Trotz allem – Freiheit
Das ganze hat als Geschichtenspiel-Beitrag begonnen und mein Liebster wollte wissen wie es weitergeht. Hier der erste Teil ...Trotz allem – Freiheit
Welchen Zyklus haben wir? Wie viele sind vergangen, seit ich hier bin? Es ist schon sehr lange her, seit ich Tageslicht gesehen habe. Was ist das überhaupt? Wie fühlt sich Licht an, Wind? Ich kenne nur Düsternis und Schwüle. Es ist so verdammt heiß in diesen verfluchten Minen. Warum bin ich überhaupt hier? Und wer zur Hölle bin ich? Hier habe ich nur eine Nummer. Ich bin 152.370. Einsfünfzwopunktdreisiebzig.
Es sind noch andere hier. Wie viele genau kann ich nicht sagen. Tag und Nacht immer das gleiche Licht. Was ist Tag? Was Nacht? Es gibt nur Arbeits- und Schlafzyklen. Diese wiederholen sich in unregelmäßigen Abständen. Gerade, wie es den Wächtern gefällt. Langsam werde ich verrückt. Ich fühle, wie mein Verstand auf Abwege gerät. Er ringelt sich wie eine Schlange ein, verzieht sich in den letzten Winkel und schnellt dann schreiend hervor. Es ist die Routine, diese verfluchte Eintönigkeit, die mich weiter machen lässt. Nach Erz graben. Pickel in den Fels schlagen. Steine schleppen. Gebeugte Rücken.
Ein Peitschenhieb schickt mich zu Boden. Schon wieder bin ich zu langsam. Warum fühle ich den Schmerz noch? Eigentlich müsste ich schon taub sein dagegen. Ich bin übersät von zum Teil verheilten und noch frischen Narben.
Endlich ist der Schlafzyklus da. Wieder einmal sehr viel später als gewöhnlich. Ich rolle mich auf dem kalten Boden zusammen. Der Hunger lässt mich nicht schlafen. Ist es der Hunger nach Nahrung oder der nach Freiheit? Warum bin ich hier? Diese Frage lässt mich nicht los. Warum habe ich das gedacht? Ich wünschte, ich hätte was zum Schreiben? Was zur Hölle ist schreiben? Schreiben kann doch nur die Elite! Ich bin ein Sklave. Sklaven schreiben nicht. Sind bestenfalls infantil, hier nur noch stupid – Tiere, oder weniger als das. Warum denke ich solche Sachen? Ich bin ein Sklave, eine Nummer! Keiner sollte eine Nummer sein, austauschbar.
Im fahlen Fackellicht sehe ich kränkelnde Gestalten vorbei humpeln. Für sie hat der Arbeitszyklus begonnen. Ich bin froh, dass ich nicht zu ihnen gehöre. Warum gehöre ich nicht zu ihnen? Was ist los mit mir?
Endlich schlafe ich doch ein. Ein lautes Signal lässt mich hochfahren. Der Schlafzyklus ist beendet. Mühsam rapple ich mich auf, schleppe mich in die Reihe. Jemand drückt mir einen Becher mit heißem Wasser und ein Stück Zwieback in die Hand. Die Ration des Tages. In einigen Tagen brauche ich das nicht mehr, dann bin ich tot. Es ist ein Ende absehbar. Niemand überlebt die Minen. Niemand!
Plötzlich fühle ich, dass es so nicht geht. Unter Schmerzen richte ich mich auf. Streiche das wirre Haar aus dem Gesicht und starre den Wächter direkt an. Das ist bei Strafe verboten. Es reicht! Ich habe die Schnauze gestrichen voll! Auch Sklaven haben Rechte! Das will ich sagen. Aber ich habe die Sprache verloren. Das einzige, das mir geblieben ist – Gedanken. Die konnten sie mir noch nicht nehmen, diese verdammten Peitschenschwinger. Ich starre weiter. Der Wächter ist so erstaunt, dass er zuerst nicht reagiert. An seinen Augen sehe ich allmählich ein Erkennen. Er kennt mich! Und nicht nur meine verdammte Nummer. Wer zum Teufel bin ich?
