Hester Jonas
Teil 1Immer wenn ich die Felder sehe, das wogende Meer von Grün, den Weizen, die Gerste und den Roggen, dann denke ich an meine Mutter. Denke an ihr gütiges Gesicht, an ihr silbergraues Haar, die zupackenden Hände.
Aber vielleicht sollte ich meine Geschichte weiter vorne beginnen. In der Zeit, als ich noch ein junges Mädchen war. Und an die ich mich zurückerinnern kann, als sei es gestern gewesen.
Ich wuchs als jüngstes und einziges Mädchen von drei Geschwistern in der Mühle am Dorfrand auf. Mein Vater war Müller und die schwere Arbeit hatte seinen Rücken früh gebeugt. Meine Brüder, große, derbe und kräftige Kerle wie mein Vater, halfen ihm in der Mühle und so ging das Geschäft gut, denn wo fleißige Hände zusammen arbeiten, bleibt der Lohn nicht aus.
Meine Mutter und ich versorgten den Haushalt und den Garten, und wir hatten Glück, dass wir unseren Männern fast jeden Morgen auch ein deftiges Stück Speck auf den Gerstenbrei legen konnten. So gut ging es hier nicht jeder Familie.
Aber meine Mutter war nicht nur fleißige Haushälterin, strenge Mutter und brave Ehefrau, sie war auch die Hebamme unseres Dorfes und kannte sich mit allerlei Kräutern aus, um den Frauen zu helfen, die da in Schmerzen Gebären sollten.
In so mancher Nacht wurde sie gerufen, um dann stundenlang bei einer Gebärenden zu sitzen und ihr beizustehen, ein neues Leben in diese Welt zu bringen. Die Frauen mochten meine Mutter, die Hester Jonas genannt wurde, gern, denn sie hatte eine besonnene, ruhige Art und zwar kräftige und derb aussehende Hände, die aber sehr einfühlsam waren.
Ich mag wohl zwölf Lenze alt gewesen sein, da sagte meine Mutter zu mir: „Grit, heute wirst du mit mir kommen und mir helfen. Es ist an der Zeit, dass du mein Handwerk erlernst und da du selbst bald zur Frau reifen wirst, kann es nicht schaden, jetzt damit anzufangen.“
Und so brachen wir gemeinsam auf, nachdem Mutter ihr Bündel mit Kräutern gepackt hatte. Ich war eifrig gespannt meiner Mutter zu helfen, denn schon immer hatte ich mir gewünscht, eines Tages in ihre Fußstapfen zu treten.
Im Haus des Stellmachers herrschte helle Aufregung, denn es war das erste Kind, das die Stellmacherin zur Welt bringen sollte und ihr Mann war voller Sorge, sein Weib, das ja wertvolle Arbeitskraft war, könne die Geburt nicht lebend überstehen.
Ruhig, aber bestimmt, schob Mutter ihn aus dem kleinen Raum, der das Ehelager beherbergte, mit dem Befehl, nicht wieder drinnen zu erscheinen, bevor sie ihn nicht gerufen hätte. Mich schickte sie in die Küche, um Wasser für ihre Kräuter aufzusetzen. Dann sprach sie ganz leise mit der Stellmacherin, die sich jetzt, da die Hebamme da war, sichtlich entspannte.
Nachdem ich mit dem kochenden Wasser zurück war, übergoss Mutter eine handvoll verschiedener Kräuter damit und gab den Sud der Stellmacherin zu trinken. Mutter erklärte mir, dass die Kräuter der Frau Kraft geben und ihre Muskeln entspannen sollten, damit ihr das Gebären leichter fiele. Bald darauf geschah das Wunder der Geburt und ein makelloser Junge erblickte das Licht der Welt. Hester versorgte Säugling und Mutter auf’s Beste, legte ihr das gewickelte Kind an die Brust und wies mich an, gemeinsam mit ihr auf die Knie zu gehen um ein Dankgebet zur heiligen Jungfrau zu sprechen, für den glücklichen Ausgang der Geburt.
Der Stellmacher war zufrieden, Frau und Kind wohlauf zu sehen und zum Dank für die Geburt seines ersten Sohnes nahmen wir zwei Hühner entgegen, die unseren Speiseplan bereichern würden.
Als wir uns auf den Heimweg zur Mühle machten, war es bereits dunkel geworden und es regnete. Wir hatten noch ein gutes Stück zu gehen, als Mutter plötzlich zu Boden fiel und dabei keinen Laut von sich gab. Zuckend und mit flackernden Lidern lag sie vor mir, ihr Mund war völlig verkrampft und Schaum trat zwischen ihren blauen Lippen hervor, wie ich im trüben Licht meiner Laterne sehen konnte. Erschreckt versuchte ich sie ins Bewusstsein zu rütteln, aber sie erwachte nicht aus ihrem Zustand. Da lief ich, hilflos und verängstigt so schnell mich meine Füße trugen zur Mühle, weckte meinen Herrn Vater und führte ihn zu meiner Mutter, auf dass er sie nach Hause trage. Vater nahm sie auf, trug sie heim und legte sie auf ihr Lager, wo sie erst Stunden später erwachte. Mit bangen Gesichtern hatten wir über Mutter gewacht und für sie gebetet und nun, da sie erwachte, war mein Herz voller Freude. Nun konnte ich mich beruhigt zur Ruhe begeben.
Am nächsten Tag nahm Mutter mich zur Seite und sprach zu mir: „Grit, ich hatte einen wunderlichen Traum. Ich träumte von einem Land, wo nicht mehr die Männer der Kirche über uns Frauen herrschen. Ich träumte, dass die Weiber nicht mehr als verderbt gelten und die gleichen Rechte haben, wie ihre Männer!“