Das Ding aus einer anderen Welt Teil I [überarbeitet]
Vor langer Zeit erdachten sich die Menschen einen Ort voller dunkelrot brodelnder Glut, ewig währender Qual und nie endender Verdammnis. Sie nannten ihn „Hölle“ und wussten doch nicht, dass er schon längst existierte. Nur herrschten in ihm nicht Hitze und Feuer, sondern jedes Jahr sechs Monate Finsternis und Eiseskälte. Sein Name war Antarktika.Bereits am Ufer der Wedell-See sanken die Temperaturen im Winter in eine Tiefe, in der Blut zu Eisklumpen gefror und die Wucht, mit der die Stürme über die transantarktischen Berge rasten, deklassierte jeden Tornado zu einem lauen Sommerlüftchen.
Trotzdem gab es auch hier noch Leben. Kaiserpinguine wackelten wie Soldaten in einem Kreis um ihre Jungen, die putzigen Köpfe zum Schutz vor der Kälte in ihr vom Schnee gepudertes Gefieder gezogen. Mit ihren Leibern verteidigten sie ihre Brut gegen den Orkan, der seit Stunden gegen ihr Bollwerk aus Mut und Selbstaufopferung anrannte.
Über ihnen brach ein Überschallknall die Wolkendecke, ein Stratosphärenlearjet ging in den Unterschallflug. Die Besatzung der Maschine interessierte sich nicht für die Pinguine unter ihnen, dafür umso mehr für das Wetter. Noch war der Sturm kein Problem und die Basisstation hatte gemeldet, dass am Landeplatz nur mäßiger Wind herrschte. Trotzdem waren sie besorgt. Sie wussten, dass die tückischen Fallwinde in den Ausläufern des transantarktischen Gebirges in nur wenigen Minuten schnell einmal zweihundert und mehr Kilometer pro Stunde erreichen konnten. Dem hatte auch ein Learjet im Jahr 2025 im Landeanflug wenig entgegenzusetzen.
Doch sie hatten Glück. Zwanzig Minuten später schwenkte die Pilotin die Triebwerke in die Position für den Vertikalflug. Mit Tränen der Müdigkeit in den Augen beobachtete sie die Anzeige des Höhenmessers. Geleitet von einem Peilsignal, glitt das Flugzeug, auf dem Antriebsstrahl seiner Hubdüsen wie in einem Fahrstuhl nach unten. Das Licht des Hochleistungsstrahlers unter dem Cockpit riss die Basisstation N22-B von NordicSF aus der Dunkelheit. Wie ein schwarzer Krake krallte sie sich mit acht über einhundert Meter langen stählernen Armen aus Stahl in das Millionen Jahre alte Eis unter ihr. Auf dem Dach der Zentralsektion ragten Antennen und Satellitenschüsseln in den Himmel und dazwischen schimmerten die Läufe von Maschinenwaffen.
Der Co-Pilot sagte: „Jedes Mal, wenn wir eine Basisstation anfliegen und ich die Dinger da unten sehe, kriege ich feuchte Hände.“
Die Pilotin nahm die Augen nicht von den Instrumenten. „Da bin ich ja froh, dass Du die Raketenstellungen noch nicht entdeckt hast. Die feuern auf sechzig Kilometer und nehmen dabei die Wärmesignatur unserer Triebwerke als Ziel. Wenn Du die Kanonen siehst, ist schon alles vorbei.“
Den Ruck, mit dem der Learjet auf der Landepiste aufsetzte, spürten sie kaum. Die Pilotin schob die Regler für die Treibstoffzufuhr in die Nullstellung und klingelte die Flugbegleiterin an. „Nicole, Du kannst unserem Kleiderständer sagen, dass wir da sind.“
Sie klopfte auf die Analoguhr in der Instrumentenkonsole. „Einundzwanzig Stunden Nonstop von Schwerin bis zur Weddell-See. Das dürfte ein neuer Rekord sein. Möchte bloß wissen, warum er uns so gescheucht hat.“
Keine Minute später war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie wusste, dass sich das Bodenpersonal um alles kümmern würde.
