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Das Ding aus einer anderen Welt Teil I [überarbeitet]

Das Ding aus einer anderen Welt Teil I [überarbeitet]
Vor langer Zeit erdachten sich die Menschen einen Ort voller dunkelrot brodelnder Glut, ewig währender Qual und nie endender Verdammnis. Sie nannten ihn „Hölle“ und wussten doch nicht, dass er schon längst existierte. Nur herrschten in ihm nicht Hitze und Feuer, sondern jedes Jahr sechs Monate Finsternis und Eiseskälte. Sein Name war Antarktika.

Bereits am Ufer der Wedell-See sanken die Temperaturen im Winter in eine Tiefe, in der Blut zu Eisklumpen gefror und die Wucht, mit der die Stürme über die transantarktischen Berge rasten, deklassierte jeden Tornado zu einem lauen Sommerlüftchen.

Trotzdem gab es auch hier noch Leben. Kaiserpinguine wackelten wie Soldaten in einem Kreis um ihre Jungen, die putzigen Köpfe zum Schutz vor der Kälte in ihr vom Schnee gepudertes Gefieder gezogen. Mit ihren Leibern verteidigten sie ihre Brut gegen den Orkan, der seit Stunden gegen ihr Bollwerk aus Mut und Selbstaufopferung anrannte.

Über ihnen brach ein Überschallknall die Wolkendecke, ein Stratosphärenlearjet ging in den Unterschallflug. Die Besatzung der Maschine interessierte sich nicht für die Pinguine unter ihnen, dafür umso mehr für das Wetter. Noch war der Sturm kein Problem und die Basisstation hatte gemeldet, dass am Landeplatz nur mäßiger Wind herrschte. Trotzdem waren sie besorgt. Sie wussten, dass die tückischen Fallwinde in den Ausläufern des transantarktischen Gebirges in nur wenigen Minuten schnell einmal zweihundert und mehr Kilometer pro Stunde erreichen konnten. Dem hatte auch ein Learjet im Jahr 2025 im Landeanflug wenig entgegenzusetzen.

Doch sie hatten Glück. Zwanzig Minuten später schwenkte die Pilotin die Triebwerke in die Position für den Vertikalflug. Mit Tränen der Müdigkeit in den Augen beobachtete sie die Anzeige des Höhenmessers. Geleitet von einem Peilsignal, glitt das Flugzeug, auf dem Antriebsstrahl seiner Hubdüsen wie in einem Fahrstuhl nach unten. Das Licht des Hochleistungsstrahlers unter dem Cockpit riss die Basisstation N22-B von NordicSF aus der Dunkelheit. Wie ein schwarzer Krake krallte sie sich mit acht über einhundert Meter langen stählernen Armen aus Stahl in das Millionen Jahre alte Eis unter ihr. Auf dem Dach der Zentralsektion ragten Antennen und Satellitenschüsseln in den Himmel und dazwischen schimmerten die Läufe von Maschinenwaffen.

Der Co-Pilot sagte: „Jedes Mal, wenn wir eine Basisstation anfliegen und ich die Dinger da unten sehe, kriege ich feuchte Hände.“

Die Pilotin nahm die Augen nicht von den Instrumenten. „Da bin ich ja froh, dass Du die Raketenstellungen noch nicht entdeckt hast. Die feuern auf sechzig Kilometer und nehmen dabei die Wärmesignatur unserer Triebwerke als Ziel. Wenn Du die Kanonen siehst, ist schon alles vorbei.“

Den Ruck, mit dem der Learjet auf der Landepiste aufsetzte, spürten sie kaum. Die Pilotin schob die Regler für die Treibstoffzufuhr in die Nullstellung und klingelte die Flugbegleiterin an. „Nicole, Du kannst unserem Kleiderständer sagen, dass wir da sind.“

Sie klopfte auf die Analoguhr in der Instrumentenkonsole. „Einundzwanzig Stunden Nonstop von Schwerin bis zur Weddell-See. Das dürfte ein neuer Rekord sein. Möchte bloß wissen, warum er uns so gescheucht hat.“
Keine Minute später war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie wusste, dass sich das Bodenpersonal um alles kümmern würde.

Ächzend quälte Ryland Mikkelsen seine Einmetersechzig aus dem mit weißem Straußenleder bezogenen Schalensessel. Er wirkte fast so breit, wie er hoch war. Ein grauer, von der Zeit verwitterter Felsblock mit zu vielen tiefen Falten um die Mundwinkel auf zwei kurzen Beinen, quadratisch, praktisch aber alles andere als gut. Ein Kotzbrocken, der seine Aufgaben als Chef der Deutschlandsektion von NordicSF aus seinem Büro im vierzigsten Stock eines Wolkenkratzers im Zentrum von Schwerin erfüllte. Gab es einmal Abweichungen von dieser Normalität, so bezahlte er dafür Männer und Frauen, die sich darum zu kümmern hatten. Viele Männer und Frauen mit vielen Waffen. Und weil er nicht zögerte, sie einzusetzen, gab es nur eine Handvoll Menschen, die ihn mochten und nur genau einen, der ihn liebte: sein Bruder Stephan.

Die meiste Zeit des Fluges hatte Ryland verschlafen, nur hin und wieder aufgeschreckt von den Gedanken daran, was in der Erkundungsstation am Fuß des Mount Kirkpatrick, in der sein Bruder festsaß, vorgehen mochte. Ryland fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. Die Bewegung geschah ohne Absicht, und wie jedes Mal, wenn er das tat und nichts als nackte Haut unter seinen Fingern spürte, brodelte Ärger in ihm hoch. Er hatte gerade mal die sechzig überschritten und besaß trotzdem kein einziges Haar mehr auf dem Kopf.
Er wartete, bis der Teleskoptunnel andockte, die Verbindung zwischen der Ausstiegsluke des Jets und der Station herstellte und ihn vor der Kälte der Antarktis schützte. Er warf einen Blick auf seine Omega. Sie zeigte zwei Uhr in der Nacht. Er hatte dem Team jede Ankündigung seiner Ankunft verboten und so empfing ihn statt des Stationskommandanten nur sanfte grüne Leuchten der auf Nachtbetrieb geschalteten LED-Lampen im dunkelgrauen Silikatfußboden.

Kaum hatte Nicole ihm die Luke geöffnet, stampfte Ryland los. Als er um eine Ecke bog, wäre er um ein Haar gegen zwei Männer in den orange-blauen Arbeitskombinationen der Firma gerannt.

Der Größere, in dessen Gesicht ein Bart spross, der aussah, als hätte er bereits vor drei Tagen einen Rasierer gebraucht, hielt Ryland fest. „Was bist du denn für eine Witzfigur, Kumpel? Wenn der Chef dich in diesem Karnevalsaufzug sieht, macht er Hackfleisch aus dir.“

„Lassen Sie meinen Arm los, sofort!“

Der Mann grinste. „Pass mal auf, du Wurzelzwerg, hier gibt es Regeln und Vorschriften, also komm mir nicht komisch! Ich tue dir nur einen Gefallen.“

Ryland schaute erst die Hand auf seinem Arm an und dann mit Eis in den Augen seinem Gegenüber ins Gesicht. „Diese Sicherheitsbestimmungen tragen meine Unterschrift. Falls Sie das nicht glauben, können Sie gerne zum Stationsleiter gehen und ihn fragen. Er wird Ihnen außerdem mitteilen, dass der Wurzelzwerg Ihre Arbeitsperiode gerade um einen Monat verlängert hat. Danach führt Sie Ihr Weg an einem Rasierapparat vorbei, den Sie auch benutzen werden. Und jetzt nehmen Sie Ihre Hand von meinem Arm und gehen mir aus dem Weg!“

Röte schoss dem Mann ins Gesicht, er öffnete den Mund und Ryland fauchte: „Zwei Monate. Und wenn Sie jetzt nicht endlich den Weg freigeben, werden Sie hier auch beerdigt!“

Er verfiel wieder in seinen Eilschritt. Nach zehn Metern lief ihm der Stationsleiter Tarje Boe über den Weg. Er wischte sich die Schlafreste aus den Augen, doch bevor er ein Wort sagen konnte, hob Ryland seine Hand. „Sie kommen später dran. Ich will erst mit Stephan sprechen und danach sehe ich mir Ihre Station an.“

Ryland stürmte weiter und riss die Tür zur Zentrale auf. Nach einem Rundblick postierte er sich neben dem Techniker vom Dienst. „Machen Sie mir sofort eine Verbindung zur Erkundungsstation!“ Er setzte sich neben ihn an ein Terminal und tastete zwischen seinen Beinen umher.

„Wenn Sie die Höhenverstellung suchen - die ist bei dem Modell an der linken Seite.“ Der Techniker hatte ein Feixen im Gesicht.

Ryland ruckte mit dem Kopf herum. „Ihr Name?“

„Erasmus Bjoerndahlen.“

„Also Bjoerndahlen, wenn nicht in zwei Minuten auf diesem Terminal, vor dem ich jetzt sitze, das Gesicht meines Bruders auftaucht, wird sich Ihre Frau für das nächste halbe Jahr einen Liebhaber suchen müssen.“
Er betrachtete den Mann von oben bis unten und schürzte die Lippen. „Wenn Sie zu Hause auch so schlampig rumlaufen, wie hier im Dienst, hat sie das wahrscheinlich sogar schon getan. Möchten Sie mir noch irgendwelche anderen Ratschläge geben?“

Bjoerndahlen riss die Augen auf, dann machte er sich an seiner Konsole zu schaffen. Ryland drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Kontrollraum schweifen. Die Zentrale der Basisstation N22 repräsentierte das Ergebnis dessen, wofür er arbeitete. Sie strahlte die Macht aus, die er von seinem Chefsessel nur fühlte, aber nie sah. Ähnlicher dem Kontrollraum eines Atomkraftwerks als dem Mittelpunkt einer offiziell als Forschungsbasis bezeichneten Kommandozentrale, blinkten hier Lichter, die meisten davon in Grün und ein Heer von Konsolen und Kontrollmonitoren warteten darauf, ihm zu dienen.