Ich hebe den Becher, reiche ihn zurück. Als er ihn nicht nimmt, leere ich das Wasser auf seine Stiefel. Ganz langsam. Provokant. Die anderen Sklaven starren nun mich an. Endlich reagiert er. Die Gerte trifft mich am Gesicht. Aber mir entkommt kein Schrei. Ich starre ihn weiter an. Das Blut tropft langsam über die Wangen, das Kinn und dann zu Boden. Bevor er einen zweiten Schlag landen kann, fasse ich ihn am Handgelenk. Langsam biege ich seinen Arm nach unten. Schweiß mischt sich mit Blut. Ein Brennen durchfährt mich, als ich am Rücken von Peitschenhieben getroffen werde. Ich lasse nicht los. Kralle mich am Gegenüber fest. Sollen sie mich doch töten! Besser jetzt als in zwei Wochen an Hunger sterben. Was sind Wochen?
Ich hole tief Luft und schreie meine Gedanken hinaus: „Wer zum Teufel bin ich!“ Selbst ich erschrecke, als ich mich höre. Die anderen erstarren. Sogar die Luft scheint den Atem anzuhalten. Anscheinend wissen die Wächter sehr gut, wer ich bin. Nur sind sie getreu der Weisung unterwegs: Nichts hören, nichts sehen, nichts wissen! Aber sie wissen sehr gut. Sie wissen alles. Sind aber so voller Angst, dass sie die Klappe halten und wegsehen oder zuschlagen. Sadisten allesamt. Ich spuke aus.
Zorn und Schmerz sitzen ganz tief in der Brust und brechen sich nun Bahn. Die Schläge ignorierend stürze ich mich auf den Mann mit der Gerte und ringe ihn nieder. Es ist erstaunlich, dass die Sklaven nur zusehen. Oder vielleicht ist es das auch nicht. Was ich hier abziehe ist reiner Selbstmord. Ich hätte mir auch die Pulsadern aufschneiden oder neben einer gezündeten Sprengladung stehen können. Es wäre auf das gleiche rausgekommen.
Ich entreiße dem Wächter die Gerte und schlage auf ihn ein. Auf mich hageln weiter Peitschenhiebe ein. Ich fühle die Haut platzen. Blut, Schweiß und Dreck vermischen sich. Ich brenne in der Hölle – von innen heraus. Nein! Ich bin die Hölle! Das heißeste Feuer. Auch ich schreie. Drehe mich um, und will nun auf die anderen losgehen. Dann schlägt mir jemand etwas auf den Kopf. Ich sehe Sterne. Freue mich darüber. Dann – nichts.
Als ich zu mir komme, stelle ich fest, dass ich mich an einen anderen Ort befinde. Das hier sind nicht die Minen, denn ich liege nicht auf kaltem Stein, sondern auf einer Pritsche. Ich bin verwirrt. Vielleicht bin ich noch bewusstlos. Ich versuche aufzustehen. Sofort meldet sich Schwindel und lässt mich zurückfallen. Mir wird schlecht.
Ich weiß nicht wo ich bin, ich weiß nicht wer ich bin. Ich kenne nur meine Nummer 152.370. Einsfünfzwopunktdreisiebzig. Oder habe ich einen Namen, wie die Freien? Neben mir am Boden liegt etwas. Ich starre das Ding an. Nach einer Weile kann ich es identifizieren. Es ist ein Blatt Papier. Darauf liegt ein Stift. Ich greife danach. Dann schreibe ich einen Namen. Ob es meiner ist, weiß ich nicht.
„Kpt. Silvo Karmin, Alpha-Star.“
Ich starre auf den Namen. Alles dreht sich. Erinnerung! Warum habe ich keine Vergangenheit? Alles scheint ausgelöscht, so als hätte es mich vor der Mine nicht gegeben. Warum kann ich schreiben? Warum bin ich hier in dieser Zelle und nicht tot? So viele Fragen und keine Antworten.