Ächzend quälte Ryland Mikkelsen seine Einmetersechzig aus dem mit weißem Straußenleder bezogenen Schalensessel. Er wirkte fast so breit, wie er hoch war. Ein grauer, von der Zeit verwitterter Felsblock mit zu vielen tiefen Falten um die Mundwinkel auf zwei kurzen Beinen, quadratisch, praktisch aber alles andere als gut. Ein Kotzbrocken, der seine Aufgaben als Chef der Deutschlandsektion von NordicSF aus seinem Büro im vierzigsten Stock eines Wolkenkratzers im Zentrum von Schwerin erfüllte. Gab es einmal Abweichungen von dieser Normalität, so bezahlte er dafür Männer und Frauen, die sich darum zu kümmern hatten. Viele Männer und Frauen mit vielen Waffen. Und weil er nicht zögerte, sie einzusetzen, gab es nur eine Handvoll Menschen, die ihn mochten und nur genau einen, der ihn liebte: sein Bruder Stephan.
Die meiste Zeit des Fluges hatte Ryland verschlafen, nur hin und wieder aufgeschreckt von den Gedanken daran, was in der Erkundungsstation am Fuß des Mount Kirkpatrick, in der sein Bruder festsaß, vorgehen mochte. Ryland fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. Die Bewegung geschah ohne Absicht, und wie jedes Mal, wenn er das tat und nichts als nackte Haut unter seinen Fingern spürte, brodelte Ärger in ihm hoch. Er hatte gerade mal die sechzig überschritten und besaß trotzdem kein einziges Haar mehr auf dem Kopf.
Er wartete, bis der Teleskoptunnel andockte, die Verbindung zwischen der Ausstiegsluke des Jets und der Station herstellte und ihn vor der Kälte der Antarktis schützte. Er warf einen Blick auf seine Omega. Sie zeigte zwei Uhr in der Nacht. Er hatte dem Team jede Ankündigung seiner Ankunft verboten und so empfing ihn statt des Stationskommandanten nur sanfte grüne Leuchten der auf Nachtbetrieb geschalteten LED-Lampen im dunkelgrauen Silikatfußboden.
Kaum hatte Nicole ihm die Luke geöffnet, stampfte Ryland los. Als er um eine Ecke bog, wäre er um ein Haar gegen zwei Männer in den orange-blauen Arbeitskombinationen der Firma gerannt.
Der Größere, in dessen Gesicht ein Bart spross, der aussah, als hätte er bereits vor drei Tagen einen Rasierer gebraucht, hielt Ryland fest. „Was bist du denn für eine Witzfigur, Kumpel? Wenn der Chef dich in diesem Karnevalsaufzug sieht, macht er Hackfleisch aus dir.“
„Lassen Sie meinen Arm los, sofort!“
Der Mann grinste. „Pass mal auf, du Wurzelzwerg, hier gibt es Regeln und Vorschriften, also komm mir nicht komisch! Ich tue dir nur einen Gefallen.“
Ryland schaute erst die Hand auf seinem Arm an und dann mit Eis in den Augen seinem Gegenüber ins Gesicht. „Diese Sicherheitsbestimmungen tragen meine Unterschrift. Falls Sie das nicht glauben, können Sie gerne zum Stationsleiter gehen und ihn fragen. Er wird Ihnen außerdem mitteilen, dass der Wurzelzwerg Ihre Arbeitsperiode gerade um einen Monat verlängert hat. Danach führt Sie Ihr Weg an einem Rasierapparat vorbei, den Sie auch benutzen werden. Und jetzt nehmen Sie Ihre Hand von meinem Arm und gehen mir aus dem Weg!“
Röte schoss dem Mann ins Gesicht, er öffnete den Mund und Ryland fauchte: „Zwei Monate. Und wenn Sie jetzt nicht endlich den Weg freigeben, werden Sie hier auch beerdigt!“
Er verfiel wieder in seinen Eilschritt. Nach zehn Metern lief ihm der Stationsleiter Tarje Boe über den Weg. Er wischte sich die Schlafreste aus den Augen, doch bevor er ein Wort sagen konnte, hob Ryland seine Hand. „Sie kommen später dran. Ich will erst mit Stephan sprechen und danach sehe ich mir Ihre Station an.“
Ryland stürmte weiter und riss die Tür zur Zentrale auf. Nach einem Rundblick postierte er sich neben dem Techniker vom Dienst. „Machen Sie mir sofort eine Verbindung zur Erkundungsstation!“ Er setzte sich neben ihn an ein Terminal und tastete zwischen seinen Beinen umher.
„Wenn Sie die Höhenverstellung suchen - die ist bei dem Modell an der linken Seite.“ Der Techniker hatte ein Feixen im Gesicht.