Hier liefen alle Fäden und Erkenntnisse zusammen, von hier traf man Entscheidungen, setzte sie um und wertete die Ergebnisse aus. Fand eine der Erkundungsstationen Erdöl, brach hier die Hölle los und die Zentrale verwandelte sich in ein Tollhaus. Angestellte wimmelten wie Ameisen durcheinander, Männer und Frauen brüllten Anweisungen oder führten sie aus, je nachdem, an welchem Platz der Befehlskette sie standen - einer Rangordnung, die er, Ryland, bestimmte. Fast jede Woche sah er in seinen Statistiken, dass der Ölpreis neue Rekorde aufstellte und wer immer eine Lagerstätte fand, wurde zum Gejagten. Für Ryland war es ein nur allzu vertrauter Zustand, denn sie fanden immer Öl. Im Firmennamen stand das „SF“ für „search and find“ und Ryland fühlte Stolz in sich aufsteigen, als er daran dachte, dass auch dank ihm das „find“ fast schon eine Garantieerklärung war. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er nicht nur auf einer Panzerung, sondern auch auf einer Bewaffnung der Basisstation bestanden.

Es gab gute Gründe dafür, so und nicht anders zu handeln. Die Horrorvision, die Ruud Ängström vor mehr als dreißig Jahren im Gespräch mit Thore Wejndahl und Johannes Hakonsen skizziert hatte, drohte, Realität zu werden. Ölknappheit zog am Horizont herauf. Alternative Energieträger stellten zwar einen großen Teil der stationären Stromversorgung und die Kurzstreckenmobilität sicher, aber für alles, was größer war als ein Lastkraftwagen, reichten die Akkumulatoren nicht. Schiffe, Flugzeuge und das Militär waren nach wie vor auf Öl angewiesen, die Großindustrie ohnehin. Ohne Plastik funktionierte so gut wie gar nichts in der Welt und das wurde aus Erdöl gewonnen. Mit Johannes Hakonsen hatte Ängström einen genialen Wissenschaftler gefunden, der die Zeichen der Zeit genauso erkannt hatte wie Ängström. Beide hatten zusammen nicht nur ein weltweites Finanzimperium aufgebaut, sondern hatten auch eine Rohstofferkundungsbasis geschaffen, die auf der ganzen Erde Ihresgleichen suchte.

Nach dem Tod Ängströms hatte Hakonsen alles übernommen und in einem seiner ersten Schritte auf jedem Kontinent eine Zentrale wie diese hier errichten lassen. Gepanzert, autark, mit modernsten, aber versteckten Waffen vollgestopft, liefen in ihnen alle Fäden von Hakonsens Imperium zusammen. Entscheidungen wurden nach wie vor in der riesigen Zentrale in Oslo getroffen, aber die Grundlagen dafür wurden in solchen Basisstationen geschaffen. Ryland hatte sie entwickeln lassen, ihren Einsatz in der Firmenleitung durchgedrückt, und ihm verdankte es Hakonsen, dass die Gewinne stetig stiegen.

Am liebsten wäre Ryland im Raum umhergegangen, um alles mit seinen Händen zu berühren oder eine Aktion auszulösen. Fast hätte er es tatsächlich getan, aber gerade, als er die Beinmuskeln anspannte, um aufzustehen, stellte Bjoerndahlen die Verbindung her.

„Was machst Du denn hier?“, Stephans Stimme klang, als hätte er Whisky getrunken und Ryland drehte seinen Stuhl zurück zum Monitor. Stephan trank niemals.

„Moment, Stephan.“ Er schoss einen Blick zu Bjoerndahlen und erst, als der Techniker seinen Stuhl zurückstieß und den Raum verließ, blickte Ryland wieder auf den Bildschirm. Die Falten in Stephans Gesicht, die vor Wochen noch nicht da gewesen waren und Tränensäcke unter den Augen sagten Ryland mehr über den Zustand seines Bruders, als der ihm je erzählen würde.

Was passiert da bei Euch, dachte Ryland und bemühte sich, sein Erschrecken nicht zu zeigen. „Ich habe die Berichte über Eure Forschungen gelesen und das, was Euer Arzt über Euch kommentiert hat. Deswegen will ich mal nach dem Rechten sehen. Du siehst schlecht aus, Stephan.“

„Wir sehen alle nicht gut aus. Wir wissen nicht, woher dieses Signal kommt und nichtmal, ob es natürlich oder technisch ist. Nur, dass es irgendwo hier aus der Nähe kommen muss. Es begann mit Ultraschallstoßwellen aus dem Erdinnern, aber in einer Modulation und Frequenz, die einfach nur idiotisch ist. Sämtliche Strahlungsdetektoren, egal ob UV, Infrarot, Röntgen, Gamma und was wir hier auch immer haben, zeigen Normalwerte. Trotzdem denkt hier jeder, dass wir irgendeiner Strahlung ausgesetzt sind, aber wir können sie nicht einmal anmessen. Du hast die Ergebnisse der Messreihen gesehen, wir überwachen rund um die Uhr, zeichnen alles auf, aber - nichts.“

Stephan holte Luft und rückte an den Monitor heran. „Noch zwei oder drei Tage, und wir sind so mit den Nerven am Ende, dass wir uns wahrscheinlich gegenseitig an die Gurgel gehen und keiner kennt den Grund dafür. Was immer es auch ist, ich habe das Gefühl, das uns jemand zu Versuchskaninchen macht und irgendwie in unseren Gehirnen rumpfuscht.“

Er hob die Hand. „Warte mal!“, drehte seinen Kopf weg vom Monitor und Ryland hörte, wie Stephan einer Person im Hintergrund Fragen stellte. „Wie, der Infrarotscanner sagt, da kommt etwas auf uns zu? Wir sind fast am Südpol in über dreitausend Metern Höhe, bis hierher kommt auch kein verdammter Pinguin. Hier lebt nichts außer Bakterien. Was soll das sein?“

Als Antwort hörte Ryland nur Gemurmel, dann polterte wieder die Stimme seines Bruders: „Wenn das Radar nichts zeigt, dann nimm den Infrarotscanner auseinander. Der spinnt. Da draußen kann nichts sein, das wärmer als minus sechzig Grad ist. Entweder, du bist zu blöd, das Ding zu bedienen oder der spinnt wie schon die letzten drei Tage, das sage ich dir.“

Er wendete sich wieder zu Ryland. „Entschuldige aber ich sagte ja, unsere Nerven ...“

Ryland bemühte sich, Ruhe auszustrahlen und nichts von seiner Anspannung in seinem Gesicht zu zeigen. Er hatte Stephan noch niemals fluchen hören. „Was ist denn?“

„Der Wärmebildgeber hat hat offenbar seinen Geist aufgegeben. Er sagt uns, dass da ein Lebewesen in der Größe eines Menschen auf uns zukommt, und zwar ziemlich schnell. Warte, ich versuche, ob ich den Kanal zu Euch durchst...“

Das Bild auf dem Monitor begann zu flackern, verzerrte sich, der Ton ging in Rauschen über und im nächsten Moment gähnte Ryland Schwärze an, wo zuvor noch das Gesicht seines Bruders gewesen war. Einen Augenblick tat Ryland gar nichts. Dann brüllte er: „Bjoerndahlen!“

Der Techniker und auch der Stationsleiter hatten vor der Tür gewartet. Es dauerte nur Sekunden, bis sie hereinstürmten. Bjoerndahlen raste zum Kontrollpult und drückte mit seinen Fingern auf irgendwelchen Tasten herum. Ryland behielt ihn im Blick. „Bricht die Verbindung öfter ab?“

„Niemals!“ Tarje Boe schüttelte den Kopf. „Die Funkverbindung kann nicht ausfallen. Der einzige Grund, warum die Satellitenverbindung zusammenbrechen könnte, wäre ein Sonnensturm. Seit gestern hat die alte Dame sich aber wieder einigermaßen beruhigt. Selbst wenn sie noch immer die Atmosphäre ionisieren würde, hätte das System automatisch auf Kurzwellenfunk umgeschaltet, dann hätten wir zwar kein Bild, aber zumindest einen Ton.“

Bjoerndahlen richtete sich hinter seinen Geräten auf. Sein Gesicht hatte die Farbe von Kreide. „Das Peilsignal ist auch weg!“

Die Hautfarbe des Stationsleiters ähnelte der von Bjoerndahlen. „Haben Sie das alles überprüft?“

Der nickte. „Doppelt und dreifach, Chef. Alle Geräte sind in Ordnung. Die Ursache muss in der Erkundungsstation liegen. Wir empfangen nicht die leiseste Schwingung von da.“ Er zeigte auf den Monitor. „Alle Bauteile dort sind redundant, wenn eines ausfällt, springt automatisch die Backupbaugruppe ein. Das Peilsignal ist sogar dreifach abgesichert. Es ist ein sekündlicher Kurzwellenimpuls und um ihn zu unterdrücken, müsste man den Sendemast sprengen. Selbst dann würden wir es noch empfangen, weil es in dem Fall sofort automatisch über die Notantenne der Station umgeleitet wird und um auch das zu verhindern, müsste man der Station einen ganzen verdammten Planeten aufs Dach schmeißen.“

„Wollen Sie ...“ Ryland wollte aufbrausen, aber der Stationsleiter unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
„Machen sie sich keine Sorgen. Bjoerndahlen hat das zwar drastisch formuliert, aber im Prinzip stimmt das. Sie haben die Spezifikationen von N22-E selbst genehmigt. Die Wände sind aus Silizit-Dualphasenstahl in einer Doppelwabenstruktur hergestellt und die Zentrale ist noch einmal extra verstärkt. Außer einem Atomschlag und einem Thermitbrenner gibt es nicht viel, was eine solche Wand durchbrechen kann. Es kann sich nur um ein technisches Phänomen handeln.“

Ryland dachte nach. Aus seiner Sicht hatte der Stationsleiter recht und niemand hätte sich Sorgen machen müssen. Doch Ryland gab viel auf seine Intuition und die schlug Alarm. Er fasste einen Entschluss. „Tarje, in spätestens fünfzehn Minuten will ich in der Luft sein. Alarmieren Sie das Sicherheitsinspektionsteam, dazu den Stationsarzt und ich will, dass die Bordwaffen voll aufmunitioniert werden!“

„Aber wenn ...“

„Muss ich in diesem verdammten Laden erst laut werden, bevor Ihr aufhört zu denken und einfach nur Befehle ausführt? Fünfzehn Minuten! Bewegen Sie ihren Arsch, Mann, und zwar jetzt!“

Tarje Boe riss die Augen auf, dann drehte er sich um und rannte los.

„Und besorgen Sie mir endlich einen Kälteschutzanzug!“ Ryland rief es dem Stationsleiter hinterher.

*

Ryland saß hinter den beiden Piloten und mit jedem Kilometer, den der schwarze Mi-42 Spezialhubschrauber mit dem orangeblauen „NordicSF“ an den Seiten zurücklegte, stieg sein Puls. Er ließ die Piloten mit Höchstgeschwindigkeit durch die Polarnacht jagen und es interessierte ihn nicht, dass sie der Treibstoffverbrauch zum Nachtanken an der Erkundungsstation zwingen würde.

