Das helfende Ohr
Langsam ging der alte Mann seinen Weg. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte unbarmherzig. Der Schweiß lief ihm in Strömen über den schlanken, fast schon ein wenig ausgemergelten Körper. Nach langen, quälenden Stunden erreichte er das kleine Wäldchen. An dessen Rand, zwischen den Birken sich entlang schlängelnd, verlief ein kleiner Bach. Er nahm von dem Wasser und trank langsam, genoss danach das prickelnde Nass auf der Haut.
Den Stamm der Buche als Lehne nehmend, setzte er sich in den Schatten.
„Nur eine kleine Pause“, sprach er zu sich.
„Ja, ja“, antwortete es leise hinter seinem Rücken.
„Was bin ich durch das Leben gezogen, habe gegeben, wo ich konnte. Und was habe ich dafür bekommen?“.
Leise wischte er sich eine Träne aus den Augen.
„Ja, ja“, ertönte es wieder.
„Habe das Haus aufgebaut und wurde danach wie ein räudiger Hund vom Hofe gejagt!“
„Ja, ja“.
„Mein Sohn, den ich groß zog, ignoriert mich heute!“
„Ja, ja“.
„Und meine Freunde lachen mich heute aus. Was ist mein Leben heute noch wert?“
Bei dieser Frage wischte sich der alte Mann mehrere Tränen aus den Augen und schniefte leise.
„Ja, ja“, ertönte es wieder hinter seinem Rücken.
Nun erst nahm der Alte diese leise Stimme wahr.
Er erhob sich und blickte hinter den Stamm des mächtigen Baumes.
Da saß ein kleines Männchen und blickte ihn fröhlich an.
„Wer bist Du denn?“, fragte der Mann neugierig.
„Ich bin das helfende Ohr“, antwortete des kleine Männchen.
„Das helfende Was?“. Der Mann blickte das Wesen ungläubig an.
„Setz Dich“, bat das Männchen den Alten und erhob sich aus dem Schneidersitz.
Langsam ging es vor ihn und ließ sich wieder nieder.
„Viele Menschen“, so begann es zu erzählen, „halten nach dem langen und beschwerlichen Weg durch die Zeiten der Dürre in ihrem Leben, in denen so vieles verdurstet und verblüht, hier an. Sie erfreuen sich an dem Wasser des kleinen Baches und trinken daraus, so wie Du. Sie lassen sich hier nieder und fangen an zu reden, so wie Du. Und ich höre ihnen zu. Mehr als ab und an ein „Ja, ja“, braucht es nicht. Denn diese wenigen Worten öffnen die Seele, die Menschen befreien sich das erste Mal von ihrer emotionalen Last. Und ich bin für sie das Helfende Ohr. Möchtest Du mir mehr erzählen?“
Bei diesen Worten lachte das kleine Männchen den Alten an.
Dieser führte seine zitternde, faltige Hand in Richtung des kleinen Wesens und ließ es darauf klettern.
Jetzt öffnete er sich und gab seinen geplatzten Illusionen und geborstenen Träumen, den Schmerzen in seiner Seele das erste Mal einen Raum.
Und das Helfende Ohr streute nur ab und an ein „Ja, ja“ ein.