Ryland ruckte mit dem Kopf herum. „Ihr Name?“
„Erasmus Bjoerndahlen.“
„Also Bjoerndahlen, wenn nicht in zwei Minuten auf diesem Terminal, vor dem ich jetzt sitze, das Gesicht meines Bruders auftaucht, wird sich Ihre Frau für das nächste halbe Jahr einen Liebhaber suchen müssen.“
Er betrachtete den Mann von oben bis unten und schürzte die Lippen. „Wenn Sie zu Hause auch so schlampig rumlaufen, wie hier im Dienst, hat sie das wahrscheinlich sogar schon getan. Möchten Sie mir noch irgendwelche anderen Ratschläge geben?“
Bjoerndahlen riss die Augen auf, dann machte er sich an seiner Konsole zu schaffen. Ryland drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Kontrollraum schweifen. Die Zentrale der Basisstation N22 repräsentierte das Ergebnis dessen, wofür er arbeitete. Sie strahlte die Macht aus, die er von seinem Chefsessel nur fühlte, aber nie sah. Ähnlicher dem Kontrollraum eines Atomkraftwerks als dem Mittelpunkt einer offiziell als Forschungsbasis bezeichneten Kommandozentrale, blinkten hier Lichter, die meisten davon in Grün und ein Heer von Konsolen und Kontrollmonitoren warteten darauf, ihm zu dienen.
Hier liefen alle Fäden und Erkenntnisse zusammen, von hier traf man Entscheidungen, setzte sie um und wertete die Ergebnisse aus. Fand eine der Erkundungsstationen Erdöl, brach hier die Hölle los und die Zentrale verwandelte sich in ein Tollhaus. Angestellte wimmelten wie Ameisen durcheinander, Männer und Frauen brüllten Anweisungen oder führten sie aus, je nachdem, an welchem Platz der Befehlskette sie standen - einer Rangordnung, die er, Ryland, bestimmte. Fast jede Woche sah er in seinen Statistiken, dass der Ölpreis neue Rekorde aufstellte und wer immer eine Lagerstätte fand, wurde zum Gejagten. Für Ryland war es ein nur allzu vertrauter Zustand, denn sie fanden immer Öl. Im Firmennamen stand das „SF“ für „search and find“ und Ryland fühlte Stolz in sich aufsteigen, als er daran dachte, dass auch dank ihm das „find“ fast schon eine Garantieerklärung war. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er nicht nur auf einer Panzerung, sondern auch auf einer Bewaffnung der Basisstation bestanden.
Es gab gute Gründe dafür, so und nicht anders zu handeln. Die Horrorvision, die Ruud Ängström vor mehr als dreißig Jahren im Gespräch mit Thore Wejndahl und Johannes Hakonsen skizziert hatte, drohte, Realität zu werden. Ölknappheit zog am Horizont herauf. Alternative Energieträger stellten zwar einen großen Teil der stationären Stromversorgung und die Kurzstreckenmobilität sicher, aber für alles, was größer war als ein Lastkraftwagen, reichten die Akkumulatoren nicht. Schiffe, Flugzeuge und das Militär waren nach wie vor auf Öl angewiesen, die Großindustrie ohnehin. Ohne Plastik funktionierte so gut wie gar nichts in der Welt und das wurde aus Erdöl gewonnen. Mit Johannes Hakonsen hatte Ängström einen genialen Wissenschaftler gefunden, der die Zeichen der Zeit genauso erkannt hatte wie Ängström. Beide hatten zusammen nicht nur ein weltweites Finanzimperium aufgebaut, sondern hatten auch eine Rohstofferkundungsbasis geschaffen, die auf der ganzen Erde Ihresgleichen suchte.
Nach dem Tod Ängströms hatte Hakonsen alles übernommen und in einem seiner ersten Schritte auf jedem Kontinent eine Zentrale wie diese hier errichten lassen. Gepanzert, autark, mit modernsten, aber versteckten Waffen vollgestopft, liefen in ihnen alle Fäden von Hakonsens Imperium zusammen. Entscheidungen wurden nach wie vor in der riesigen Zentrale in Oslo getroffen, aber die Grundlagen dafür wurden in solchen Basisstationen geschaffen. Ryland hatte sie entwickeln lassen, ihren Einsatz in der Firmenleitung durchgedrückt, und ihm verdankte es Hakonsen, dass die Gewinne stetig stiegen.
