Abschied
Nach fünf Wochen hartem Kampf hat es mein Vater nun geschafft.Sonntag Morgen um halb Neun ist er friedlich eingeschlafen. Entschlafen.
Schlimm war nicht sein Tod; schlimm für ihn und mit anzusehen war nur sein Kampf.
Der war wohl seiner Fitness geschuldet. Da er bis zum Krebs von Mutter Tennis spielte, jedes Jahr die Senioren Stadtmeisterschaft gewann, war sein Körper sogar nach einem Jahr Untätigkeit immer noch so stark, dass selbst die behandlungsresistenteLungenentzündung es nicht schaffte, ihn schnell unter die Erde zu bringen. Fitness als Bestrafung, sozusagen.
Seltsamerweise scheinen Menschen, die ihr Leben lang kränkeln, nicht so heftig gebeutelt zu werden.
Leiden scheint bei ihnen zur Routine zu werden. Gar nicht dem Motto getreu: Früh übt sich was ein Meister werden will. Sie scheinen deshalb auch weniger ein Problem damit zu haben, im Alter infantil zu werden. Sie haben ihre Symptome ein Leben lang gepflegt, sie als Ventil und Kristallisationspunkt für manch inneren Konflikt genutzt und schreiben sie wie selbstverständlich dem Schicksal zu.
Scheinbar haut es Menschen, die nur antizyklisch krank werden, weit öfter zum Ende richtig aus der Bahn. Als ob sie etwas nachzuholen hätten.
Ich habe Schwierigkeiten, für mich zu entscheiden, ob ich das gut finden soll.
Sicher hat es uns, seinen Kindern und Geschwistern, viel erspart. Ihm auch, denn ich weiß, dass ihm das langsame Dahinsiechen und die Abhängigkeit, die dies mit sich bringt, eine richtige Horrorvorstellung war. Hat er doch bei seinem Vater genau das miterlebt.
Hat jahrelange Pflege und den Zwist, wer in der Familie mehr leistet und die mehrfachen, zweifelhaft geglückten Wiederbelebungen mit Hilfe der Notfallmedizin bei ihm durchlitten.
Hatte selbst bemerkt, dass er ihn immer öfter wie ein kleines Kind, denn einen erwachsenen Menschen behandelt hatte. Musste miterleben, wie das wenige Ersparte, das sich sein Vater mit Fleiß und Schweiß nach den harten Kriegsjahren erarbeitet hatte, wie Eis in der Sonne schmolz. Hat die Unfähigkeit zu helfen und die Ohnmacht ihr gegenüber durchlebt.
Ich glaube, dass dies seinen Kampf für oder gegen das Weiterleben entschieden hat.
Für mich, der gerade zu ihm ziehen wollte, um ihm noch ein paar Jahre würdiges Leben zu ermöglichen, wäre es keine Frage gewesen, ihm auch als pflegebedürftige Person zur Seite zu stehen. Ich hätte ihm gerne noch das ein oder andere Lächeln entlockt.
Doch so bin ich trotz der stillen Trauer auch erleichtert. Denn es bleibt mir nach diesen ängstlichen und schmerzhafte Wochen etwas mehr freie Lebenszeit, um meinem Leben mehr Sinn und Freude
zu schenken. Zeit, in denen ich das selbst lernen und leben kann, das ich sonst meinen Kindern als Hypothek mitgeben müsste.
Und wenn ich etwas lernen durfte in dieser schweren Zeit, ist es das tiefe Wissen, dass jeder Moment, jede Geste, jeder auch noch so kleine Augenblick, den ich dankbar und in voller Aufmerksamkeit mir und meinen Mitwesen schenke, unendlich kostbar ist.
In diesem Wissen werde ich Morgen meinem Vater dankbar und voller schöner Erinnerungen an ihn das letzte Geleit geben.
In meinem Falle eher mit einem Lächeln, denn unter Tränen.
Getreu dem Motto:
Weinet nicht, dass ich gehe,
freut Euch dass ich da war!