ich mit einem Mal eine Stimme hören.
Ich könnte sie nicht beschreiben, denn sie ist unbeschreiblich. Sie ist in mir und um mich. Sie füllt mich aus und hüllt mich ein und lässt nicht zu, dass ich noch etwas anderes außer ihr wahrnehmen kann. Ich kann die Worte die sie spricht nicht verstehen, denn, ich weiß nicht, woher ich weiß, aber ich weiß es, es ist eine Sprache, die seit hunderten von Jahren kein Mensch je vernommen hat. Aber ich kann sie fühlen!
Die Stimme zieht mich immer tiefer in ihren Bann. Endlich erhebe ich mich vom Bett und mache einen Schritt auf den silbernen Drachen mit den zwei Köpfen zu. Ich strecke meine rechte Hand aus um ihn zu anzufassen und in dem Moment, wo meine Haut die seine berührt, ist es, als durchzucke mich ein Blitz. Die Bilder meiner Träume stürmen auf mich ein. Ich sehe immer wieder Angelo, sehe sein Lachen, sehe seine kleinen Fingerchen, die versuchen, meine Nase zu packen, sehe seine ersten Krabbelversuche, sehe ihn tot in seinem Bett. Und ich sehe ihn so, wie er heute sein könnte. Fröhlich und glücklich und voller Dreck. Stolz einen Marienkäfer auf der Hand haltend, liebevoll eine Katze streichelnd, vertrauensvoll seine viel zu dünnen Ärmchen um meinen Hals legend. Und ich empöre mich über den Drachen, der mir meinen Sohn zeigt. Ihn mir so zeigt, wie ich ihn nie erleben durfte.
Endlich schreie ich: „Warum tust du das? Warum tust du mir das an?“
Und da höre ich zum ersten Mal seine warme, erdige Stimme aus meinem tiefsten Inneren:
„Weil er nicht glücklich ist, wenn Du auf Ewig trauerst! Er möchte glücklich sein. Lass ihn endlich los!“
(c) Rhabia 09/2009