Am liebsten wäre Ryland im Raum umhergegangen, um alles mit seinen Händen zu berühren oder eine Aktion auszulösen. Fast hätte er es tatsächlich getan, aber gerade, als er die Beinmuskeln anspannte, um aufzustehen, stellte Bjoerndahlen die Verbindung her.
„Was machst Du denn hier?“, Stephans Stimme klang, als hätte er Whisky getrunken und Ryland drehte seinen Stuhl zurück zum Monitor. Stephan trank niemals.
„Moment, Stephan.“ Er schoss einen Blick zu Bjoerndahlen und erst, als der Techniker seinen Stuhl zurückstieß und den Raum verließ, blickte Ryland wieder auf den Bildschirm. Die Falten in Stephans Gesicht, die vor Wochen noch nicht da gewesen waren und Tränensäcke unter den Augen sagten Ryland mehr über den Zustand seines Bruders, als der ihm je erzählen würde.
Was passiert da bei Euch, dachte Ryland und bemühte sich, sein Erschrecken nicht zu zeigen. „Ich habe die Berichte über Eure Forschungen gelesen und das, was Euer Arzt über Euch kommentiert hat. Deswegen will ich mal nach dem Rechten sehen. Du siehst schlecht aus, Stephan.“
„Wir sehen alle nicht gut aus. Wir wissen nicht, woher dieses Signal kommt und nichtmal, ob es natürlich oder technisch ist. Nur, dass es irgendwo hier aus der Nähe kommen muss. Es begann mit Ultraschallstoßwellen aus dem Erdinnern, aber in einer Modulation und Frequenz, die einfach nur idiotisch ist. Sämtliche Strahlungsdetektoren, egal ob UV, Infrarot, Röntgen, Gamma und was wir hier auch immer haben, zeigen Normalwerte. Trotzdem denkt hier jeder, dass wir irgendeiner Strahlung ausgesetzt sind, aber wir können sie nicht einmal anmessen. Du hast die Ergebnisse der Messreihen gesehen, wir überwachen rund um die Uhr, zeichnen alles auf, aber - nichts.“
Stephan holte Luft und rückte an den Monitor heran. „Noch zwei oder drei Tage, und wir sind so mit den Nerven am Ende, dass wir uns wahrscheinlich gegenseitig an die Gurgel gehen und keiner kennt den Grund dafür. Was immer es auch ist, ich habe das Gefühl, das uns jemand zu Versuchskaninchen macht und irgendwie in unseren Gehirnen rumpfuscht.“
Er hob die Hand. „Warte mal!“, drehte seinen Kopf weg vom Monitor und Ryland hörte, wie Stephan einer Person im Hintergrund Fragen stellte. „Wie, der Infrarotscanner sagt, da kommt etwas auf uns zu? Wir sind fast am Südpol in über dreitausend Metern Höhe, bis hierher kommt auch kein verdammter Pinguin. Hier lebt nichts außer Bakterien. Was soll das sein?“
Als Antwort hörte Ryland nur Gemurmel, dann polterte wieder die Stimme seines Bruders: „Wenn das Radar nichts zeigt, dann nimm den Infrarotscanner auseinander. Der spinnt. Da draußen kann nichts sein, das wärmer als minus sechzig Grad ist. Entweder, du bist zu blöd, das Ding zu bedienen oder der spinnt wie schon die letzten drei Tage, das sage ich dir.“
Er wendete sich wieder zu Ryland. „Entschuldige aber ich sagte ja, unsere Nerven ...“
Ryland bemühte sich, Ruhe auszustrahlen und nichts von seiner Anspannung in seinem Gesicht zu zeigen. Er hatte Stephan noch niemals fluchen hören. „Was ist denn?“
„Der Wärmebildgeber hat hat offenbar seinen Geist aufgegeben. Er sagt uns, dass da ein Lebewesen in der Größe eines Menschen auf uns zukommt, und zwar ziemlich schnell. Warte, ich versuche, ob ich den Kanal zu Euch durchst...“
Das Bild auf dem Monitor begann zu flackern, verzerrte sich, der Ton ging in Rauschen über und im nächsten Moment gähnte Ryland Schwärze an, wo zuvor noch das Gesicht seines Bruders gewesen war. Einen Augenblick tat Ryland gar nichts. Dann brüllte er: „Bjoerndahlen!“