Ich weiß nicht, wie ich mich legen soll. Der Rücken brennt wie Feuer. Ich spüre, wie die Haut in Fetzen runter hängt. Jeder Knochen, jeder Muskel, ja jede Faser schmerzt. Nur mit Mühe kann ich mich bewegen. Stöhne immerzu. Fühle mich wie ein Tier auf der Schlachtbank.
Ich warte. Worauf? Starre die Metalltür an. Vielleicht geht sie auf und sie holen mich endlich, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Wer zum Kuckuck sind „sie“? Wer bin ich? Der Name auf dem Papier? Ist das meiner? Kpt. ist die Abkürzung für Kaptain. Wieso weiß ich das alles, nur meinen Namen nicht? Es ist zum Verzweifeln.
Ich merke, wie sich mein Verstand verabschiedet. Ich werde irre. Schreie, lache, tobe, weine – alles gleichzeitig. Dann liege ich nur noch da und starre auf die Metalltür. Haben die mich vergessen? Das hier ist für mich schlimmer als die Mine. Dort waren wenigstens Leute um mich. Ich fühlte Leben. Hier ist nichts. Ich bin ganz alleine. Immer das diffuse Licht. Stille umgibt mich. Jeder Laut, den ich von mir gebe, jedes Stöhnen kommt mir unendlich laut vor. Ich bin wahnsinnig.
Dann schaue ich wieder auf das Blatt Papier und versuche mich zu erinnern. Bin ich dieser Silvo Karmin, Kaptain der Alpha-Star? Wieso weiß ich, dass die Alpha-Star ein Schiff ist? Ist es eines, das auf dem Meer fährt oder ein Sternenkreuzer? Ich zermartere mein Hirn.
Ich falle wieder in Dämmerschlaf und träume von riesigen Raumschiffen. Ich sehe Sterne. Ein Feuergefecht jagt das andere. Schiffe explodieren, enden als Staub und Schrott in den Weiten des Alls. Eines entfernt sich von den anderen und – ich erwache. Finde mich schreiend auf dem Boden wieder. Mein Magen dreht sich um. Ich würge und spuke. Es kommt nichts. Die Angst lässt sich nicht auskotzen. Mit tränenverklebten Augen schaue ich auf und sehe Stiefel. Ich hebe den Blick – Hose, Jacke, verschleiertes Gesicht. ‚Scheiße’, denke ich und weiß nicht, warum ich plötzlich Panik fühle. Irrational. Jetzt stehen die Stiefel genau vor mir. Sie glänzen wie frisch poliert.
„Aufstehen!“, befiehlt der Soldat.
Ich versuche es, komme aber nicht hoch, falle immer wieder um. Behandschuhte Hände packen mich an jeder Seite und bringen mich weg.
„Was wollt ihr?“, frage ich voller Angst. Ein Schlag auf den Rücken ist die Antwort. Er lässt mich aufschreien. Ich spüre, dass die Wunden zu bluten beginnen. Sie schleifen mich einen langen Gang entlang. Immer wieder versuche ich die Füße auf den Boden zu bringen. Es gelingt nicht. Ich hänge zwischen den beiden Soldaten. Sie bringen mich in ein Verhörzimmer. Der Raum wird von einem klobigen Schreibtisch dominiert. Dahinter sitzt ein Mann mittleren Alters, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Seine Uniform ist mit Orden behängt. Die beiden Soldaten neben mir nehmen Haltung an, wobei sie den Griff an meinen Armen lösen. Ich sacke zusammen, habe keine Kraft in mir. Brutal zerren mich sie mich in die Höhe, halten mich eisern fest.
Der Colonell (woher weiß ich seinen Rang?) wirft einen kurzen Blick auf mich. Dann sieht er an mir vorbei, während er spricht: „Dir ist wohl nicht klar, dass der Angriff auf einen Wächter mit dem Tod bestraft wird?“
„Dann mach dem ein Ende“, unterbreche ich ihn. Ich will nicht mehr. Es ist genug. Dann trifft mich ein Schlag in den Magen. Ich krümme mich, wimmere.
„Schweig! Ich sage dir jetzt, warum du noch lebst und wieder in Militärgewahrsam bist.“
Wieder im Militärgefängnis? Ich war also schon einmal hier.
