Serpentinen
Die Trommel der Waschmaschine drehte und drehte sich. Auch wenn Georg sich davor setzte – es beschleunigte den Vorgang nicht. Also legte er eine DVD mit dem Film „American Beauty“ ein und ließ sich ein fremdes Leben im Schnelldurchlauf erzählen. Immer wieder lief er ins Bad, schaute auf die rotierende Trommel, machte sich einen Kaffee oder fand Kleidungsstücke wie seine Badehose, die er noch in die Reisetasche warf. Seine Ungeduld, endlich ins Auto zu kommen, wurde von fesselnden Filmszenen abgebremst.Angela legte kleine Stapel von Kleidungsstücken auf den Boden ihres Schlafzimmers – Hosen, Shirts, Wäsche. In der Reisetasche lagen schon die Schuhe – Pumps, Sandalen, Wanderschuhe. Sie packte widerwillig - denn sie wollte reisen, nicht packen. Aber sie wollte auf alles, was ihr auf dieser Reise geschehen konnte, vorbereitet sein. Deswegen zwang sie sich zu konzentriertem Zusammenstellen. Und sah immer wieder auf die Uhr, denn sie wollte nicht zu spät aufbrechen. Sie wusste, wie sehr Georg die Abreise herbeisehnte. Er war auf der Flucht, und sie war seine Fluchthelferin. Sie wollte ihn begleiten, auf einem Weg, der mehr als ein räumlicher war. Weil auch sie weg gehen musste. Sie hätte es auf andere Weise tun können, ebenso wie Georg, aber eine räumliche Veränderung war manchmal hilfreich bei der Beschleunigung innerer Prozesse.
Georg sah hinaus in den Dauerregen. Das Wasser floss die Fensterscheiben entlang wie das Seifenwasser am Glas der Waschmaschinentrommel. Stetig, endlos. Er sehnte sich nach Sonne, nach Aussicht, nach Klarheit. Hier in seinem Haus, am verregneten See, über dem schwer die dunklen Wolken hingen, würde er aus seinen Gedankenschleifen niemals herauskommen. Deswegen war der Wunsch, in den Bergen, ja über sie hinaus, auch über seinen Schmerz und seine unlösbaren Fragen hinwegzukommen, immer drängender geworden. Der größte Teil seines Urlaubs war schon fast vorbei und er hatte sich von Tag zu Tag durch kleine Beschäftigungen ablenken lassen, seiner Unlust nachgegeben, ohne Susanne in Urlaub zu fahren, hatte sich in seine Trauer über das plötzliche Ende ihrer Beziehung fallen, geradezu lähmen lassen - bis er begann, sich für diese Haltung zu hassen. Er musste die Gedanken– und Gefühlsschleifen durchbrechen, und dies konnte ihm, wenn überhaupt, nur durch eine klare Zäsur gelingen. Er wollte von den Orten weg, an denen er mit Susanne gewesen war. Sie hatte ja auch nach dem abschließenden Gespräch eine Reise angetreten, sogar in ein anderes Land. Und ihn mit dem Unverständnis und dem Schmerz allein zurückgelassen.
Nun musste er nur noch den Kaffeefleck aus der Bettwäsche entfernen und das Bett in ihrer Wohnung neu beziehen, in dem er nach Susannes Abreise noch ein paar verheulte Nächte verbracht hatte. Er wollte reinen Tisch machen – zwischen ihnen und für sich.
Die Laken drehten sich in gleichmäßigen Rhythmus durch die Blasen der Seife, und der Regen warf Blasen im Teich in seinem Garten.
Angela saß endlich in ihrem Auto und fuhr über schwimmende Landstraßen zu Georg. Weg von der Enge der Stadt, weg von der Beschränktheit ihrer Gedanken. Weg von der lähmenden Ängstlichkeit, die sich in den Jahren ihrer Beziehung zu Markus in ihr breit gemacht hatte. Die Angst, ihm nicht zu genügen und ihn deswegen zu verlieren, hatte über lange Zeit alles Schöne überschattet, bis es in ihr so dunkel geworden war, dass sie kein Licht mehr sehen konnte. Sie hatte sich auf den Trennungsschmerz so sehr vorbereitet, dass sie ihn schon dauerhaft fühlte, obwohl Markus gar nicht daran dachte, sich von ihr zu trennen. Sie fühlte sich als Verlassene, obwohl sie sich noch in einer scheinbar bestehenden Beziehung befand.
Eines Abends hatte sie Georg getroffen, den tatsächlich Verlassenen. Und sie hatten Gespräche begonnen. Gespräche voller Selbstmitleid und Anklagen, voller Fragen und Zweifel. Und immer öfter war ein Funken von Erkennen aufgeflackert, welchen Mustern sie in ihren Beziehungen erlegen waren und welchen Täuschungen sie aufgesessen waren. Sie vertieften sich in Unterhaltungen, die sie mit ihren Partnern nicht führen konnten. Sie genossen die Zuneigung ohne Bindungsabsicht, die tiefe Freundschaft, die zwischen ihnen wuchs. Deswegen hatte Angela vorgeschlagen, gemeinsam ein paar Tage wegzufahren- eine Reise, die Abstand zu den trüben Gedanken bringen sollte.
Eine Reise, die auch ein Abenteuer war. Ungewiss, wohin, ungewiss, wie das gemeinsame Reisen mit einem Anderen sein würde, in den man nicht verliebt war, den man erst kurze Zeit kannte, von dem man Vieles noch nicht wusste. Der einem trotzdem so vertraut schien.
Schon wieder spürte Angela ihre Ängstlichkeit in sich aufsteigen, die Unsicherheit, ob sie einem anderen Menschen ohne Erwartungen begegnen konnte.
Das wollte sie erfahren, als sie an Georgs Tür klingelte.
Georg öffnete und zog sie vor den Fernseher.
„Kennst du „American Beauty“? Ich muss dir eine Stelle unbedingt vorspielen...“
Er zappte durch die Bilder, bis er zum Selbstmord des Helden kam.
„Magst du einen Kaffee dazu? Die Wäsche muss nur noch 10 Min. im Trockner sein, dann können wir fahren.“
Angela zog die Schuhe aus und schob sich in eine Ecke des Sofas. Der Kater sprang auf ihren Schoß, und sie brachte ihn mit Streicheln zum Schnurren. Das warme Tier auf dem Bauch, Kaffee trinkend und rauchend schaute sie in die offenen Augen im blutenden Schädel von Kevin Spacey.
Und hörte die Sätze des Jungen, der von der Unerträglichkeit großen Glücks sprach. Das allein kaum zu fassen war und die Brust zu sprengen drohte, schmerzhafter als alles Unglück.
Als die Wäsche trocken war, luden sie Angelas Reisetasche in Georgs Auto und fuhren zu Susannes Wohnung. Georg bezog dort das Bett, während Angela im Auto auf ihn wartete. Dann fuhren sie los.
Autobahn, immer näher rückende Berge, Dauerregen.
Das untere Ende von Deutschland geht in ein Stück Österreich über, und dann sind sie in der Schweiz.
Autobahn, Landschaft verzerrt durch Regenfahnen, Gipfel im Nebel. Anhalten, um zu tanken und Vignetten zu kaufen.
(und die Reise geht weiter...)
©tangocleo 2009