Hakonsen hatte sie nach dem Fiasko der letzten Expedition zum Mount Kirkpatrick bauen lassen. Vor zwei Jahren war sie noch spektakulärer gescheitert als die Erste, dreißig Jahre zuvor. Trotz des Einsatzes modernster Technik waren sie nicht näher als fünfzig Kilometer an den Mount Kirkpatrick herangekommen. Diesmal war ein Sturm aufgezogen, der alles, was jemals auf der Erde gewütet hatte, in den Schatten gestellt hatte. Sogar aus dem Weltraum war er zu sehen gewesen. Er hatte die Fahrzeuge mitsamt den Besatzungen einfach davon gewirbelt und Hakonsen hatte den Befehl zum Rückzug geben müssen. Doch seine Idee, dass das Tor zu den parallelen Erden sich irgendwo am Mount Kirkpatrick befand, wollte er nicht aufgeben. Dass offenbar jemand von „draußen“ den Zugang verwehrte, schien im klar. Das „Wer“ und das „Warum“ interessierten ihn nicht, sondern nur, wie er sich den Zugang erzwingen konnte. Seine Firma NordicSF war ein global Player und seine finanziellen Möglichkeiten erlaubten es ihm problemlos, von den Russen einen Satelliten in einen geostationären Orbit direkt über dem Mount Kirkpatrick schießen zu lassen. Drei Monate lang wertete ein Team, dass Hakonsen nur dafür zusammengestellt hatte, jedes Bit an Information aus, dass der Satellit liefern konnte. Dann brach der Mount Erebus aus.

Er war einer von vier Vulkanen, die zusammen die Ross-Insel bildeten, ein Eiland an der Küste der Antarktis. Ohne jede Vorwarnung war die Spitze des über dreitausend Meter hohen Berges auseinandergeflogen, ein pyroklastischer Strom aus mehr als fünfhundert Grad heißer Asche war fast mit Schallgeschwindigkeit die Flanken des Mount Erebus hinabgerast und hatte erst alles unter sich begraben, was ihm im Weg gewesen war, und dann verdampft. Kilotonnen Asche waren in den antarktischen Himmel geschleudert worden, mit weit mehr Eisen- und Nickelpartikeln angereichert, als bei anderen Vulkanen. Die Aschewolken hatten sich in der Stratosphäre über dem magnetischen Südpol gesammelt und lagen wie eine Glocke mit einem Durchmesser von über viertausend Kilometern über der Antarktis.

Seit der Explosion waren zwei Jahre vergangen und in dieser Zeit waren die durchschnittlichen Temperaturen unter der schwarzen Glocke um fast zwanzig Grad gefallen und sie fielen weiter. In der russischen Antarktisstation Wostok hatte man im Juni 2024 einhundertzwölf Grad gemessen – mit einem Minuszeichen davor.

Alles, was Hakonsen noch hatte tun können, war, dem Berg eine mit den modernsten Messgeräten vollgestopfte Erkundungsstation vor die Nase zu setzen. Vor knapp drei Wochen hatten diese Messgeräte einen ungewöhnlichen Ausbruch von Ultraschallwellen aufgezeichnet. Hakonsens Chefgeologe Stephan Mikkelsen war mit seinem Team zur Station aufgebrochen, um der Ursache dafür auf den Grund zu gehen.

Wieder blickte Ryland auf seine Uhr. Noch zwei Stunden musste er die Ungewissheit aushalten. Er erinnerte sich an den Moment, als er das erste Mal in einem solchen Hubschrauber gesessen und hinter Stephans Rücken den Anflug der Maschine auf eine Erkundungsstation verfolgt hatte. Der Geruch von Kerosin, Abgasen und Waffenöl hatte ihm das Atmen schwer gemacht und das Dröhnen der Turbinen seine Zähne vibrieren lassen. Das hatte sich in sein Gehirn eingebrannt und in diesem Augenblick hatte Ryland begonnen, zu träumen. Nein, nicht einen solchen Helikopter zu fliegen, aus dem Alter, in dem er Kinderfantasien nachhing, war er heraus. Aber er wollte bestimmen, wann, wo und gegen wen diese Hubschrauber eingesetzt.
Schon als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen und der große und besonnene Stephan hatte den kleinen und aufbrausenden Ryland aus so mancher Bredouille herausgehauen. Zwar hatten sich ihre Wege getrennt, als Stephan sich für die Geologie und Ryland sich für die Kriminalistik entschieden hatte, aber auch in späteren Jahren hatten sie ihren Kontakt nie verloren.

Stephan beriet mittlerweile als Chefgeologe und enger Berater Johannes Hakonsen, der die Firma seit dreißig Jahren führte. Und Stephan war auch der Mensch, mit dem Ryland diesen Traum teilte: NordicSF zu DEM globalen Player im Erdölgeschäft zu machen unter der Führung von Mikkelsen & Mikkelsen.

„Wir haben wieder Funkkontakt!“ Die Stimme des Kopiloten in Rylands Kopfhörer klang aufgeregt.
Augenblicklich schaltete sich Ryland in die Verbindung, aber er vernahm nichts außer Rauschen und Knackgeräusche. Er rief die Station, aber niemand antwortete ihm.

„Warum höre ich nichts?“ Er klopfte dem Kopiloten auf die Schulter.

„Das weiß ich nicht. Die Funkverbindung steht jedenfalls und das Peilsignal ist auch wieder da. Wir haben gerade eben darauf eingeschwenkt. Wenn niemand antwortet, dann ist keiner in der Zentrale.“

„Rufen sie weiter. Die Zentrale ist immer besetzt. Die Basisstation soll es ebenfalls versuchen. Irgendjemand muss doch antworten!“

Der Kopilot nickte. “Verstanden.“

Ryland verfolgte, ohne sich einzumischen, wie die Besatzung versuchte, eine Antwort auf ihre Rufe zu erhalten. Immer wieder blickte er auf die Uhr, und wenn er nicht gewusst hätte, dass sie bereits mit der Maximalgeschwindigkeit flogen, hätte er den Piloten angefaucht. Doch sie waren gute Männer, die besten, die man für Geld bekommen konnte und er ließ sie ihre Arbeit machen.

Ryland drehte sich nach hinten zu den vier Männern des Sicherheitsinspektionsteams und schaltete auf den allgemeinen Kanal. „Ich norde sie jetzt in die Lage ein, damit sie im Notfall auch selbstständig handeln können. Als die auf Automatik geschaltete Erkundungsstation N22-E in den transantarktischen Bergen vor drei Wochen das erste Mal die Ultraschallstoßwellen empfing, glaubten wir an eine seismische Anomalie. Die Wellen wiesen jedoch eine ungewöhnliche Charakteristik auf und die Geologen der Firma bestanden auf einer genauen Untersuchung. Seitdem versucht mein Bruder, zusammen mit vier anderen Wissenschaftlern herauszufinden, was es damit auf sich hat. Die Berichte über die Ergebnisse der durchgeführten Messreihen, die er seitdem schickt, klingen nicht nur entmutigend, sondern mehr und mehr besorgniserregend. Nicht nur das. Etwas verändert die Männer dort, und ihre medizinischen Daten haben sich von Tag zu Tag verschlechtert.
Mein Bruder lässt sich durch nichts aus der Bahn werfen, und wenn selbst seine medizinischen und vor allem psychischen Parameter von der Norm abweichen, muss in der Erkundungsstation etwas aus dem Ruder gelaufen sein. Stephan besitzt mehr als genug Polarerfahrung, Außentemperaturen von minus sechzig Grad und Stürme mit mehr als zweihundert Stundenkilometern sitzt er auf einer Backe ab. Etwas passiert da draußen, vor dem unsere Technik und unsere hochgezüchteten Messgeräte kapitulieren. Jetzt ist jede Kommunikation zur Station zusammengebrochen und wir fliegen hin, um herauszufinden ob etwas und wenn ja, was da passiert ist. Weitere Informationen bekommen Sie, sobald ich selbst welche habe.“

Ryland nickte den Männern kurz zu. Sollten sie sich selbst ihren Reim darauf machen.
Sie überflogen einen Bergrücken und hatten noch ungefähr dreißig Kilometer vor sich, als die Geräte die Station erfassten. Der Helikopter hangelte sich an ihrem Radarkontakt wie an einer Schnur durch die Finsternis und flog nur nach den Instrumenten. Die visuelle Sichtweite durch die Panzerglasscheiben lag bei null. Noch flogen sie ohne Suchscheinwerfer.

„Noch ein Kontakt!“

Der Ruf des zweiten Piloten riss Ryland fast aus dem Sitz. „Wo?“ Er beugte sich nach vorn.

Der Kopilot markierte mit seinem Finger einen rötlichen Punkt auf dem Monitor der Infrarotkamera. „Geschwindigkeit zwischen dreißig und vierzig Kilometern pro Stunde, gleichbleibend, Größe ungefähr zwei Meter, entfernt sich von der Station.“

Ryland registrierte die Information und schüttelte den Kopf. „Einer der Rover der Station?“

„Zu klein“, erwiderte der Co-Pilot. „Kontakt verloren!“ Aus seiner Stimme klang Erstaunen.

„Hat es sich in Luft aufgelöst oder was?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben es fünfhundert Meter verfolgt, dann ist es verschwunden. Keine Geländeerhöhung dazwischen.“

„Was kann das gewesen sein?“

Der Kopilot zuckte die Schultern. „Der Größe nach ein Mensch, aber niemand läuft im Schnee mit der Geschwindigkeit eines Sprinters. Tiere gibt es da draußen keine mehr, und selbst wenn sich ein Pinguin als Bergsteiger betätigt haben sollte, wäre er nicht auf dem Radar aufgetaucht auf diese Entfernung. Fünfzig Meter vor der Station gibt es noch einen Radarkontakt. Zwei mal drei Meter. Unbeweglich.“

Die Lippen zusammengekniffen, beobachtete Ryland das Radarbild und grübelte, was er als Nächstes tun sollte. In den letzten Jahren hatte er seine Zeit mehr an seinem Schreibtisch und in Meetings verbracht als im Außendienst. Er wusste, dass er sich und Stephan keinen Gefallen tat, wenn er hier als Amateur die Sache versaute. Für Situationen wie diese bezahlte die Firma die Sicherheitsinspektionsteams, kleine, bewaffnete Gruppen, die aus ehemaligen Elitesoldaten bestanden. Sie waren Profis, wurden nur „SITs“ genannt und vier davon saßen hinter ihm in der Maschine. Er hätte sich zwar gewünscht, dass nicht ausgerechnet Ragnar Borg der Teamleiter gewesen wäre, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.

