Die entscheidenden 8 cm

Es war ein lauer dunkler Sommerabend. Das Zirpen der Grillen vom Garten drang durch das Fenster an meinen Schreibtisch. Von weitem hörte ich noch Menschen lachen, aber zu undeutlich um sie zu verstehen. Das Beste des Tages war bereits vorüber, aber ich kam noch nicht zur Ruhe. Irgend etwas hielt mich wach und trieb mich an, wie eine Metallfeder eine alten Uhr. So stöberte ich noch im Joyclub, mehr nach nichts als nach etwas bestimmten suchend.

Da stieß ich auf ihr Profil.

Der Text, der sie beschrieb war von zarter Hand und mit viel Bedacht geschrieben, das fühlte ich. Die Worte wohl überlegt, wie sie beim Leser wirken könnten. Nur Frauen können den Worten beim Schreiben eine Bedeutung zwischen den Zeilen mitgeben. Eine Art Hilfslinie, wie man sie bei seinen ersten Schreibversuchen benutzt. Damit lenken sie insgeheim die Gedanken des Lesers in die von ihnen gewünschte Richtung.

Sie schrieb über ihre Gefühle, ihre Lust und Leidenschaft, über ihre Träume und Wünsche. Und wandelte dabei leichtfüßig auf dem schmalen Grat zwischen genug über sich preis zu geben und ohne alles offen zu legen. Der Leser meinte sie gut zu kennen, aber eben nicht alle ihrer Geheimnisse.

Ihre Fotos erinnerten mich an zwei Kugeln Schokoladeeis auf einem Meer aus Vaniliesoße und Himbeer-Juice in einer Vollmondnacht. Die Kugeln waren überzogen mit einer feinen Schicht sehr dunkler Schokolade, wie sie nur die größten Schokoliebhaber mögen. Ihr Anblick war Verführung pur. Auf ihrem Dekollte blitzten Wassertropfen wie Sterne am wolkenlosen Nachthimmel.

Ich gestehe - ihr Profil hatte mich in ihren Bann gezogen, wie ein Laubblatt, dass in einen Wasserstrudel gerät. Und es gab kein Entrinnen. Ich verschlang jedes einzelne ihrer Worte aus ihrem Profil.

Sie sucht Männer und keine Frauen. Ich suche Frauen und keine Männer. Na da läßt sich doch was machen!
Die Männer sollten auch aus der näheren Umgebung kommen. Passt!
Herz soll er haben. Hey, meine Mundwinkel gehen auf Lachstellung, wenn ich kleine tapsige Menschen sehe. Und Katzen kommen nicht ohne Kraulen an mir vorbei. Passt!
Hirn soll er haben. Hey, was ist mit meinen monatlichen Alte-Herren-Gesprächsrunden über die elementaren Fragen unseres Lebens! Passt!
Fantasie sollte es auch haben. Hey ich schreibe Kurzgeschichten, das reicht doch als Beweis! Passt!
Niveau sollten sie haben. Ein Auge zu, denn da verweigere ich die Selbsteinschätzung, passt!
Keine ONS. Hey, für diese Frau würde ich sogar über Monate hinweg katalanisch lernen. Passt!
Ihr Alter? Moment bei Frauen spricht man ja von Jugend, passt!
Ihre Größe? Zwei Augen zu, passt!
Ihre Haarfarbe? Ihre Augenfarbe? Ich liebe Rehe und damit auch ihre Haar- und Augenfarbe. Passt!
Sie ist Single. Welch Wunder, ich auch. Passt!
Sie raucht gelegentlich. Hey, nobody is perfect. Aber vielleicht kann ich mit ihr ein Tauschgeschäft eingehen. Frühstück im Bett statt Zigarette? Passt!
Sei ist nicht bi. Ich konzentriere mich auch lieber auf ein Geschlecht. Passt!
Sie ist weder dominant noch devot. Das finde ich ist Verhandlungssache. Passt!
In meinem Kopf war die Tabelle mit den Übereinstimmungnen fertig. Sie hatte 100 von 100 möglichen Punkten. Okay ich habe etwas aufgerundet. Aber 90 waren es bestimmt.

Dann las ich noch den Abschnitt "Das mag ich". Ich stelle immer mehr Übereinstimmungen fest.

Doch dann stieß ich auf diese Zahl und dies holte mich aus meinen Träumen in die Wirklichkeit zurück.

War es möglich, diese Differen auszugleichen? Ja es mußte etwas geben. Vor 40 Jahren flogen die ersten Menschen auf den Mond. In 10 Jahren werden die ersten Menschen auf den Mars fliegen. Es mußte etwas geben, um diese Differenz auszugleichen. Na gut, darum kümmere ich mich später, jetzt werde ich erstmal weiterlesen.

Ich las den Abschnitt "Das mag ich nicht". Und was ich las, freute mich abermals.

Doch dann kam wieder die Erinnerung an diese Zahl und dies holte mich abermals aus meinen Träumen in die Wirklichkeit zurück.

War es möglich, diese Differen auszugleichen? Ja es mußte etwas geben. Vor 24 Jahren haben sie die Titanic auf dem Meeresboden gefunden. In 5 Jahren werden die ersten Roboter im Haushalt helfen. Es mußte etwas geben, um diese Differenz auszugleichen.

Ich überlegte, ob es operative Methode gäbe, um diese Differenz auszugleichen. Recherchierte sogar im Internet danach. Aber was ich auch las, es fand nicht meine Zustimmung.

Ich überlegte mir auch künstliche Verlängerungen. Machte sogar Skizzen auf Papier, völlig untypisch für mich. Aber die Skizzen gefielen mir nicht.

Mit Daumen und Zeigefinger versuchte ich mir die Differenz bildlich vorzustellen und ertappte mich dabei, wie ich großzügig zu meinen Gunsten damit umging. Nein, diese 8 cm waren unmöglich auszugleichen mußte ich eingesetehen.

Könnte ich sie von ihrem Wunsch abbringen? Oder sollten diese 8 cm für immer und ewig zwischen uns stehen? Könnte ich ihr als Ausgleich etwas anderes bieten? Kaum, ihr Profil laß sich, wie von einer Karteikarte einer Modellagentur. Warum sollte sie sich mit weniger zufrieden geben? Sicherlich würde ich bei einer Frau Zugeständnisse eingehen, aber ich bin nun mal kein Musterexemplar. Aber sie schon. Nur hatte das Leben ihr schon ein paar Striche durch die Rechnung gemacht. Warum sollte sie auf etwas verzichten, was das Leben ihr bislang vorenthielt?

Sie wünschte sich, Männer über 1,80 Meter kennen zu lernen. Aber ich war nur 1,72 Meter. Damit mußte ich mich abfinden.

Da waren sie - die entscheidenen 8 cm. Und ich war stink sauer. Ich mußte zugeben, dass etwas, was nicht vorhanden war, meinem Glück im Wege stand.

Ich klappte den Laptop zu und ging ins Bad.

Jetzt war ich reif fürs Bett.