„Deine Erinnerungen kommen anscheinend zurück. Das ist Pech. Hier bist du trotzdem namenlos. Im übrigen kann die Regierung auf einen Märtyrer verzichten.“
Plötzlich weiß ich, dass ich nicht Silvo bin. Ich war sein Erster Offizier. Das weiß ich jetzt. Wir befanden, oder befinden wir uns noch immer im Krieg – irgendetwas ist damals geschehen. Was? Wie ist mein Name? Warum bin ich ein Gefangener? Ich weiß, dass ich bei meinem Volk bin. Warum also?
„Denk gar nicht erst darüber nach. Du bist ein verdammter Verräter und als solcher wirst du behandelt. Karmin hatte wenigstens soviel Schneid, sich selbst zu töten. Aber du warst schon immer ein Feigling. Deshalb lebst du noch.“
„Weshalb bin ich hier? Wer bin ich?“ Ich will nicht klein begeben.
„Das möchtest du wohl gerne wissen, du elender Verräter, du!“
Mir wird schwindlig. Plötzlich schießen Erinnerungsfetzen auf mich ein. Kaptain Karmin und ich hatten einen Befehl verweigert. Es ging um den Beschuss irgendeines bäuerlichen Planeten. „Wir hatten Recht“, sage ich heiser. „Ich würde es wieder tun! Was bringt es, eine Galaxie zu beherrschen, wenn dann niemand in Frieden leben kann? Jeder bekämpft jeden!“ Kaum habe ich zu Ende geredet, trifft mich auch schon eine Faust im Gesicht. Ich spucke Blut und Zähne.
„So wirst du deine Frau nie wieder sehen. Kehre zurück zu uns, und ihr seid beide frei.“ Der Colonell blickt mich feindselig an. Woher kenne ich den Typen? Warum ist er so erpicht darauf, mir dieses und jenes zu sagen? Dann fällt mir ein Name ein. Stella! Meine geliebte Frau. „Wo ist sie?“, rufe ich. Aber er lacht nur. Dann bringen mich die Soldaten in die Zelle zurück.
Ich denke an Stella und weine. Ihr Gesicht ist nur ein Schemen. Die Erinnerung an eine Erinnerung. Sie ist so ein friedfertiger, liebevoller Mensch. Für mich das Liebste und Beste auf der Welt. Stella! Liebes, wo bist du? Du hast mir den Weg gezeigt. Liebe ist besser als Hass. Immer nur nehmen macht auf Dauer alles kaputt. Du hast mich gelehrt, auch zu geben. Der Weg des Lichts, das ist der deine – und der meine, auch wenn er mich hierher gebracht hat. Es wird immer wieder Leute geben, die vom Licht gefunden werden und es dann weitergeben.
Plötzlich fällt mir mein Name ein! Ich weiß wer und was ich bin. Sevin Libertas! Erster Offizier der Alpha-Star! Das brülle ich in die leere Zelle. So laut, dass es hallt.
Dann denke ich an die Zeremonie. Stella und ich hatten ganz anders geheiratet als bei uns üblich ist. Ich habe dann ihren Namen angenommen. Mein alter Name fällt mir noch nicht ein. Ganz sicher kommt der auch noch. Sevin Libertas, erster Offizier der Alpha-Star, Befehlsverweigerer. Hier endet die Erinnerung. Krampfhaft suche ich danach – nichts, nur Leere. Stumpfe, dunkle Leere.
O Stella, hoffentlich haben sie dir nichts getan. Sippenhaftung, fällt mir jetzt ein. Das ist bei uns übliche Verfahrensweise. Die ganze Familie wird verhaftet, selbst Kinder.
Ich werde wahnsinnig vor Angst um sie und bin gleichzeitig froh, dass wir keine Kinder haben. Immer wieder rufe ich ihren Namen, heule und schluchze. „Stella!“ Es hallt in der Zelle. Dann trommelt jemand gegen die Zellentür und brüllt: „Ruhe, du Schwein, sonst komm ich rein und zieh dir eins über!“
Die Angst vor neuerlichen Schlägen lässt mich schweigen. Ich versuche endlich zu schlafen. Doch die Schmerzen lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Ich kann nicht richtig liegen. Der gesamte Rücken ist wund.