Ryland drehte seinen Kopf und blickte den groß gewachsenen Mann mit dem Bürstenhaarschnitt an, der direkt hinter ihm saß. „Borg, ich denke, ab hier sollten Sie übernehmen.“

Als Antwort erhielt Ryland nur ein kurzes Nicken und gleich darauf hörte er die entspannt klingende Stimme von Borg in seinem Kopfhörer. Der Teamchef des SIT hatte auf die allgemeine Welle geschaltet, sodass die Piloten, das Sicherheitsteam und auch die Leute in der Basisstation mithören konnten.

„Also, unser Ziel ist die Erkundungsstation. Fünf Zivilisten sollten sich darin befinden. Ihr Status ist unbekannt. Niemand in der Station antwortet auf unsere Rufe und damit verfügen wir über keinerlei Informationen. Wir haben einen bestätigten unbeweglichen Radarkontakt fünfzig Meter vor der Station, und wir hatten ein unbekanntes Objekt, das offenbar die Station verlassen und nach fünfhundert Metern im offenen Gelände verschwunden ist. An dieser Stelle werden wir hinausgehen. Es existieren keine Anzeichen von Feindaktivitäten, trotzdem will ich eine Sicherheitsformation und ständigen Sichtkontakt. Wir arbeiten mit eingeschalteten Nachtsichtvisieren im Passivmodus, Licht nur auf meinen Befehl. Der Hubschrauber geht nach dem Absetzen wieder hoch, hundert Meter Standschwebe und mit aktiven Sensoren. Der Doc bleibt an Bord, bis wir ihn brauchen, was ich nicht hoffen will. Ryland?“

„Ich komme mit raus!“

„Dann bleiben Sie hinter uns und befolgen meine Anweisungen. Für alle: Jede Statusänderung will ich sofort erfahren und wenn es auch nur eine Schneeflocke ist, die hustet. Die Waffen bleiben so lange gesichert, bis ich etwas anderes befehle. Serge?“

„Captain?“ Die Antwort des Piloten kam sofort.

„Bevor wir den Absetzpunkt ansteuern, will ich einen Aufklärungsflug um die Station. Zehn Kilometer Radius.“

„Hakonsen hat alles in einem Radius von fünfzig Kilometern um den Mount Kirkpatrick zum gesperrten Gebiet erklärt.“

„Und Sie meinen, ich wüsste das nicht? Borg Ende!“

„Aufklärung, zehn Kilometer Radius, verstanden.“ Der Pilot schaltete die allgemeine Welle ab. Er drehte seinen Kopf zum Co-Piloten. „Ich gehe auf Stealth. Geh die Checkliste für die Notfallturbine und die Prallkissen durch. Vor zwei Jahren haben sie hier mehr als vierhundert Kilometer pro Stunde Windgeschwindigkeit gemessen. Das pflückt uns aus dem Himmel wie eine faule Apfelsine.“

Er blickte wieder auf seine Instrumente und seine Stirn furchten Sorgenfalten.

wird fortgesetzt ...
Das Ding aus einer anderen Welt Teil II
„Fertigmachen!“

Bar jeder Emotion klang die Stimme Borgs im Kopfhörer. Ryland schloss das Visier seines Helms und schaltete es auf den Nachtsichtmodus.

Zwei Minuten später, die Kufen des Hubschraubers schwebten noch zwei Meter über dem Boden, ließ Ryland sich hinter den SITs aus der Luke fallen und etwas in ihm registrierte mit Befriedigung, dass sein Körper immer noch wusste, wie er sich abzufangen hatte. Obwohl er wie alle anderen den Helm geschlossen hatte, begann die Kälte von minus fünfundsechzig Grad sofort, sich durch seinen Schutzanzug zu beißen.

Borgs Stimme klang konzentriert im Helmkopfhörer. „Neue Kontakte Radar oder Infrarot?“

„Nichts.“ Die Antwort des Piloten kam ohne Verzögerung.

„Strahlung?“

„Alles im Normbereich.“

„Okay. Auf zweihundert Meter Höhe steigen, Scheinwerfer ein. Jetzt!“

Der Zehntausend-Watt-Suchscheinwerfer des Helikopters brannte einen Tunnel aus gleißendem Licht in die antarktische Nacht. Funkelnd reflektierte es der durch die Rotorblätter hochgewirbelte Schnee, Myriaden von Eiskristallen tanzten und schimmerten im Luftstrom auf, dazwischen graue, manchmal auch bläuliche Zacken aus Felsen und die schwarzen Schlagschatten der Männer – eine bizarre Welt voller tödlicher Schönheit.

Ryland folgte den Schritt für Schritt vorrückenden Männern und musterte dabei die in Tageshelle getauchte Landschaft. Vor ihm duckte sich wie ein Raubtier auf dem Sprung zwischen die hügelgroßen Schneewehen die Festung der Wissenschaftler, N22-E. Sie lag auf einem unregelmäßig geformten Plateau von gut fünfhundert Meter Durchmesser. An drei Seiten wurde es von Felsen begrenzt, hinter denen die Berge des transantarktischen Gebirges lagen, auf der nördlichen Seite wäre der Blick auf den Mount Kirkpatrick frei gewesen, wäre er nicht zu weit entfernt gewesen. Das Licht aus dem Hubschrauber reichte nicht bis dorthin.
Als sie sich bis auf fünfzig Meter der Station genähert hatten, reckte Borg eine zur Faust geballte Hand in die Nacht. Wie die anderen auch erstarrte Ryland zu einer Salzsäule, bis er die Stimme des Teamleiters hörte. „Zu mir. Alle!“

Ryland stampfte zu Borg und schaute auf das, was der Teamleiter mit der Lampe auf seinem Sturmgewehr anstrahlte. Auf ein Zeichen Borg schaufelten zwei Männer den Schnee zur Seite und Kälte kroch Ryland den Rücken hinauf, als sein Verstand begriff, was seine Augen sahen. Hinter und neben ihm wurden Waffen entsichert und durchgeladen, ohne das der Teamleiter es befohlen hätte.

Was hier zu ihren Füßen lag, war einmal die Außentür einer Wärmeschleuse gewesen. Schwarz ragte die große Metallplatte aus dem Schnee. Anstelle der Scharniere grinsten sie drei ausgefranste Löcher an und in der Mitte gähnte eine zwanzig Zentimeter tiefe Delle, als hätte jemand mit einem Hammer dagegen gedroschen. Nur, dass sich niemand von ihnen einen Hammer vorstellen konnte, der groß genug gewesen wäre, eine Silizit-Dualphasenstahltür einer Erkundungsstation von NordicSF einzudrücken.

„Wir atmen jetzt alle einmal tief durch.“ Die Stimme von Borg klang noch immer ruhig. „Es ist nichts geschehen und wir haben nirgendwo Bewegung. Ryland, Michael und ich beziehen an den beiden Felskanten Position und sichern.“ Er wies mit dem Arm auf zwei Ausläufer der Felsen, die bis auf fünfzig Meter an die Station heranreichten. „Anders und Viko gehen hinein. Jede Tür wird geöffnet und jeder Raum überprüft. Los!“

Ryland fühlte sich, als hätte er verdorbene Austern gegessen. Etwas hatte die Wärmeschleuse der Station von innen mit Gewalt aus ihren Scharnieren gerissen und die mehr als zweihundert Kilogramm wiegende Stahlplatte fünfzig Meter durch die Luft geschleudert. Das bedeutete, dass es vorher im Gebäude gewütet haben musste. Tränen stiegen ihm in die Augen, und wenn es für ihn einen Gott gegeben hätte, so hätte er jetzt zu ihm für seinen Bruder gebetet.

Anders und Viko verschwanden im Innern des Gebäudes und Borg legte ihm eine Hand auf den Arm. „Lassen Sie das meine Leute machen, Ryland. Sie können alles mithören.“

Ryland lehnte sich an die Felswand in seinem Rücken und kämpfte gegen das Würgen in seinem Hals und das Zittern in seinen Beinen. Er blendete sich den Stationsgrundriss in sein Helmvisier. Wie bei einer Fischgräte gab es einen Mittelkorridor, von ihm zweigten die einzelnen Funktionsräume ab, am Kopf befand sich der zentrale Kontrollraum und den Schwanz bildete die zerstörte Wärmeschleuse.

Den Fortschritt der Aktion konnte er anhand der beiden roten Punkte in seinem Visier verfolgen. Sie markierten die Position von Anders und Viko. Ein ums andere Mal hörte er im Kopfhörer das „Gesichert. Leer.“, der beiden SITs und jedes Mal krampfte sich sein Magen mehr zusammen. In seinem Helmvisier erreichten die beiden roten Punkte jetzt den Kontrollraum.

„Wo ist Stephan?!“ Ryland hielt es nicht mehr aus.

„Bleiben Sie ruhig, Ryland.“ Es war Borgs Stimme und Ryland hörte in ihr die gleiche Anspannung, die er selbst fühlte.
„Alphaleader, wir brauchen Sie hier!“

Die zwei grünen Markierungen von Borg und dem vierten SIT bewegten sich in Richtung der beiden Roten. Ryland lief los.
„Mein Gott ...“ Nichts mehr in dieser Stimme erinnerte an die steinerne Ruhe, die Borg bis dahin ausgestrahlt hatte. Ryland riss die Innentür der Schleuse auf und hetzte durch die Gänge.

Schulter an Schulter drängten sich die vier Männer des SIT mit hochgeklappten Helmvisieren in der Tür zur Zentrale. Schweigend machten sie ihm Platz.

Wie die anderen vier Wissenschaftler auch saß Stephan Mikkelsen vor einem Monitor. Sein Mund war aufgerissen, als wollte er schreien, aber kein Laut verließ seine Lippen und in seinen geweiteten Augen war einen Ausdruck des Grauens, wie Ryland ihn noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte. Er kniete sich vor Stephan und rüttelte ihn an der Schulter. „Stephan?“
Er bekam keine Antwort. „Stephan!“ Ryland schlug ihm ins Gesicht, aber nichts änderte sich am Ausdruck darin.

„STEPHAN!“

Wimpern netzten ausgetrocknete Augen, aber es war nichts weiter als ein Lidreflex. Dann noch einmal und es war die einzige Antwort, die Ryland bekam.