Der Techniker und auch der Stationsleiter hatten vor der Tür gewartet. Es dauerte nur Sekunden, bis sie hereinstürmten. Bjoerndahlen raste zum Kontrollpult und drückte mit seinen Fingern auf irgendwelchen Tasten herum. Ryland behielt ihn im Blick. „Bricht die Verbindung öfter ab?“
„Niemals!“ Tarje Boe schüttelte den Kopf. „Die Funkverbindung kann nicht ausfallen. Der einzige Grund, warum die Satellitenverbindung zusammenbrechen könnte, wäre ein Sonnensturm. Seit gestern hat die alte Dame sich aber wieder einigermaßen beruhigt. Selbst wenn sie noch immer die Atmosphäre ionisieren würde, hätte das System automatisch auf Kurzwellenfunk umgeschaltet, dann hätten wir zwar kein Bild, aber zumindest einen Ton.“
Bjoerndahlen richtete sich hinter seinen Geräten auf. Sein Gesicht hatte die Farbe von Kreide. „Das Peilsignal ist auch weg!“
Die Hautfarbe des Stationsleiters ähnelte der von Bjoerndahlen. „Haben Sie das alles überprüft?“
Der nickte. „Doppelt und dreifach, Chef. Alle Geräte sind in Ordnung. Die Ursache muss in der Erkundungsstation liegen. Wir empfangen nicht die leiseste Schwingung von da.“ Er zeigte auf den Monitor. „Alle Bauteile dort sind redundant, wenn eines ausfällt, springt automatisch die Backupbaugruppe ein. Das Peilsignal ist sogar dreifach abgesichert. Es ist ein sekündlicher Kurzwellenimpuls und um ihn zu unterdrücken, müsste man den Sendemast sprengen. Selbst dann würden wir es noch empfangen, weil es in dem Fall sofort automatisch über die Notantenne der Station umgeleitet wird und um auch das zu verhindern, müsste man der Station einen ganzen verdammten Planeten aufs Dach schmeißen.“
„Wollen Sie ...“ Ryland wollte aufbrausen, aber der Stationsleiter unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
„Machen sie sich keine Sorgen. Bjoerndahlen hat das zwar drastisch formuliert, aber im Prinzip stimmt das. Sie haben die Spezifikationen von N22-E selbst genehmigt. Die Wände sind aus Silizit-Dualphasenstahl in einer Doppelwabenstruktur hergestellt und die Zentrale ist noch einmal extra verstärkt. Außer einem Atomschlag und einem Thermitbrenner gibt es nicht viel, was eine solche Wand durchbrechen kann. Es kann sich nur um ein technisches Phänomen handeln.“
Ryland dachte nach. Aus seiner Sicht hatte der Stationsleiter recht und niemand hätte sich Sorgen machen müssen. Doch Ryland gab viel auf seine Intuition und die schlug Alarm. Er fasste einen Entschluss. „Tarje, in spätestens fünfzehn Minuten will ich in der Luft sein. Alarmieren Sie das Sicherheitsinspektionsteam, dazu den Stationsarzt und ich will, dass die Bordwaffen voll aufmunitioniert werden!“
„Aber wenn ...“
„Muss ich in diesem verdammten Laden erst laut werden, bevor Ihr aufhört zu denken und einfach nur Befehle ausführt? Fünfzehn Minuten! Bewegen Sie ihren Arsch, Mann, und zwar jetzt!“
Tarje Boe riss die Augen auf, dann drehte er sich um und rannte los.
„Und besorgen Sie mir endlich einen Kälteschutzanzug!“ Ryland rief es dem Stationsleiter hinterher.
*
Ryland saß hinter den beiden Piloten und mit jedem Kilometer, den der schwarze Mi-42 Spezialhubschrauber mit dem orangeblauen „NordicSF“ an den Seiten zurücklegte, stieg sein Puls. Er ließ die Piloten mit Höchstgeschwindigkeit durch die Polarnacht jagen und es interessierte ihn nicht, dass sie der Treibstoffverbrauch zum Nachtanken an der Erkundungsstation zwingen würde.
