Runa
Teil 1Heute hatten sie sie wieder sehr gequält. Es machte ihnen inzwischen Spaß, sie täglich mit kleinen Gemeinheiten zu verfolgen. Runa war das inzwischen gewohnt. Sie hatte sich mehr oder weniger damit abgefunden. Aber heute hatten Runa’s Schwestern den Bogen weit überspannt. Sie hatten ihr die Blätter des Bösekrauts ins Bett gelegt. Oh, wie peinigte sie jetzt der Schmerz! Ihre Haut schien in Flammen zu stehen und fing schon an, Blasen zu werfen. Ihr Körper brannte wie kaltes Feuer.
Was gäbe sie nur für einen Spiegel, um ihr gepeinigtes Gesicht mit lindernden Salben versorgen zu können. Aber Spiegel gab es hier in der Burg nicht. Die hatte ihr Herr Vater, der König verboten, denn alle Spiegel, die Runa's Anblick gewahr wurden, zwersprangen in tausend Stücke.
Wieder und wieder wusch sich Runa den von schwärenden Blasen übersäten Leib und das Gesicht mit klarem Wasser ab. Und das hässliche Lachen ihrer drei Schwestern hallte dabei in ihren Ohren. Sie konnte das giftige Zischeln noch immer hören: „Du bist schuld, dass wir alte Jungfern werden!“
„Du bist schuld! Du bist schuld! Du bist schuld…!“
Als das Wasser in ihrer Waschschüssel sich beruhigt hatte, konnte sie im trüben Kerzenschein ihr Spiegelbild erahnen.
Ja, die Schwestern hatten schon Recht. Wie sollte sie auch nur im Traum daran denken, einen Ehemann zu finden? Sie sah fast teilnahmslos auf ihr Abbild im Wasser. Froschige Glubschaugen starrten ihr entgegen. Die Farbe war wohl ein wässriges Blau. Aber so genau konnte sie das im flackernden Schein des Kerzenlichts nicht erkennen. Um ihr fliehendes Kinn wuchs ein Flaum, der einer Frau nicht wirklich gut zu Gesicht stand und der konturlose Mund mit den viel zu fleischigen Lippen umschloss kleine, spitze, unregelmäßige Zähne. Das Haar ließ sich nie in Form bringen. Glanzlos und wie Stroh hing es ihr störrisch und mausbraun um die Schultern und fast erfreulicherweise auch ins Gesicht. Ihr Körper wirkte deformiert. Die Beine, die ein leichtes O formten, endeten in großen Füßen, die ihr immer einen recht watscheligen Gang verliehen. Die Hände wirkten zu klein für ihren massigen Körper und die Finger waren kurz und speckig. Ihre kleinen Brüste hingen schlaff über dem gewölbten Bauch, der sich auch mit viel Luftanhalten nicht in ein Korsett zwängen lassen wollte.
Nein, die Schwestern hatten ja Recht!
So lange sie am Leben wäre, würde keine von ihnen einen Ehemann bekommen. Denn so wollte es das Gesetz des Reiches seit aller Vorväter Zeiten: Dass kein Kind heiraten dürfe, solange nicht die älteste Tochter des Königs einen Gemahl gefunden habe.
Seufzend wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab, kleidete sich vorsichtig an, um nicht zu sehr an ihrer wunden Haut zu scheuern, und verhüllte sich so gut es ging mit einem schwarzen Tuch, damit keiner der Burgbewohner durch ihren Anblick gestört würde.
So schlich sie sich über viele Hintertreppen von ihrer abgelegenen Kemenate hinunter in Richtung Küche, in der Hoffnung, noch etwas Essbares zu ergattern. Sie wurde schon lange nicht mehr an die königliche Tafel gebeten, um gemeinsam mit ihrer Familie zu speisen.
Als sie um eine dunkle Ecke biegen wollte, hörte sie tuschelnde Stimmen und sie hätte einen anderen Weg gewählt und wäre nicht stehen geblieben um zu lauschen, wenn sie aus dem Geraune nicht ihren Namen herausgehört hätte.
„Runa muss weg! Ich bin es leid, hier zu sitzen und zu warten, bis ich Warzen am Hintern habe! Ich will keine alte Jungfer werden!“ hörte Runa die Stimme ihrer jüngsten Schwester Hedera. Sie war so schön wie der Mond, mit Haar, so samtschwarz wie die Nacht und Augen wie funkelnden Sternen. Die mittlere Schwester Aurica war strahlend wie die Sonne, mit dem biegsamen schlanken Körper einer Weide und Haar wie flüssigem Gold. Doch ihre Stimme klang so gehässig und kalt, dass es Runa jetzt durch Mark und Bein fuhr, als sie sagte: „Du hast recht, Hedera. Wir müssen dem bösen Spiel ein Ende bereiten! So lange diese hässliche Kröte uns im Weg steht, wird kein Freier je in unser Ehebett finden und das Königreich wird zerfallen.“ Und so schmiedeten die beiden schönen Schwestern den Plan, Runa bald zu vergiften.
Runa, die das alles mit angehört hatte, fühlte sich völlig hilflos. Ihre Mutter, die Königin, hatte immer ihre schützende Hand über sie gehalten, aber seit sie vor fünf Wintern gestorben war, war der König von einer großen Schmermut erfasst und sprach nicht mehr mit Runa, denn diese war für ihn zu einem unlösbaren Problem geworden. Schließlich war sie so hässlich, dass sämtliche Freier mit angeekeltem Gesicht das Weite suchten, sobald sie ihrer ansichtig wurden und nicht einmal die Aussicht, selbst König zu werden, konnte noch einen Werber an den Hof locken.
Blind in ihrer Verzweiflung stahl sich Runa in die Küche, klaubte sich einen Brotlaib, eine Speckseite und ein wenig Käse zusammen, verpackte alles in einem Leinentuch und floh in die stürmische Nacht hinaus.