*

Zwei Stunden später hob der aufgetankte Helikopter in einer Wolke aus wirbelndem Schnee ab. Er brachte die fünf Wissenschaftler zur Basisstation. Ryland hatte schon viel erlebt, vor allem in den Zeiten, als er noch als Kriminalkommissar gearbeitet hatte. Er wusste, wie sich nacktes Grauen im Gesicht eines Menschen manifestierte und wie wenig manchmal genügte, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Doch das, was er in den Augen seines Bruders und der vier Wissenschaftler gesehen hatte, war etwas anderes gewesen. Hier war etwas, dass so entsetzlich und grauenvoll gewesen war, dass es sich für immer in ihren Augen und in ihrem Kopf festgefressen hatte.

Ryland drehte sich zu Borg um, der wie er stumm den Abflug des Helikopters verfolgt hatte. „Ich will, dass hier kein Quadratzentimeter ausgelassen wird. Nehmen Sie die Station meinetwegen Stück für Stück auseinander, das ist mir gleichgültig, aber ich will ein Ergebnis. Ich will wissen, was hier passiert ist - um jeden Preis!“

Während das Team sich durch N22-E arbeitete, sah Ryland sich die Discs an, auf denen die Überwachungskameras alles aufgezeichnet hatten, was innerhalb und außerhalb des Gebäudes geschehen war, aber sie halfen ihm nicht. In der Sekunde, in der auch das Peilsignal aussetzte, hatten alle optischen und akustischen Sensoren auf Stand-by geschaltet. Die Geräte hatten weiter aufgenommen, aber etwas hatte sowohl die Mikrofone als auch die Kameras blockiert. In dem Moment, in dem sie wieder das erste Peilsignal empfangen hatten, begannen auch die Aufzeichnungen erneut und das Einzige, was Ryland sah, war das Bild seines Bruders und der anderen Männer. Ohne zu sprechen und ohne sich zu bewegen, saßen sie wie Roboter, die jemand abgeschaltet hatte, vor den Monitoren und starrten auf die Schleuse, zwanzig Minuten lang, bis das Sicherheitsinspektionsteam in die Station eingedrungen war.

Die nächsten fünf Stunden brachten sie keinen Schritt weiter, denn das Team fand nicht den kleinsten Hinweis. Die Untersuchung der Schleuse und der zerstörten Außentür führte sie in eine Sackgasse. Niemand hatte Sprengstoff benutzt und das Einzige, was der Teamleiter sagen konnte, war, dass eine gewaltige Kraft die Tür herausgerissen hatte.

Sie saßen in der Zentrale und besprachen die Ergebnisse. Ryland sah Borg an. „Sie sind also genauso ratlos wie ich. Außer fünf Verrückten, leeren Überwachungsaufzeichnungen und einer zerstörten Schleuse haben wir nichts?“

Der Teamleiter zuckte die Schultern. „Wir haben alles abgesucht, gescannt, Infrarotspürer eingesetzt, UV-Analysatoren, Strahlungsmesser - aber nirgendwo gibt es auch nur die kleinste Spur in der Station.“

„Das gibt es nicht. Irgendeine Spur muss doch zu finden sein, verdammt nochmal!“ Wut und Zorn fraßen sich durch die eisige Kälte in Rylands Innerem. „Wieso haben Sie das ‚In der Station‘ so betont? Was haben Sie draußen gesehen? Reden Sie Mann, lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen!“

„Ich weiß nicht, was das ist. Es könnten Spuren sein. Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie sich das selbst ansehen.“ Borg stand auf, schloss seinen Kälteschutzanzug und wartete, bis Ryland es ihm gleichtat. Dann führte er ihn vor das Gebäude bis dorthin, wo sie die zerstörte Schleusentür gefunden hatten. Zwei Meter weiter beleuchte der Teamleiter eine Stelle im Schnee und zeigte auf acht Löcher, vielleicht zehn Zentimeter stark, gleichmäßig verteilt in einem Kreis von ungefähr zwei Metern Durchmesser.

„Da hinten sind noch mehr“, Borg leuchtete mit dem Handstrahler in die Dunkelheit. Fast fünfhundert Meter verfolgten sie die Abdrücke, bevor diese sich im Weiß der Schneewüste um sie herum verloren. Das war exakt die Entfernung, über die sie auch die Wärmestrahlung eines Lebewesens, das nicht einmal einen Metallknopf an sich hatte, aus dem Hubschrauber verfolgt hatten.

„Was denken Sie?“

Borg schüttelte den Kopf. „Reine Spekulation. Fahrzeuge haben hier Ketten oder Kufen. Das hier sieht aus, als hätte sich etwas auf acht Beinen mit Fünfmetersprüngen vorwärts bewegt. Ich weiß, dass die Amerikaner und die Russen versucht haben, geländegängige Roboter zu bauen, die sich wie Spinnen auf acht Beinen bewegen. Sie haben es aber aufgegeben, weil es keinen Microcomputer mit genügend Rechenleistung gab, der die Bewegung der Beine in schwierigem Gelände koordinieren konnte. Dazu ist nur ein organisches Gehirn in der Lage. Ich kenne kein technisches Gerät, das so funktioniert. Schon gar nicht eines, das sich dann in Luft auflöst. Wenn es hätte fliegen können, hätte es nicht erst noch fünfhundert Meter laufen müssen.“

Er zuckte die Schultern. „Vielleicht haben die Russen die Entwicklung doch fortgesetzt.“

„Die Station ist fünfhundert Kilometer von hier entfernt und seit zwei Jahren unbesetzt.“

„War nur eine Idee. Außerdem sind seit drei Wochen, zumindest, wenn man den Satellitenfotos glauben kann, da wieder Leute drin.“

„Wieso habe ich nichts davon gewusst?“

„Sie haben nicht gefragt.“

„Ich will einen Mann von denen.“

„Sie können sie gerne fragen, aber ich denke nicht, dass die Russen sonderlich kooperativ sein werden.“

„Habe ich gesagt, dass Sie fragen sollen?“

Borg zog scharf die Luft durch die Nase. „Nicht dass wir das nicht könnten, aber die Antarktis ist eine gewaltfreie Zone, zumindest auf dem Papier. Wir müssten den Typ entführen und das könnte ziemlich hässlich werden. Ich erinnere nur ungern an Südafrika, Ryland.“ Borg machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er fortsetzte: „So eine Aktion anzuweisen, geht über Ihre Befugnis hinaus. Das kann nur Hakonsen.“

Ryland trat an Borg heran und blickte dem mehr als einen Kopf größeren Mann in die Augen. Er musste seinen Kopf in den Nacken legen dazu. „Heißt das, Sie lehnen den Befehl ab?“

Borg verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Natürlich nicht. Aber sie dürfen mir diesen Befehl nicht geben, Ryland, und das wissen Sie auch.“

„Wissen Sie, was ihr Problem ist, Ragnar?“ Ryland ließ seine Stimme fast freundlich klingen.

„Ich habe kein Problem. Es ist Ihr Problem, wenn sie mich zwischen zwei Stühle stellen wollen.“

Ryland nickte. „Genau und ich will Ihnen sagen, warum Sie da stehen. Sie sind der beste Teamleader, den die Firma in Europa hat und das wissen Sie. Sie setzen sich Ziele und die erreichen sie. Dummerweise ist eines ihrer Ziele mein Sessel. Und ich sitze auf dem, weil ich weiß, wie Menschen wie Sie ticken. Ihr Problem ist die Tatsache, dass Sie nur das sehen, was Sie wollen.“
„Aber ich würde doch nie ...“

„... meinen Sessel erreichen.“ Ryland fiel Borg ins Wort. „Zumindest nicht, solange ich hier etwas zu sagen habe. So lange werden Sie immer ein pissiger kleiner Teamleader bleiben, und wenn Sie sich weiter weigern, meine Befehle auszuführen, nicht einmal mehr das.“

„Ach ja? Sie wollen mich feuern? Ich habe einen Vertrag auf Lebenszeit. Unterschrieben von Hakonsen.“

Die Antwort war so leise, dass Borg den Helmlautsprecher aufdrehen musste: „Richtig, Ragnar Borg. Sie haben einen Vertrag auf Lebenszeit, oder anders gesagt - Ihr Vertrag gilt genau so lange, wie Sie am Leben sind.“

Eine Ader an Borgs Schläfe begann heftig zu pulsieren. Seine Hand fiel auf die Schulterstütze des Sturmgewehrs, das an seiner Seite herunterhing.

Ryland nickte. „Genau, Sie könnten mich jetzt umbringen. Das ist eine Option und die mag für Menschen wie Sie einen gangbaren Weg darstellen. Aber selbst wenn Sie es tun, denken Sie schon wieder nicht weit genug. Erschießen sie mich, bringt sie das auch nicht nach oben, sondern nur in ein tiefes schwarzes Loch. Sie wissen das und deswegen werden Sie kuschen und genau das tun, was ich sage.“

„Oder?“

Ryland erhöhte die Lautstärke seiner Stimme. Er wollte, dass Borg ihn genau verstand. „Kein ‚oder‘. Nicht mehr für Sie. Wenn ich ‚Frosch‘ sage, springen sie, und zwar wann und wohin ich es will. Ist das klar?“

Borgs Hand krampfte sich um die Waffe, er atmete schwer und für einen Moment fürchtete Ryland, die Intelligenz des Teamleiters überschätzt zu haben. Aber dann nickte Borg mit zusammengepressten Lippen.

„Ist das klar, Ragnar Borg!?“ Ryland brüllte.

„Ja.“

Borg trat einen Schritt zurück und im Plauderton, als sei nichts geschehen, setzte Ryland fort: „Wie Sie mir den Russen besorgen, ohne dass Sie dabei einen Weltkrieg auslösen, ist mir gleichgültig, aber ich will einen Mann von denen. Dann schicken Sie ihn als Paket an Olaf Wielander, der weiß, wie man damit umzugehen hat. Verdonnern Sie Ihre Männer zum Schweigen. Wenn ich mitbekomme, dass irgendjemand sich an irgendetwas erinnert, tue ich das auch und er wird Eisbärenfutter!“

„Am Südpol ...“

„Falls Sie mir sagen wollen, dass es am Südpol keine Eisbären gibt, dürfen Sie gerne der Erste sein, den ich vom Gegenteil überzeuge. Konservieren Sie die Spuren und den Schnee darum herum. Ich will, dass alles eingesetzt wird, was wir haben. Schicken Sie es in unser Labor nach Schwerin, genau wie jedes Bit an Information, das sie aus der Station geborgen haben. Nichts kann sich bewegen, ohne das nicht wenigstens eine Zelle oder ein Atom übrig bleibt - und das werden wir finden. Jetzt lassen sie mich allein!“

Borg ging, nicht ohne Ryland noch einen Blick zurückzuwerfen und der Ausdruck im Gesicht des Teamleiters dabei sagte Ryland, dass Borg ein Problem werden würde, um das er sich zu kümmern hatte. Sein Ehrgeiz machte Borg zu einer Gefahr und Ryland war nicht der Mann, so etwas auf die leichte Schulter zu nehmen. Er machte sich in Gedanken eine Notiz und dachte dann wieder an seinen Bruder.