Hakonsen hatte sie nach dem Fiasko der letzten Expedition zum Mount Kirkpatrick bauen lassen. Vor zwei Jahren war sie noch spektakulärer gescheitert als die Erste, dreißig Jahre zuvor. Trotz des Einsatzes modernster Technik waren sie nicht näher als fünfzig Kilometer an den Mount Kirkpatrick herangekommen. Diesmal war ein Sturm aufgezogen, der alles, was jemals auf der Erde gewütet hatte, in den Schatten gestellt hatte. Sogar aus dem Weltraum war er zu sehen gewesen. Er hatte die Fahrzeuge mitsamt den Besatzungen einfach davon gewirbelt und Hakonsen hatte den Befehl zum Rückzug geben müssen. Doch seine Idee, dass das Tor zu den parallelen Erden sich irgendwo am Mount Kirkpatrick befand, wollte er nicht aufgeben. Dass offenbar jemand von „draußen“ den Zugang verwehrte, schien im klar. Das „Wer“ und das „Warum“ interessierten ihn nicht, sondern nur, wie er sich den Zugang erzwingen konnte. Seine Firma NordicSF war ein global Player und seine finanziellen Möglichkeiten erlaubten es ihm problemlos, von den Russen einen Satelliten in einen geostationären Orbit direkt über dem Mount Kirkpatrick schießen zu lassen. Drei Monate lang wertete ein Team, dass Hakonsen nur dafür zusammengestellt hatte, jedes Bit an Information aus, dass der Satellit liefern konnte. Dann brach der Mount Erebus aus.
Er war einer von vier Vulkanen, die zusammen die Ross-Insel bildeten, ein Eiland an der Küste der Antarktis. Ohne jede Vorwarnung war die Spitze des über dreitausend Meter hohen Berges auseinandergeflogen, ein pyroklastischer Strom aus mehr als fünfhundert Grad heißer Asche war fast mit Schallgeschwindigkeit die Flanken des Mount Erebus hinabgerast und hatte erst alles unter sich begraben, was ihm im Weg gewesen war, und dann verdampft. Kilotonnen Asche waren in den antarktischen Himmel geschleudert worden, mit weit mehr Eisen- und Nickelpartikeln angereichert, als bei anderen Vulkanen. Die Aschewolken hatten sich in der Stratosphäre über dem magnetischen Südpol gesammelt und lagen wie eine Glocke mit einem Durchmesser von über viertausend Kilometern über der Antarktis.
Seit der Explosion waren zwei Jahre vergangen und in dieser Zeit waren die durchschnittlichen Temperaturen unter der schwarzen Glocke um fast zwanzig Grad gefallen und sie fielen weiter. In der russischen Antarktisstation Wostok hatte man im Juni 2024 einhundertzwölf Grad gemessen – mit einem Minuszeichen davor.
Alles, was Hakonsen noch hatte tun können, war, dem Berg eine mit den modernsten Messgeräten vollgestopfte Erkundungsstation vor die Nase zu setzen. Vor knapp drei Wochen hatten diese Messgeräte einen ungewöhnlichen Ausbruch von Ultraschallwellen aufgezeichnet. Hakonsens Chefgeologe Stephan Mikkelsen war mit seinem Team zur Station aufgebrochen, um der Ursache dafür auf den Grund zu gehen.
Wieder blickte Ryland auf seine Uhr. Noch zwei Stunden musste er die Ungewissheit aushalten. Er erinnerte sich an den Moment, als er das erste Mal in einem solchen Hubschrauber gesessen und hinter Stephans Rücken den Anflug der Maschine auf eine Erkundungsstation verfolgt hatte. Der Geruch von Kerosin, Abgasen und Waffenöl hatte ihm das Atmen schwer gemacht und das Dröhnen der Turbinen seine Zähne vibrieren lassen. Das hatte sich in sein Gehirn eingebrannt und in diesem Augenblick hatte Ryland begonnen, zu träumen. Nein, nicht einen solchen Helikopter zu fliegen, aus dem Alter, in dem er Kinderfantasien nachhing, war er heraus. Aber er wollte bestimmen, wann, wo und gegen wen diese Hubschrauber eingesetzt.
Schon als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen und der große und besonnene Stephan hatte den kleinen und aufbrausenden Ryland aus so mancher Bredouille herausgehauen. Zwar hatten sich ihre Wege getrennt, als Stephan sich für die Geologie und Ryland sich für die Kriminalistik entschieden hatte, aber auch in späteren Jahren hatten sie ihren Kontakt nie verloren.
Stephan beriet mittlerweile als Chefgeologe und enger Berater Johannes Hakonsen, der die Firma seit dreißig Jahren führte. Und Stephan war auch der Mensch, mit dem Ryland diesen Traum teilte: NordicSF zu DEM globalen Player im Erdölgeschäft zu machen unter der Führung von Mikkelsen & Mikkelsen.
„Wir haben wieder Funkkontakt!“ Die Stimme des Kopiloten in Rylands Kopfhörer klang aufgeregt.
