Drachenlied
Teil IEs war vollbracht.
Ich begrub meine Lieben nach der Tradition meiner Ahninnen. Jeder der drei Leichen gab ich, zum Schutz vor bösen Geistern, ein paar Holunderzweige mit ins Grab und nachdem mein Mann und meine Kinder mit Erde bedeckt ihre letzte Ruhe gefunden hatten, pflanzte ich zum Zeichen unserer Liebe drei Rosen von verschiedenen Farben auf ihr Grab. Drei Tage und drei Nächte verbrachte ich an dieser Stätte, um ihren Seelen das letzte Geleit zu geben und als der vierte Morgen anbrach blieb mir nichts weiter zu tun, als mein schmales Bündel zu schnüren - denn nach dem großen Brand war mir auch an irdischem Hab und Gut fast nichts geblieben - und Abschied zu nehmen von diesem Platz, der mir einst Heim und Glück bedeutet hatte.
Ein Ziel hatte ich nicht. Alles, was ich wusste war, dass ich hier nicht länger bleiben konnte, denn jeder Hügel, jeder Strauch, und jeder kleine Bach erinnerte mich an mein vergangenes Glück. Die Trauer fraß sich immer tiefer in mein Herz und machte alles um mich herum stumpf und grau. Und so fing ich an zu gehen. Immer gerade dorthin, wohin mich meine Füße eben trugen. Ich aß, was ich an Beeren und Kräutern fand, schlief mal unter Bäumen, mal auf einem Hof, wo ich für Arbeit ein wenig Brot und Käse erhielt. Die Menschen, die ich traf, waren meist freundlich zu mir, respektierten, dass ich nicht mit ihnen sprach, und atmeten auf, wenn ich sie bald wieder verließ, denn in meiner großen Trauer war ich ihnen wohl ein wenig unheimlich.
Mein Weg führte mich in immer unwirtlicheres, bergiges Gelände. Meinen Durst stillte ich an kleinen Quellen oder lustig dahinplätschernden Bächen. Doch fand ich immer weniger Nahrung. Einen Hof hatte ich schon lange nirgends mehr gesehen.
Eines Abends zog ein Gewitter auf. Mit einem Mal war es fast Nacht und in der Dunkelheit suchte ich Schutz unter einem Felsvorsprung. Völlig durchnässt und mit klappernden Zähnen zog ich mich weiter zurück, um dem Regen zu entgehen, der erbarmungslos, wie Hagelschlag an die Felswand trommelte. Blind in der Dunkelheit tastete ich mich an den Felsen entlang. Ein Spalt tat sich vor mir auf und ich kroch auf Händen und Knien immer tiefer in den Berg.
Von Hunger, Kälte und Überanstrengung geschwächt trieb mich nur der Überlebenswille voran, bis ich irgendwann einfach liegen blieb.
Es mussten einige Stunden vergangen sein, bis ich erwachte. Zunächst wusste ich nicht, wo ich mich befand, denn Dunkelheit umgab mich. Mit einem Mal drang das rote Licht der aufgehenden Sonne durch den Felsspalt, durch den ich in der Nacht gekrochen war und zeigte mir eine Höhle. Und einen Drachen, der mich irgendwie merkwürdig musterte. Der Drache hatte goldene Schuppen, die im Morgenrot schimmerten, wie blut. Er war riesig. Jedenfalls der Teil des Drachens, den ich von meinem Blickwinkel aus, nämlich zwischen seinen Vorderbeinen, sehen konnte. Der Drache blickte mich an, mit Augen, die aussahen, wie Opale. Alle Farben der Welt schimmerten in ihnen mit einer sanften Glut. Und mit einem Mal war ich erfüllt von einer melodischen Stimme: „Eigentlich würde ich dich jetzt einfach auffressen, denn du bist hier eingedrungen, in mein Reich. Aber irgendetwas ist anders an dir.
Du hast keine Angst vor mir.“
Und er fixierte mich mit einem langen Blick. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis er wieder zu sprechen anfing.
„Du bist so voller Trauer, dass in dir für kein anderes Gefühl mehr ein Platz ist. Nicht einmal für die Angst vor Drachen. Das ist bemerkenswert. Aber es rührt mich auch an. So will ich dich am Leben lassen, wenn du mir deine Geschichte erzählst.“
Und so erzählte ich dem Drachen mit krächzender Stimme, da ich ja seit meine Lieben von mir gegangen waren, nicht mehr gesprochen hatte. Die Geschichte von mir und von Raimund, meinem Gatten. Von unserem Leben miteinander, von unserer Liebe zueinander und von Birger, unserem Erstgeborenen und Brit, unserem kleinen Sonnenschein.
Und ich erzählte Philo, so hieß der Drache - wie ich später erfuhr -, von dem Brand, dem unser Haus, mein geliebter Gatte, mein Sohn und meine Tochter zum Opfer fielen. Und ich konnte nichts fühlen, als Trauer und Verlust. Eine Leere, die mit nichts mehr wieder anzufüllen wäre.
Da erhob sich mit einem Mal ein Rauschen, ein Summen, ein Dröhnen, dass ich die Hände auf die Ohren pressen musste. Und als ich zu Philo aufsah, erkannte ich, dass er den Kopf erhoben hatte und begonnen hatte, zu singen.
Sein Lied hatte keine Worte. Jedenfalls keine Worte, die ich hätte verstehen können. Aber ich hörte die Winterstürme, das Tirili der Lärchen auf dem Felde, das Dröhnen der Gletscher, wenn sie ins Meer brechen, das Fiepen der Mäuse, wenn sie nach ihren Jungen rufen, das Hauchen liebender Menschen, wenn sie sich vereinigen, das Knacken der Bäume, wenn die Säfte im Frühling in ihnen aufsteigen, das Brechen der Felsen, wenn der eisige Winter in sie dringt, das Singen der Wale, wenn sie sich rufen. Und ich hörte alle Lieder dieser Welt in seinem Gesang. So gefangen war ich in diesem Lied, dass ich sogar meinen Schmerz und meine Trauer vergaß und endlich, endlich bahnten sich Tränen des Glücks ihren Weg über meine Wangen.
(c) Rhabia 09/2009