Stunden später, in denen mich Gedanken an Stella quälen, öffnet sich eine Luke in der Tür und eine schwarz behandschuhte Hand schiebt ein Tablett herein. ‚Wasser’, denke ich und stürze mich darauf. Es ist warm. Das macht mir nichts. Ich fühle mich so ausgetrocknet, dass ich sogar Schmutzwasser getrunken hätte. Langsam esse ich den eigentümlichen Brei. Ich muss mit den Fingern essen. Aus Angst vor Selbstmorden wird den Gefangenen Besteck und Bettzeug vorenthalten. Ich trage nur ein Hemd mit meiner Nummer auf dem Rücken. 152.370. Wie ich diese Nummer hasse.
„Ich bin Leutnant Sevin Libertas, Erster Offizier der Alpha-Star, verheiratet mit Stella Libertas, Priesterin auf Trebis!“, rufe ich, als das Tablett wieder abgeholt wird. Ich will, dass alle wissen, wer und was ich bin.
Ich habe Magenschmerzen, lege mich auf die Pritsche und denke an Stella. Diese wunderbare, schöne, liebreizende Person. Ganz deutlich sehe ich ihr Gesicht vor mir: hohe Wangenknochen, leicht schräg stehende blaue Augen, ein sinnlicher Mund, die kleine Stupsnase und alles eingerahmt von dunklem seidig glänzendem, langen Haar. Stella, meine Liebe. Ihre Augen strahlen Licht, Wärme, Leben und Liebe aus. Sie hat mich vom harten Soldaten zu einem liebevollen Menschen geführt. Jetzt fällt mir ein, dass meine Familie dagegen war, sie zu heiraten. Ich habe den Namen meiner Familie vergessen. Woher komme ich? Ich habe nur einen Namen, meinen und den meiner Frau und meines Freundes, und der ist tot.
Stellas Liebe zum Leben müsste für eine ganze Galaxie reichen. Ihr Licht müsste Welten erhellen können. Sie hat mich für ihre Ideale entflammt – Liebe und Gerechtigkeit, Freiheit und Hoffnung. O Stella, ich vermisse dich. „Tecihila“, sage ich in ihrer alten Sprache. Es ist verboten sie zu verwenden. Nur ein paar Alte sprechen sie, und Leute von der Friedensbewegung.
Ich weine um unsere Liebe, um meinen toten Freund und um die vielen Toten, die in einem grausamen, unnötigen Krieg getötet wurden – hingemetzelt von einem Feind, der sich nie zeigte.
„Warum bin ich hier?“, grüble ich. Den Märtyrerscheiß glaube ich keine Sekunde lang. Da muss noch etwas anderes dahinter stecken.
Tagelang bin ich alleine, sehe nur die schwarze Hand, die mein Essen bringt und das Tablett wieder abholt. Ich warte und warte. Mein Leben scheint nur noch aus warten und starren zu bestehen. Die grauen Wände der Zelle scheinen sich um mich zu schließen. Ich fühle mich erdrückt davon, bekomme Atemnot. Klaustrophobie, fällt mir dazu ein. Wieder ein Wort aus der Vergangenheit. Ein Raumfahrer darf nicht darunter leiden. Warum fühle ich es jetzt? Ist es die Enge? Die Gleichförmigkeit? Das Nichtstun? Alles zusammen?
Erinnerungsfragmente beginnen sich zu einem Ganzen zu formen. Durch die Untätigkeit bin ich gezwungen, mich mit den Gedanken zu beschäftigen. Ich möchte nicht verrückt werden. Ich möchte nicht verrückt werden, sage ich mir vor. Warum lebe ich noch? Macht das überhaupt Sinn?
