Der Gesang des Rotkehlchens
„Du musst jetzt stark sein“, flüsterte sie halblaut und schloss für einen Moment die Augen. Sie nahm drei tiefe Atemzüge, um all ihren Mut zu sammeln, und öffnete die Tür zum Krankenhauszimmer, in dem ihr Vater im Sterbebett lag. Dennoch durchfuhr sie ein Schreck, als sie ihren Vater da liegen sah, oder das, was von ihm noch übrig war.
Sein Gesicht war eingefallen, fast ausgehöhlt wirkten seine Wangen und Augen. Die Sehnen am Hals traten deutlich unter der faltigen Haut hervor. Sein ganzer Körper war nur noch ein Schatten seiner selbst. Unter der dünnen Bettdecke konnte sie den Umriss seines Körpers nur erahnen, er war abgemagert bis auf die Knochen. Er atmete noch, jedoch sehr angestrengt. Eine Atemmaske hatten sie ihm aufgesetzt, die er immer wieder versuchte abzustreifen, was ihm nicht gelang, so wenig Kraft hatte er.
Aber für Luisa war das Schlimmste das Grauen in seinen Augen, als würde er vor dem wahrhaftigen Teufel stehen. Sein abgehetztes, fast panisches Luftholen, wie wenn jeder Atemzug seinem Leben ein paar Minuten mehr schenken könnte. Es wirkte auf sie, als ob er mit einer Energie, die er dem äußeren Anschein nach nicht mehr besitzen konnte, dem Tod davonlaufen wolle. Ihm war wohl bewusst, dass dies sein letztes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche war.
Luisa stellte sich vor, wie ihr Vater nur mit seinem Hemdchen, das er anhatte, in der gleißenden Sonne der afrikanischen Steppe seine Beine in die Hand nahm und dem Löwen, der ihn fressen wollte, davonrannte. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln kurz über ihr Gesicht, jedoch war ihr momentan nicht nach Heiterkeit zumute.
Angesichts dieses Mannes, der sich verzweifelt, aber erfolglos ans Leben zu klammern versuchte, übermannte sie eine Welle des Mitgefühls. Zwei Jahre hatte er gegen den Krebs gekämpft. Immerhin hatte er es aus eigener Kraft geschafft, deutlich länger zu überleben, als die Ärzte ihm vorhergesagt hatten. Geduldig hatte er sowohl die Chemo überstanden als auch die Operationen, die notwendig gewesen waren. Jetzt war seine Lebensenergie verbraucht, aber sein Wille zu leben war ungebrochen und er kämpfte, auch wenn es jetzt nur noch um Stunden oder Minuten ging. Er kämpfte!
Luisa trat an seine Seite.
Angezogen mit Schutzbekleidung, Mundschutz und Haarhaube fühlte sich das für sie steril und unpersönlich an, jedoch die Nähe zu ihrem Vater ließ sie die äußeren Umstände schnell vergessen. Obwohl er sie als Kind immer wieder brutal geschlagen hatte und sie daher viele Jahre den Kontakt zu ihm gemieden hatte, empfand sie nun tiefes Mitgefühl. Als er die Krebsdiagnose bekam, versuchte sie, sich mit ihm zu versöhnen und er bat sie irgendwann in dieser Zeit auch um Vergebung. Das war ein Moment, den sie nie vergessen würde, der ihr sehr viel bedeutete.
Nun stand sie da, direkt neben ihm. Spürte seine Unruhe, sein gehetztes Dasein. Hatte nur dieses eine tiefe Gefühl für ihn.
Einem inneren Instinkt folgend legte sie ihre warme Hand auf seine Schulter. Sie spürte, wie ihre Wärme in seinen Körper drang. Seine Atemzüge wurden nur wenig, aber doch spürbar ruhiger. Sie gab ihrer Hand etwas mehr Druck und flüsterte:
"Du bist nicht allein, ich bin da!"
Minuten vergingen, er schien deutlich ausgeglichener, öffnete für ein paar Sekunden seine Augen und sah sie an. Als er sie erkannte, versuchte er, etwas zu sagen. So leise, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Sie kam mit ihrem Gesicht etwas näher, doch sie hörte nur noch ein leises Seufzen, ein Aushauchen.
Unter ihrer Hand, die immer noch auf seiner Schulter lag, spürte sie keine Bewegung mehr. Er hatte seinen letzten Atemzug in diesem Moment getan und seinen Frieden gefunden.
Im Raum breitete sich eine nahezu greifbare Stille aus. Fast schien es ihr, dass ein Lächeln auf seinem geöffneten Mund lag, wie um den letzten Anstrengungen, das Leben einzuatmen, zu trotzen.
Draußen vor dem Fenster sang ein Rotkehlchen und das Abendrot leuchtete am Himmel. Auch Luisa konnte in diesem Moment in Frieden loslassen. Sie saß noch lange da und schaute aus dem Fenster. Hatte die Zeit völlig vergessen, als die Krankenschwester hereinkam, um den Körper ihres Vaters zur Nachtwache vorzubereiten.
© Aphroditee 28.01.2021