Lange stand Ryland im Schnee neben den Spuren, ohne sich zu bewegen. Die Finsternis der Südpolarnacht umgab ihn, Kälte biss in seine Haut, aber beides war nichts gegen die Leere, die den Traum von Mikkelsen & Mikkelsen in seinem Inneren verdrängte. Das Ziel eines kleinen Mannes, der mit seinem Bruder einmal die mächtigste Firma der Welt hatte führen wollen. Vorbei.

Ryland erinnerte sich an die letzten Worte seines Bruders: „Der Wärmebildgeber hat ne Macke. Er sagt uns, dass da ein Lebewesen in der Größe eines Menschen auf uns zukommt, und zwar ziemlich schnell.“ Dann die Löcher im Schnee und die Worte Borgs: „... geländegängige Roboter, die sich wie Spinnen auf acht Beinen bewegen. ... Dazu ist nur ein organisches Gehirn in der Lage.“

Eine Spinne also oder ein Roboter, der sich auf Spinnenbeinen bewegte, schnell und so stark, dass er eine zweihundert Kilogramm schwere Stahltür aus den Angeln reißen und fünfzig Meter weit durch die Luft schleudern konnte. Gesteuert von einem Menschen.

Was oder wer immer auch den Geist seines Bruders ausgelöscht hatte, Ryland schwor sich, es zu finden. Er würde es jagen und wenn es Jahre dauerte. Und dann würde er es töten.
Teil III
Es war nicht so, dass Svenssons Anruf von Ryland nicht bemerkt worden wäre. Doch er wartete auf ein wichtiges Gespräch, von dessen Ausgang mehr als nur sein eigenes Schicksal abhing und so hatte er Grete angewiesen, dass er auf keinen Fall gestört werden wollte. Jetzt öffnete sie die Tür einen Spalt, steckte ihren Kopf hindurch und sagte mit leiser Stimme: „Es ist Zeit für Ihr Gespräch.“

Ryland schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Ja, ich weiß.“ Die Tür schloss sich und er war wieder allein. Für einen Moment dachte er über Gretes nie versagendes Gefühl für die richtige Handlung zur richtigen Zeit nach. Sie hätte ihn auch mit einem Tastendruck benachrichtigen können, doch sie hatte es vorgezogen, ihn persönlich zu erinnern. Erinnerung - ein böses Wort und wieder tauchte das Bild von Stephans Gesicht in der Erkundungsstation N-22E am Mount Kirkpatrick vor ihm auf. „Globale Amnesie“ nannten es die Ärzte und verschwiegen, dass Menschen, die ihr Gedächtnis verloren hatten, zumindest noch sprechen und schreiben konnten. Nicht so Stephan - er verweigerte jeden Kontakt mit seiner Umwelt. Mit Gewalt riss sich Ryland aus seinen Erinnerungen, drückte einen Knopf an seinem Terminal und nur eine Sekunde später erschien das Bild aus der wissenschaftlichen Zentrale in Oslo.

Eine Frau unterhielt sich gerade angeregt mit einem sehr jungen Mann in einem ehemals weißen Kittel, der jetzt mit braunen Flecken gesprenkelt war. Sie blickte kurz in die Kamera und winkte Ryland zu. „Ich brauche noch fünf Minuten. Denken Sie schon mal darüber nach, was sie über fortgeschrittene postnukleare Waffentechnologie wissen.“ Dann redete sie weiter auf den Mann ein, ohne die Verbindung zu unterbrechen.

Ryland beherrschte sich, um nicht ein verärgertes Gesicht zu zeigen. Er hasste Unpünktlichkeit und die Videokonferenz mit der Problematorin hatte er lange genug vorher angekündigt. Das war immer das Problem mit Wissenschaftlern - sie lebten nicht in der realen Welt, sondern irgendwo zwischen Gesteinsproben und Differentialgleichungen. Anne Ezra bildete da keine Ausnahme, auch wenn sie das in anderer Hinsicht wohl war. Sie hielt nicht viel von Reden und betrachtete Höflichkeit und Smalltalk als vertane Zeit. Sie meinte es nicht böse oder abwertend ihrem Gesprächspartner gegenüber und hätte man ihr gesagt, dass sie unhöflich sei, hätte sie es wahrscheinlich nicht verstanden. Nur, wenn es um ein Problem ging, mit dem sie sich auseinandersetzte, konnte sie sehr ausführlich und wie ein Wasserfall reden.

Er betrachtete nachdenklich die kleine Frau, die ihrem Mitarbeiter gerade gestenreich etwas zu erklären schien und dabei ihren ganzen Körper einsetzte. Sie schüttelte energisch ihren großen Kopf mit den weißen Haaren und strahlte dabei eine Energie aus, die ihren dürren Körper und die Altersfurchen in ihrem Gesicht Lügen strafte. Er wusste nicht, wie viel Doktorhüte sie ihr Eigen nannte, nur, dass sie ein nahezu enzyklopädisches Wissen besaß. Wie auch immer es Hakonson geschafft haben mochte, sie in die Firma zu holen - sie war jeden Cent und jede Vergünstigung wert, die er ihr gab.
Das Wissen der Menschheit vergrößerte sich immer schneller und damit auch die Zahl der Fachidioten, die zwar in ihren Wissensgebieten und vielleicht auch noch in angrenzenden Bereichen Genies waren, aber keinen wirklichen Überblick besaßen. So wertvoll sie auch für ein bestimmtes Projekt sein mochten, waren sie doch nicht geeignet, fachgebietsübergreifende Probleme zu lösen, sie waren in ihrem Denken und auch in ihrem Wissen einfach zu eingeschränkt. So waren gerade die Schnittstellen zwischen den Wissenschaften immer häufiger die Orte geworden, an denen Probleme gelöst werden mussten und wer die richtigen Antworten finden wollte, musste zumindest die richtigen Fragen stellen. Genau dafür hatte sich eine neue Berufsgruppe herausgebildet. „Problematoren“ waren auf Grund ihrer universellen Bildung in der Lage, auch komplexe Probleme zu erkennen, sie in einzelne Teilbereiche zu zerlegen, daraus die richtigen Fragestellungen abzuleiten und sie als klar formulierte Aufgaben an die Wissenschaftlerteams zu vergeben. Die Ezra war eine solche Problematorin und jedes Mal, wenn Ryland mit ihr zu tun hatte, faszinierte ihn das Strahlen in den blauen Augen der mittlerweile fast siebzigjährigen Frau, das von ihrem noch immer ungebrochenen Wissensdrang kündete. Auch wenn sie nicht immer Recht gehabt hatte in der Vergangenheit, so waren ihre Analysen und die Konzepte, die sie daraus entwickelte, einer der Gründe, dass es der Firma so gut ging. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte Ryland sich entschlossen, sie mit ins Boot zu holen, obwohl er damit den Personenkreis, der um die Vorgänge in der Station wusste, erweiterte. Außerdem hatte Hakonsen sehr deutlich gemacht, dass es ihm um mehr ging als um Rache oder Zurückschlagen und auch wenn Ryland das anders sah, so war er klug genug, das nicht an die große Glocke zu hängen.

Der Mitarbeiter hatte das Büro der Problematorin verlassen und Ryland straffte sich unmerklich. Er hatte große Hoffnungen auf die Ezra gesetzt und gleich würde er erfahren, ob er sich getäuscht hatte oder nicht. „Sind Sie sicher?“, begann er das Gespräch.

Die Ezra schüttelte den Kopf. „Sicher sind nur Geschehnisse, die in der Vergangenheit liegen. Die von mir errechnete Wahrscheinlichkeit, dass hier eine fortschrittliche Waffentechnologie zur Anwendung gebracht wurde, liegt aber bei über siebzig Prozent. Sie selbst haben die Basisdaten geliefert und wir haben diese mit Erkenntnissen aus der jüngeren Vergangenheit angereichert und miteinander korreliert. Der Fakt: Einsatz einer uns, also der Firma, unbekannten Technologie mit unbekanntem Ziel. Wir sind auf dem neuesten Stand mit unserem Wissen, was bedeutet, dass jemand eine Technologie entwickelt hat oder noch entwickelt und benutzt, die so geheim ist, dass niemand darüber etwas weiß außer denen, die damit arbeiten. Und das sind nicht wir.“ Sie verschränkte die Arme über der Brust und sah Ryland abwartend an.
„Wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir Normalsterblichem etwas genauer zu erklären, um was es geht?“ Ryland hatte Mühe, seinen Zorn zu beherrschen. Das hatte er sich selbst denken können, dafür hätte er nicht die Problematorin hinzuziehen müssen.

Sie schien seinen Zorn nicht zu bemerken. „Das ist das, was ich Ihnen mit hoher Sicherheit sagen kann. Alles Weitere wäre Spekulation, da die vorhandene Datenbasis nicht ausreichend ist. Ich bin Wissenschaftlerin, keine Spekulantin.“

„Dann will ich wissen, auf Grund welcher Fakten Sie zu diesem fundamentalen Schluss gekommen sind.“

„Alle Fakten, auf denen meine These beruht, befinden sich bereits in Ihren Datenbanken.“

„Ezra!“ Es war typisch. Wo jeder andere mit der Genialität seiner Arbeit geprotzt hätte, verkroch die Ezra sich in ein Schneckenhaus. Sie hatte das Problem bereits abgehakt und war in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt. Sie lebte in einer Welt, in der sie die Anwendung ihre Erkenntnisse nicht mehr interessierte, sondern nur noch die Erkenntnis an sich. „Ich habe keine Zeit, mich durch wissenschaftliche Fachterminologie zu arbeiten. Geben Sie mir, bitte, eine Zusammenfassung der Hintergründe!“

„Sie wissen, wie ungern ich mich in Details verliere.“ Sie klang leicht belustigt. „Aber das Wort ‚bitte‘ habe ich noch nie aus ihrem Mund gehört, Ryland.“ Sie legte den Kopf leicht schräg und betrachtete ihn. „Nageln Sie mich auf nichts von dem fest, was ich Ihnen jetzt erzähle. Die Fakten sind zwar stimmig, aber auch anders interpretationsfähig, als ich es tue. Nur liegt die Wahrscheinlichkeit eben bei besagten über siebzig Prozent, dass ich Recht habe.“

Ryland hätte am liebsten gebrüllt: „Nun fangen Sie endlich an!“, aber er beherrschte sich. Doch dass er ein grimmiges Gesicht dabei machte, konnte er nicht verhindern.