Augenblicklich schaltete sich Ryland in die Verbindung, aber er vernahm nichts außer Rauschen und Knackgeräusche. Er rief die Station, aber niemand antwortete ihm.
„Warum höre ich nichts?“ Er klopfte dem Kopiloten auf die Schulter.
„Das weiß ich nicht. Die Funkverbindung steht jedenfalls und das Peilsignal ist auch wieder da. Wir haben gerade eben darauf eingeschwenkt. Wenn niemand antwortet, dann ist keiner in der Zentrale.“
„Rufen sie weiter. Die Zentrale ist immer besetzt. Die Basisstation soll es ebenfalls versuchen. Irgendjemand muss doch antworten!“
Der Kopilot nickte. “Verstanden.“
Ryland verfolgte, ohne sich einzumischen, wie die Besatzung versuchte, eine Antwort auf ihre Rufe zu erhalten. Immer wieder blickte er auf die Uhr, und wenn er nicht gewusst hätte, dass sie bereits mit der Maximalgeschwindigkeit flogen, hätte er den Piloten angefaucht. Doch sie waren gute Männer, die besten, die man für Geld bekommen konnte und er ließ sie ihre Arbeit machen.
Ryland drehte sich nach hinten zu den vier Männern des Sicherheitsinspektionsteams und schaltete auf den allgemeinen Kanal. „Ich norde sie jetzt in die Lage ein, damit sie im Notfall auch selbstständig handeln können. Als die auf Automatik geschaltete Erkundungsstation N22-E in den transantarktischen Bergen vor drei Wochen das erste Mal die Ultraschallstoßwellen empfing, glaubten wir an eine seismische Anomalie. Die Wellen wiesen jedoch eine ungewöhnliche Charakteristik auf und die Geologen der Firma bestanden auf einer genauen Untersuchung. Seitdem versucht mein Bruder, zusammen mit vier anderen Wissenschaftlern herauszufinden, was es damit auf sich hat. Die Berichte über die Ergebnisse der durchgeführten Messreihen, die er seitdem schickt, klingen nicht nur entmutigend, sondern mehr und mehr besorgniserregend. Nicht nur das. Etwas verändert die Männer dort, und ihre medizinischen Daten haben sich von Tag zu Tag verschlechtert.
Mein Bruder lässt sich durch nichts aus der Bahn werfen, und wenn selbst seine medizinischen und vor allem psychischen Parameter von der Norm abweichen, muss in der Erkundungsstation etwas aus dem Ruder gelaufen sein. Stephan besitzt mehr als genug Polarerfahrung, Außentemperaturen von minus sechzig Grad und Stürme mit mehr als zweihundert Stundenkilometern sitzt er auf einer Backe ab. Etwas passiert da draußen, vor dem unsere Technik und unsere hochgezüchteten Messgeräte kapitulieren. Jetzt ist jede Kommunikation zur Station zusammengebrochen und wir fliegen hin, um herauszufinden ob etwas und wenn ja, was da passiert ist. Weitere Informationen bekommen Sie, sobald ich selbst welche habe.“
Ryland nickte den Männern kurz zu. Sollten sie sich selbst ihren Reim darauf machen.
Sie überflogen einen Bergrücken und hatten noch ungefähr dreißig Kilometer vor sich, als die Geräte die Station erfassten. Der Helikopter hangelte sich an ihrem Radarkontakt wie an einer Schnur durch die Finsternis und flog nur nach den Instrumenten. Die visuelle Sichtweite durch die Panzerglasscheiben lag bei null. Noch flogen sie ohne Suchscheinwerfer.
„Noch ein Kontakt!“
Der Ruf des zweiten Piloten riss Ryland fast aus dem Sitz. „Wo?“ Er beugte sich nach vorn.
Der Kopilot markierte mit seinem Finger einen rötlichen Punkt auf dem Monitor der Infrarotkamera. „Geschwindigkeit zwischen dreißig und vierzig Kilometern pro Stunde, gleichbleibend, Größe ungefähr zwei Meter, entfernt sich von der Station.“
Ryland registrierte die Information und schüttelte den Kopf. „Einer der Rover der Station?“
„Zu klein“, erwiderte der Co-Pilot. „Kontakt verloren!“ Aus seiner Stimme klang Erstaunen.
