Noch 5 Jahre
Noch 5 Jahre...diesen Zeitraum hatte die Regierung in Aussicht gestellt, bis man an einen Truppenabzug denken könne.
Ihr Heute - und damit war nicht der 24-Stunden-Zeitraum eines Kalendertages gemeint- war gar nicht mal so unerträglich. Täglich trotzte sie ihrem Dasein einen Sinn ab, schaffte immer noch einen Grund aufzustehen, ertrug auch die dumpfesten Momente mit dem tröstenden Wissen, dass jeder Tag zu Ende ginge.
Und dann ein neuer begänne....
Was schwer bis zur Lähmung auf ihr lastete, war der Gedanke, dass alle Heute und Morgen und Übermorgen in diesem Zustand zugebracht werden müssten, die Vorstellung, dass alles nur noch aus Mittelmäßigem, bereits Bekanntem, schon zu oft Wiederholtem und sattsam Ausgekostetem bestehen könnte. Die Wiederholung oder Anhäufung weiterer dunkler Tage oder schmerzhafter Erlebnisse war dabei nicht der einzige abschreckende Ausblick.
Auch das überschaubare Spektrum der positiven Möglichkeiten, angenehmer Erlebnisse und sogenannter Glücksmomente machte das Wort „Zukunft“ nicht erstrebenswert.
Sie war nicht depressiv – was immer die Kriterien dafür sein mögen –sie schlief gut, stand leicht auf, aß, arbeitete, hatte ausreichend Sozialkontakte, erfüllte ihre Pflichten, erlebte Schönes, Schmerzhaftes, Ärgerliches, Erfreuliches ...
Allein die Aussicht fehlte, mehr noch: die Vision, der Traum. Wohin sollte ihr Leben noch gehen, welche unverzichtbaren Erlebnisse durfte sie noch erwarten, für die sich ein längerer Aufenthalt in diesem Leben noch lohnte? Welche Aufgaben waren noch noch zu erledigen? Was könnte das Gleichmaß, die Langeweile noch erschüttern, was noch überraschen?
Sie war nicht verzweifelt, sie war nicht enttäuscht – denn ihr Leben war reich an allem gewesen. Aber sie musste sagen, es „war“, und konnte nicht mehr sagen, es „ist“. Auch an Reichtum gewöhnt man sich, man pendelt sich auf jedem Niveau ein, auch auf einem hohen. Und dann ist der Punkt erreicht, an dem keine Steigerung mehr möglich ist. Und damit kommt eine Art von Stillstand und mit ihm – Langeweile.
Die einzige Forderung, die das Leben noch stellte, war, mit diesem Stillstand, dieser letztendlichen Ereignislosigkeit, zurecht zu kommen, sie auszuhalten und zu ertragen; Geduld täglich neu zu erproben, Erwartungen zu reduzieren und eine Art von Zufriedenheit zu finden.
Sollte das ihre Zukunft sein, die Beschäftigung für die nächsten Jahre?
Die Schaffung eines weniger anspruchsvollen Ichs, das mit Mittelmaß, Kompromiss und Durchschnittlichem zufriedenwar? Bis hin zur Reduzierung, zum Beispiel auf die Sätze vieler älterer Menschen, die dem Ende ihres Lebens tapfer Jahr um Jahr widerstanden mit „solange ich noch gesund bin“ oder „die Sonne geht doch jeden Morgen wieder auf“.
Dass die Sonne jeden Tag aufging, die Jahreszeiten wechselten, auf Weihnachten Ostern folgte, das Finanzamt Jahr für Jahr eine Steuererklärung forderte, erschien ihr nicht als ausreichende Begründung für ein Weiterleben. Dass es Menschen gäbe, die sie für eine Weile vermissen würden, nach ihrem„Verschwinden“, mochte unbestreitbar sein, doch selbst das war nicht Grund genug. Sie lebte ja nicht zur Schmerzvermeidung für andere, nicht um anderen Unwuchten in ihrer Biografie zu ersparen.
„Man soll gehen, wenn es am Schönsten ist“ – ein viel benutzter Satz, und nähme sie ihn ernst, hätte sie den Moment wohl schon mehrmals verpasst.
Aber es gab kein Sprichwort, das forderte, dass man so lange bleiben musste, bis wirklich gar nichts mehr ging– eine langweilige Party verlässt man besser, bevor der Gastgeber mit dem Abspülen beginnt.
Das Leben war endlich, so oder so. Und es gab kein Gesetz, das Ende eines Lebens nur durch dem Ausfall lebensnotwendiger Körperfunktionen zu definieren. Hatte sie doch ihr ganzes Leben versucht, das Ich weit über die schiere körperliche Existenz hinaus zu begreifen, den Geist über die Materie zu stellen, die Schönheit der Seele gepflegt, das Ideelle dem Physischen vorgezogen – sollte sie jetzt gezwungen sein, allein den Körper über die Dauer ihrer Lebenszeit entscheiden zu lassen?
Das empfand sie für falsch, unlogisch und inkonsequent.
Ein Leben konnte vorbei, zu Ende sein, lange bevor das Herz aufhörte zu schlagen oder die Neuronen im Gehirn keine Signale mehr sandten.
„Life goes on, long after the thrill of living is gone“ – in dieser Zeile steckte ihr ganzes Dilemma.
Sie hatte genug. Diesen Gedanken konnte sie ohne Trauer formulieren.
Wollte sie hier nicht weiter auf der Stelle treten, musste sie einen Schritt weitergehen – egal wohin er führte. So plante sie ihren Abzug – maximal noch fünf Jahre.
©tangocleo 2009