„Ich will versuchen, Ihrem Wunsch zu entsprechen.“ Die Ezra legte die gespreizten Hände ihrer Finger gegeneinander und stützte die Ellenborgen auf den Tisch. „Das, was wir in und um N-22E gefunden hatten, war sehr wenig. Der konservierte Schnee um die Abdrücke enthielt nicht mehr an Verunreinigungen und Spurenelementen als die Vergleichsproben. Immerhin können wir auf Grund der Abmessungen und der Tiefe davon ausgehen, dass das Objekt, das sie verursacht hat, ein Gewicht zwischen einhundert und zweihundert Kilogramm gehabt haben muss. Ist das Objekt gegangen, eher zweihundert, ist es gesprungen, eher einhundert.

Alle elektromagnetischen Aufzeichnungen in der Station waren gelöscht worden, und zwar so, dass wir auch keine Rückstände, die wir hätten wiederherstellen können, gefunden haben. Das geschah, kurz bevor Sie mit dem Helikopter von der Basisstation gestartet sind. Wir wissen nur, dass es keiner der Wissenschaftler gewesen sein kann, denn dazu hatte keiner die technischen Möglichkeiten. Gleiches gilt für das Versagen der Funkverbindungen und des Peilsignals. Wir konnten hier nicht einmal eine technische oder manuelle Einwirkung feststellen. Nach unserer Meinung ist das Peilsignal niemals unterbrochen worden, es ging nur nicht hinaus, so, als hätte jemand einen Wall um die Station gelegt, der jede elektromagnetische Strahlung abschirmt, und das ist eine weitere der vielen Unmöglichkeiten bei diesem Vorfall.
Um die benötigte Impulskraft aufzubringen, die die Tür der Wärmeschleuse aus ihrer Verankerung reißen konnte, hätte ein eine Tonne schwerer Hammer sie mit einer Geschwindigkeit von mindestens 50 Kilometern pro Stunde treffen müssen. Die Klimaanlage und deren Filter enthielten nur Spuren von Stoffen und Zellen, die ohnehin in der Station vorhanden waren. Die Filter, die Wände der Station, alle kontaktintensiven Flächen und auch den Schnee vor der Station haben wir bis herunter auf die Atomgitterstrukturen untersucht. Wir hatten also nur Wirkungen, aber keine Ursachen und keine Spuren. Deshalb beschlossen wir, das Problem rein deduktiv anzugehen. Durch die Aussage des Russen, die uns ihr Wielander geliefert hat, wussten wir, dass in seiner Station ein halbes Jahr zuvor etwas Ähnliches passiert sei und so suchten wir nach gleichartigen Vorkommnissen der letzten Jahre in der Antarktis und wir wurden fündig.“

Die Ezra stand auf, ging mit kleinen Trippelschritten in ihrem Zimmer hin und her und dozierte dabei. „Wir filterten alle die ungeklärten Vorkommnisse aus, bei denen es sich um nachweisbare Fälle handelte - Lawinen, plötzliche katabatische Stürme und andere natürliche Ursachen. Übrig blieben drei bemannte Stationen, in denen es innerhalb der letzten Jahre zu ungeklärten Phänomenen gekommen ist und bei deren Besatzungen sich die gleichen Symptome wie bei Ihrem Bruder und seinen Kollegen zeigten. Wir haben alle Daten zeitlich miteinander verglichen und herausgefunden, dass die Vorgänge alle exakt nach dem gleichen Schema abgelaufen sind und mit den gleichen Symptomen begannen: Beklemmung, Unbehagen, extreme Traurigkeit, Reizbarkeit verbunden mit Übelkeit oder Furcht, einem „Kalt den Rücken runterlaufen und Druck auf der Brust. Überall verschwanden die Symptome ohne Folgen. Nur N-22E macht eine Ausnahme, weil hier offenbar eine Wirkungsgrenze überschritten wurde, die dazu führte, dass die Männer in Katalepsie verfielen.“

„Also ist etwas in die Station eingedrungen ...“

Die Ezra unterbrach ihre Bewegung und blickte hoch. „Dieser Meinung bin ich nicht. Wir haben bei Ihrem Bruder und den anderen Männern keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung festgestellt. Selbst wenn etwas in der Station war, hat es ihnen nichts getan.“

„Dann ist wahrscheinlich der Teufel erschienen und hat sie um den Verstand gebracht! Wieso zweifeln Sie daran, dass etwas in der Station war?“

„Könnte es nicht so gewesen sein, dass das Team sich verbarrikadiert hatte, die Tür von außen gewaltsam herausgerissen wurde und das Erscheinen Ihres Helikopters die Aktion unterbunden hat, die vielleicht folgen sollte?“

Ryland dachte darüber nach, doch es ergab keinen Sinn. Dann hätten unmittelbar vor der Station Spuren oder andere Anzeichen dafür gewesen sein müssen, dass sich da etwas in den Schnee gestemmt hatte, um diese Wirkung erzeugen zu können. Er sagte es der Ezra und sie verneinte. „Sie denken zu menschlich. Sie haben eine Wirkung und mit dem, was Sie wissen, schlussfolgern Sie auf die Ursache. Das hilft uns nicht weiter. Wir wissen ja nicht einmal, ob da wirklich ein „Es“ an, vor oder in der Station war. Es könnte alles die Einwirkung einer unbekannten Kraft gewesen sein ohne die Anwesenheit eines Menschen, einer Maschine oder der Kombination aus beidem.“

„Also wissen wir nicht mehr als vor ein paar Wochen!“ Ryland konnte die Bitterkeit aus seiner Stimme nicht heraushalten.

„Wir haben Indizien und damit können wir eine Kette aufbauen, die eben jene siebzig Prozent Wahrscheinlichkeit hat, von denen ich eingangs sprach. Die Symptome, die bei den Männern in der Station aufgetreten sind, weisen eindeutig auf Infraschall mit hohem Schalldruck und extrem niedriger Frequenz hin. Ohne spezielle Messgeräte – die in der Station nicht vorhanden waren – ist er nicht nachweisbar. Nur seine Auswirkungen und die können durchaus ein menschliches Gehirn zerstören, wenn der Schalldruck hoch genug ist und die kontinuierliche Einwirkung lange genug aufrecht erhalten wird. In der russischen Station hörte die Einwirkung offenbar auf, als eine kritische Schwelle erreicht wurde. In N22-E wurde diese Schwelle überschritten und was dabei herausgekommen ist, mussten ihr Bruder und seine Kollegen erleiden. Damit zeichnet sich mit eben jenen siebzig Prozent Wahrscheinlichkeit ab, dass irgendjemand in der Antarktis eine Waffe einsetzt, gegen die es keinen Schutz gibt. Infraschall durchdringt ganze Gebirge, als wären sie aus Pappe, und Wale unterhalten sich mit seiner Hilfe unter Wasser über tausende von Kilometern. Weder Blei, Stahl oder Beton, sei er auch kilometerdick, bieten Schutz vor Infraschall.“

Anne Ezra wirkte fast glücklich. Sie hatte ein schwieriges Problem durch reine Deduktion gelöst und was konnte einen Wissenschaftler glücklicher machen als eine solche Leistung. Ryland sah das anders. „Wer, Ezra? Wer macht da so etwas? Und warum?“

„Ist dieses Gespräch sicher?“

„So weit ich weiß, hat noch niemand eine Quantenverschlüsselung durchbrechen können“, antwortete Ryland. „Warum?“

„Weil ich mich frage, ob Sie etwas über die Pläne von Johannes wissen und das ich, wenn das nicht der Fall ist, es Ihnen auch nicht sagen dürfte.“

So ist das also, dachte Ryland und es war viel Verbitterung in diesen vier Worten. Er wusste, dass man ihn hinter seinem Rücken ‚die rechte Hand Gottes‘ nannte, weil er ständig zwischen Oslo – dem Stammsitz der Firma – und Schwerin hin- und herjettete und in allen operativen Belangen die letzten Entscheidungen für die Firma traf. Doch Forschung und Entwicklung unterstanden einzig Johannes Hakonsen und der ließ sich von niemandem in die Karten schauen.

„Nehmen Sie an, ich wüsste, dass N22-B nicht nur eine Basisstation für die Erforschung der Antarktis ist, sondern dass er dort auch an ganz speziellen Waffen forschen lässt, für die hier in Schwerin Teile produziert werden, die auch bei minus einhundert Grad und tiefer voll funktionsfähig sind.“

„Und Sie haben sich nie gefragt, wozu?“

„Hakonsen denkt global und er geht davon aus, dass der nächste Krieg in der Antarktis ausgefochten wird. Das ist aus meiner Sicht logisch, dort gibt es noch jede Menge Rohstoffe, die wir absolut dringend brauchen.“

„Aber gegen wen, Ryland?“

Russen, Amerikaner und Chinesen, wäre die richtige Antwort gewesen. Sie kam Ryland nicht über die Lippen, weil er wusste, dass es nicht stimmte. Längst hatten globale Konzerne wie eben NordicSF die Macht übernommen und wenn es jemals noch Krieg gab, dann war es der zwischen diesen Konzernen. Doch er kannte keinen, der sich auf einen Krieg in der Antarktis vorbereitete und wenn er keinen kannte, gab es auch keinen. Keinen außer NordicSF ... „Ihnen brennt doch etwas auf der Seele“, sagte er.

„In der Tat“, antwortete die Ezra. „Johannes und ich sind da unterschiedlicher Meinung. Ich kann mich nicht durchsetzen und ich fürchte, dass das Folgen haben wird. Damit Sie das verstehen, muss ich etwas weiter zurückgehen.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung. „Vor dreißig Jahren führte Johannes die erste Expedition zum Mount Kirkpatrick durch. Sie scheiterte, weil ein schwerer Sturm heraufzog, der die Expedition zum Umkehren zwang. Meine Analyse besagt, dass es einen Zusammenhang mit einer vorherigen Mikroerdbebenaktivität gab, die in der Natur nicht existieren kann. Stärke zunehmend, ansteigende Intensitätskurve, ähnlich wie die ansteigende Rotationsgeschwindigkeit der Windhose. Als hätte sie die Energie nicht aus der Temperaturdifferenz, sondern aus den tiefen Bodenbewegungen gezogen. Erdbeben entstehen aber durch Masseverschiebungen, zumeist als tektonische Beben infolge von Verschiebungen an Bruchfugen der Lithosphäre, in weniger bedeutendem Maße auch durch vulkanische Aktivität, Einsturz oder Absenkung unterirdischer Hohlräume, große Erdrutsche und Bergstürze sowie durch Sprengungen. Unter dem Transantarktischen Gebirge gibt es aber keine Bruchfuge der Lithosphäre und auch keine vulkanische Aktivität - zumindest keine, von der wir wüssten.