„Hat es sich in Luft aufgelöst oder was?“
„Ich weiß es nicht. Wir haben es fünfhundert Meter verfolgt, dann ist es verschwunden. Keine Geländeerhöhung dazwischen.“
„Was kann das gewesen sein?“
Der Kopilot zuckte die Schultern. „Der Größe nach ein Mensch, aber niemand läuft im Schnee mit der Geschwindigkeit eines Sprinters. Tiere gibt es da draußen keine mehr, und selbst wenn sich ein Pinguin als Bergsteiger betätigt haben sollte, wäre er nicht auf dem Radar aufgetaucht auf diese Entfernung. Fünfzig Meter vor der Station gibt es noch einen Radarkontakt. Zwei mal drei Meter. Unbeweglich.“
Die Lippen zusammengekniffen, beobachtete Ryland das Radarbild und grübelte, was er als Nächstes tun sollte. In den letzten Jahren hatte er seine Zeit mehr an seinem Schreibtisch und in Meetings verbracht als im Außendienst. Er wusste, dass er sich und Stephan keinen Gefallen tat, wenn er hier als Amateur die Sache versaute. Für Situationen wie diese bezahlte die Firma die Sicherheitsinspektionsteams, kleine, bewaffnete Gruppen, die aus ehemaligen Elitesoldaten bestanden. Sie waren Profis, wurden nur „SITs“ genannt und vier davon saßen hinter ihm in der Maschine. Er hätte sich zwar gewünscht, dass nicht ausgerechnet Ragnar Borg der Teamleiter gewesen wäre, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.
Ryland drehte seinen Kopf und blickte den groß gewachsenen Mann mit dem Bürstenhaarschnitt an, der direkt hinter ihm saß. „Borg, ich denke, ab hier sollten Sie übernehmen.“
Als Antwort erhielt Ryland nur ein kurzes Nicken und gleich darauf hörte er die entspannt klingende Stimme von Borg in seinem Kopfhörer. Der Teamchef des SIT hatte auf die allgemeine Welle geschaltet, sodass die Piloten, das Sicherheitsteam und auch die Leute in der Basisstation mithören konnten.
„Also, unser Ziel ist die Erkundungsstation. Fünf Zivilisten sollten sich darin befinden. Ihr Status ist unbekannt. Niemand in der Station antwortet auf unsere Rufe und damit verfügen wir über keinerlei Informationen. Wir haben einen bestätigten unbeweglichen Radarkontakt fünfzig Meter vor der Station, und wir hatten ein unbekanntes Objekt, das offenbar die Station verlassen und nach fünfhundert Metern im offenen Gelände verschwunden ist. An dieser Stelle werden wir hinausgehen. Es existieren keine Anzeichen von Feindaktivitäten, trotzdem will ich eine Sicherheitsformation und ständigen Sichtkontakt. Wir arbeiten mit eingeschalteten Nachtsichtvisieren im Passivmodus, Licht nur auf meinen Befehl. Der Hubschrauber geht nach dem Absetzen wieder hoch, hundert Meter Standschwebe und mit aktiven Sensoren. Der Doc bleibt an Bord, bis wir ihn brauchen, was ich nicht hoffen will. Ryland?“
„Ich komme mit raus!“
„Dann bleiben Sie hinter uns und befolgen meine Anweisungen. Für alle: Jede Statusänderung will ich sofort erfahren und wenn es auch nur eine Schneeflocke ist, die hustet. Die Waffen bleiben so lange gesichert, bis ich etwas anderes befehle. Serge?“
„Captain?“ Die Antwort des Piloten kam sofort.
„Bevor wir den Absetzpunkt ansteuern, will ich einen Aufklärungsflug um die Station. Zehn Kilometer Radius.“
„Hakonsen hat alles in einem Radius von fünfzig Kilometern um den Mount Kirkpatrick zum gesperrten Gebiet erklärt.“
„Und Sie meinen, ich wüsste das nicht? Borg Ende!“
„Aufklärung, zehn Kilometer Radius, verstanden.“ Der Pilot schaltete die allgemeine Welle ab. Er drehte seinen Kopf zum Co-Piloten. „Ich gehe auf Stealth. Geh die Checkliste für die Notfallturbine und die Prallkissen durch. Vor zwei Jahren haben sie hier mehr als vierhundert Kilometer pro Stunde Windgeschwindigkeit gemessen. Das pflückt uns aus dem Himmel wie eine faule Apfelsine.“
Er blickte wieder auf seine Instrumente und seine Stirn furchten Sorgenfalten.
wird fortgesetzt ...