Die Frau auf dem Zaun (Teil I)
Man nennt mich Brigid. Ich lebe in einem Dorf, welches inmitten einer hügeligen Landschaft aus Wiesen, Feldern und Wäldern liegt. Es ist ein ruhiges und beschauliches Dorf mit ruhigen und besonnenen Bewohnern. Hier lebe ich schon immer, so wie meine Mutter und deren Mutter vor ihr. Die Leute sagen, ich hätte gute Hände. Deshalb kommen sie zu mir, wenn sie krank sind, oder verletzt, oder wenn die Kuh nicht kalben will oder ein Huhn keine Eier mehr legt. Ich helfe ihnen mit dem, was ich von meiner Mutter lernte, so wie sie von ihrer Mutter. Dafür beschenken mich die Leute aus dem Dorf mit dem, was sie entbehren können. Mal ist es ein frisch gebackener, duftender Laib Brot, mal ein paar würzige Würste oder ein paar Eier, manchmal, wenn ein Händler ins Dorf gekommen war, auch ein Stück Tuch für ein neues Kleid.Es kommen selten Fremde in unser Dorf, da es ja am Rand liegt. Meist erfahre ich davon nur von den Dorfleuten, die es mir bei einem ihrer Besuche erzählen. Doch einmal sah ich einen Fremden, der sich auf dem Weg ins Dorf zu meinem kleinen Häuschen außerhalb verlaufen hatte. Ich erinnere mich noch gut an ihn, denn er war so anders, als die Leute hier. Er war groß. Viel größer sogar als unser Müllersknecht, der hier jeden überragt. Und er hatte weizenblondes Haar, wie es hier niemand hat. Und die Augen. Ich werde sie nie vergessen, denn sie waren hell und klar und strahlend, wie das Wasser eines Gebirgsbaches.
An dem Tag, als der Fremde ins Dorf kam, war Erntefest und auch ich ging zum Tanz. Der Fremde mit den lachenden Augen kam auf mich zu und forderte mich zum Tanz auf. Mich, mit dem mausbraunen Haar und dem schmalen, etwas schiefen Mund! Und er tanzte den ganzen Abend lang nur mit mir. Ich fühlte mich wie auf Wolkenwiesen. Doch leider nahm der Herr Pastor mich zur Seite und sagte mir, es gehöre sich nicht für eine junge Frau ohne Angehörige, mit einem Fremden zu tanzen. Also senkte ich beschämt meinen Blick und machte mich auf den Weg nach Hause, ohne auch nur den Namen des Fremden erfahren zu haben. Danach habe ich ihn nie mehr gesehen.
Ja, unser Dorf liegt am Rand. Deshalb kommen ja so selten Menschen hierher. Der Rand der Welt erschreckt die Menschen. Die Leute im Dorf sprechen nicht über den Rand. Er ist sowieso abgesperrt mit einem Zaun. Der Zaun muss uralt sein, denn er ist mit Efeuranken und Knöterich überwachsen, so dass er als Zaun kaum noch zu erkennen ist. Aber das sieht außer mir niemand, denn die Leute sehen nicht hin. Es ist fast, als gäbe es ihn gar nicht. Man verschweigt ihn und den Rand. Das nimmt wohl den Schrecken davor. Aber wenn ich sicher sein kann, dass mich niemand beobachtet, dann schaue ich verstohlen auf den Zaun. Denn ich gebe zu, ich bin neugierig, was wohl dahinter sein mag. Die Vögel haben wohl keine Angst vor dem Rand, denn sie haben viele Nester in den Zaun gebaut und ihr Zwitschern klingt fröhlich und nicht angsterfüllt.
Seit dem letzten Erntefest sind einige Monate vergangen. Jetzt ist wieder Frühling und eine merkwürdige Sehnsucht hat mich erfasst. Ich muss plötzlich immer wieder an den Fremden mit den hellen Augen denken. Ich weiß, es ziemt sich nicht für eine Frau, an fremde Männer zu denken, doch die Männer aus dem Dorf sind nicht so, dass sie mich auf andere Gedanken bringen würden, als wie ich ihren Husten besänftigen oder die Schmerzen der Gelenke ihrer von der harten Feldarbeit verbrauchten Hände und Schultern lindern kann. Außerdem würde keiner der Männer des Dorfes mich als Braut in Betracht ziehen. Nicht, weil ich nicht hübsch bin. Für die Feldarbeit, die Arbeit auf dem Hof und für’s Kinderkriegen ist es nicht wichtig, ob eine Frau hübsch ist. Aber ich bin den Männern unheimlich. Weil die Frauen zu mir kommen, wenn sie Sorgen haben. Wenn sie sich einen Sohn wünschen, um ihren Mann glücklich zu machen, oder wenn sich schon zu bald ein neues Kind einstellen könnte. Das sind Dinge, über die genauso geschwiegen wird, wie über den Rand und über den Zaun. So ist es Tradition in unserem Dorf. Aber heute, gepaart mit meiner merkwürdigen Sehnsucht, wird die Neugier immer größer. So groß, dass ich sie nicht mehr im Zaum halten kann. Und so mache ich mich auf den Weg zum Zaun. Ich will ihn ja nur kurz aus der Nähe betrachten. Ihn vielleicht einmal kurz anfassen.
(c) Rhabia 09/2009