Johannes ging von zwei Prämissen aus: Ersten war er sich sicher, dass sich am Mount Kirkpatrick das Tor zu den parallelen Erden befindet, das Rachmantikow vorausgesagt hat und zweitens, dass jemand vor ihm das Tor gefunden hat und es verteidigt. Doch er ging davon aus, dass es die Russen oder die Amerikaner waren, also jemand von der Erde ...“

„Sie meinen ...“ Ryland fiel ihr ins Wort und sie unterbrach ihre Wanderung. „Dazu komme ich gleich. Hören Sie bitte zu.“ Sie setzte ihre Wanderung fort, mit gesenktem Kopf und herumfuchtelnden Händen. „Jede andere Interpretation verwies er in das Reich der Spekulation. Auch die Tatsache, dass weder Ängström, noch Wielander noch Sie Hinweise darauf finden konnten, dass die Russen oder Amerikaner Anstrengungen in dieser Richtung unternahmen. Vor drei Jahren versuchte er es dann erneut und mit Gewalt. Das Ergebnis war ein biblisches Fiasko. Trotz des Einsatzes modernster Technik kam er nicht näher als fünfzig Kilometer an den Mount Kirkpatrick heran. Diesmal zog ein Sturm auf, der alles, was jemals auf der Erde gewütet hat, in den Schatten stellte. Sie maßen Windgeschwindigkeiten von vierhundert Kilometern pro Stunde. Wahrscheinlich waren es noch mehr, aber weiter reichten die Skalen der Messgeräte nicht. Der Sturm hat die Fahrzeuge mitsamt den Besatzungen einfach davon gewirbelt und Hakonsen musste den Befehl zum Rückzug geben. Die Auswertung der Ergebnisse zeigte, dass es wieder einen Zusammenhang mit Erdbeben gab, die kurz vor Ausbruch des Sturmes ihr Epizentrum unter dem Mount Kirkpatrick hatten.

Drei Monate später brach dann der Mount Erebus aus und auch dieses Naturereignis verlief anders, als ein normaler Vulkanausbruch. Es begann mit leichten Erderschütterungen, die linear stärker wurden und das über einen Zeitraum von zwei Wochen. Dieser Vulkan verhielt sich, als würde jemand einen Ofen anheizen, in dem er eine Kohle nach der anderen ins Feuer wirft. Verstehen Sie? Jeder Idiot hätte mit einem Rechenschieber auf die Minute genau voraussagen können, wann der Ausbruch stattfindet. So etwas hat es noch nie gegeben. Dementsprechend hat es auch nicht einen einzigen Toten gegeben, weil alle rechtzeitig evakuiert werden konnten. Das Ergebnis des Ausbruchs kennen Sie: Die Aschewolken haben die Temperatur der Antarktis ins Bodenlose fallen lassen und machen ihre Beobachtung aus dem All unmöglich, wie eine Tarnkappe. In der Wissenschaft gibt es keine Zufälle, sondern nur schlechte Beobachtungen und falsche Theorien. Marie Ebner-Eschenbach hat einmal gesagt, dass der Zufall das Eintreten der in Schleier gehüllten Notwendigkeit ist und ich sage: Actio gleich Reactio. Moment!“

Sie setzte sich an ihren Computer und Ryland sah Berechnungen über den Monitor fliegen. In ihre konzentrierte Arbeit hinein sagte er: „Sie sagen, wir hätten es hier mit Außerirdischen zu tun? Die durch das Tor gekommen sind?“

Unwirsch antwortete sie. „Ist egal. Das ist vollkommen gleichgültig. Ah, hier ist es. Also passen Sie auf ...“ Sie hob den Kopf. „Der letzte Sturm erfasste eine Fläche von rund fünfundzwanzigtausend Quadratkilometern und reichte bis in die Stratosphäre. Die Luft in diesem Volumen hat ein Gewicht von mehreren Millionen Tonnen. Haben Sie auch nur ungefähr eine Ahnung davon, wie viel Energie notwendig ist, eine solche Masse auf eine Geschwindigkeit von mehr als vierhundert Kilometern pro Stunde zu beschleunigen und diese Geschwindigkeit über Stunden aufrecht zu erhalten? Das schaffen Sie nicht einmal, wenn sie alle zwanzigtausend Kernsprengköpfe, die es auf der Erde gibt, gleichzeitig zünden.“

Die Ezra blickte konzentriert in die Kamera und damit Ryland ins Gesicht. „Jemand, der so viel Energie aus dem Hut zaubern und sie auch kontrollieren kann, hat buchstäblich das Schicksal der Menschheit in der Hand. So einen greift man nicht an, sondern versucht alles Menschenmögliche, um mit ihm zu reden. Aber Ihr Bruder Stephan hatte eine andere Aufgabe von Hakonsen bekommen: Er sollte mögliche Schwachstellen finden, Einfallstore. Stephan war aufgefallen, dass die in den Jahren darauf folgenden Beben einen untypischen Verlauf genommen hatten. Normalerweise gibt es Vorbeben, das Hauptbeben und dann mehrere Nachbeben. Das war unter dem Mount Kirkpatrick, zumindest in den folgenden Jahren, nicht der Fall. Stephan und sein Team maßen Vorbeben, dann das Hauptbeben, aber keine Nachbeben. Seine letzten Messungen, über die wir verfügen, sagen aus, dass das Hauptbeben, bevor es seinen rechnerischen Höhepunkt erreichen konnte, einfach aufhörte. So, als würde es unterdrückt. Ich kann mir vorstellen, wie man ein Erdbeben auslösen könnte, aber ganz sicher nicht, wie man es stoppen könnte.“ Sie stockte einen Moment, dann setzte sie hinzu: „Ich denke, er hat es herausgefunden. Nur hat er es uns nicht mehr mitteilen können.“

Ryland blickte sie mit brennenden Augen an. Die Ezra deutete seinen Blick richtig. „Sie sind kein Wissenschaftler, Ryland. Naturereignisse folgen Gesetzen, und wenn ein Naturereignis anders verläuft, als es die Gesetze vorsehen, kann es dafür nur zwei Gründe geben: Entweder reicht unsere Kenntnis der zugrundeliegenden Gesetze nicht oder es ist kein Naturereignis.“

Ryland straffte sich. „Wer weiß von ihrer Theorie?“

„Wir beide und Johannes Hakonson.“

„Belassen Sie es dabei. Haben Sie Empfehlungen für mein weiteres Vorgehen?“

„Ja. Tun Sie gar nichts. Lassen Sie alles so, wie es ist, und breiten Sie den Mantel des Schweigens darüber. Mich würde das vom wissenschaftlichen Standpunkt zwar sehr interessieren, doch ich sehe keine Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, ohne Menschenleben zu riskieren.“ Die Ezra setzte sich wieder in ihren Sessel, lehnte sich zurück und sah Ryland aufmerksam an.

Ryland schwieg einen Moment, dann sagte er sehr ruhig und leise: „Sie wollen wirklich, dass mein Bruder für nichts wahnsinnig geworden ist?“

„Ich bin nicht so philanthropisch, wie Sie denken. Ihre Antwort impliziert, dass ein Verlust, der beim Versuch der Erlangung von Wissen eingetreten ist, dadurch ausgeglichen werden kann, in dem man einen noch größeren Verlust riskiert. Hauptsache, das Wissen wird gewonnen.“ Wieder flogen ihre weißen Haare nach allen Seiten und ihre Erwiderung kam scharf: „Sie wollen vorgehen wie alle dummen Menschen vor ihnen, die geglaubt haben, die Erlangung von Wissen rechtfertigt den Tod von Menschen. Oder sie wollen ihre persönlichen Rachegelüste stillen oder sie wollen die Macht, die dort wahrscheinlich am Werk ist, für sich selbst nutzen oder ...“ Sie brach mitten im Satz ab, stand auf und streckte die Hand aus, um das Gespräch zu beenden. Doch sie hielt noch einmal inne und näherte sich der Kamera so dicht, dass Ryland nur noch ihre Augen sah. „Ich bitte selten Ryland. Bitte automatisieren Sie die Station, messen Sie, was immer Sie messen wollen - aber schicken Sie keine Menschen mehr dahin. Sie würden sie töten.“

Kalt versetzte Ryland: „Und wenn mir das egal ist?“

„Dann haben Sie das wirkliche Problem nicht begriffen, genau so wenig wie Johannes. Jeder seiner Aktionen dort wurde mit einer stärkeren Gegenreaktion beantwortet. Ich weiß, dass er einen nächsten Schlag vorbereitet. Er geht auf jemanden los, der Erdbeben, Vulkanausbrüche und Stürme kontrollieren kann, aber seine Ressourcen offenbar mit Verstand und lokal begrenzt einsetzt. Ich würde sogar behaupten, er achtet darauf, dass so wenig wie möglich Menschen zu Schaden kommen. Es ist dabei vollkommen gleichgültig, ob es die Russen, die Amerikaner, Außerirdische oder Menschen einer parallelen Erde sind, die verhindern wollen, dass wir das Tor durchschreiten. Ich könnte sie sogar verstehen. Das alles ist vollkommen unwichtig. Wichtig ist nur die Antwort auf die Frage, was von unserer Erde bleibt, wenn Johannes sie mit dem Rücken an die Wand stellt und sie zwingt, ihre ganze Macht einzusetzen. Deswegen wollte ich wissen, ob diese Verbindung sicher ist. Johannes hört in dieser Sache nicht mehr auf mich. Er hat auch nicht auf Ihren Bruder gehört, der es ihm immer wieder gesagt hat. Es gab harte Auseinandersetzungen zwischen den beiden und Stephan wollte Johannes den Beweis liefern, dass man mit ihnen reden kann. Das war der wirkliche Grund, warum er sich entschlossen hat, nach N22-E zu gehen. “

Ryland sah sie nur und sie schloss: „Irgendjemand muss ihn aufhalten, Ryland. Aber wer?“ Die Ezra drückte den Knopf und ließ Ryland vor einem schwarzen Monitor in tiefem Nachdenken zurück.
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