Dann denke ich wieder an Stella. Unsere schöne gemeinsame Zeit in ihrer Heimat. Ich hätte den Dienst quittieren und dort bleiben sollen. Die schönen Erinnerungen werden von der Angst um sie verdrängt. Ich hoffe, dass sie in Sicherheit ist. Aber die Hoffnung ist sehr gering, nicht mehr als ein Fünkchen.
Warum kann ich mich plötzlich an so viele Details aus meinem Leben erinnern?
Plötzlich steht mir was anders vor Augen. Es ist, als wäre es gerade erst geschehen. So deutlich sind die Bilder. Der Kaptain ließ mich holen. Er war ärgerlich, nein zornig ist der bessere Ausdruck. „Setz dich Sevin“, sagte er, bot mir Kaffee an, den ich ablehnte. Dann reichte er mir einen schriftlichen Befehl. Ich las und war sprachlos, dann fragte ich: „Was gedenkst du zu tun, Silvo?“ Untereinander waren wir per Du, so gut waren wir befreundet. Vor der Mannschaft immer mit Rang. Das war uns wichtig.
Er schien darüber nachzudenken. Dann meinte er zögernd: „Auch, wenn du mich jetzt für einen kompletten Vollidioten hältst, Sevin, dieser Befehl wandert in die Rubrik: „nie gelesen“. Was bilden die sich ein? Wir sollen da so einen bäuerlichen Planeten entvölkern, nur weil er strategisch günstig liegt. Da hol mich doch der Teufel, oder wer auch immer, das ist sogar mir zuviel!“
„Du lehnst dich ganz schön weit aus dem Fenster, wenn du so redest“, sagte ich, aber ich grinste dabei. Silvo wusste, dass ich seine Ansicht teilte. Ich halte unsere Entscheidung bis heute für richtig, ganz gleich, was es mich kosten mag. Ich werde nichts revidieren!
Wir diskutierten eine Weile darüber, wie wir am besten vorgehen sollten, damit die Mannschaft nicht für unsere Entscheidung zur Verantwortung gezogen wurde.
Plötzlich glitt das Schott auf und Edwyn Lopart trat ein. Er war der Zweite Offizier auf der Alpha-Star. Ein Mann mit Ambitionen. Hinter ihm standen, sich auf die Füße blickend, fünf Sicherheitsleute. Lopart sagte: „Sie sind Ihres Kommandos enthoben!“
Silvo lachte. Dann sagte er todernst: „Sie wissen, dass das Meuterei ist, Commander? Für diese Tat brauchen Sie einen triftigen Grund.“
Er nickte selbstgefällig, bevor er sagte: „Ja Kaptain, den hab ich. Mir ist bekannt, dass Sie den Befehl des Flottenkommandos nicht befolgen werden. Ich habe vom Kommando den Auftrag, Sie in Gewahrsam zu nehmen und jeden, der sich bei Ihnen befindet. Und genau das werde ich jetzt machen. – Mitkommen!“
Seine Stimme war schneidend, eiskalt, berechnend.
Die Sicherheitsleute nahmen uns in die Mitte und brachten uns in den Arrestbereich. Von Silvo sah ich ab diesem Zeitpunkt nie wieder etwas, hörte auch kein Lebenszeichen von ihm. Erst seit ich hier bin, weiß ich, dass er tot ist.
Dann fällt mir noch etwas ein. Es ist ein Schock. Lopart sagte, nachdem der Planet beschossen worden war: „Libertas, deine Frau wird auch gerade verhaftet. Du kommst auf der nächsten Basis ins Militärgefängnis und wirst dort dein Urteil empfangen.“ Ich fiel beinahe um, als ich das hörte. Stella im Gefängnis!
Die Zeit bis zum Urteilsspruch musste ich in Stasis verbringen. Jeder wusste, wie sehr ich das hasse. Es war eine erste Strafe. Zum Urteilsspruch weckten sie mich. In Uniform trat ich vor den Vorsitzenden. Es war gleich, was ich sagen würde. Das Urteil stand fest: Lobotomie und dann Strafkolonie. Das war schlimmer als der Tod. Ich fiel in mich zusammen. Wenn ich daran denke, werde ich immer noch schwach. Lobotomie, eine Hirnoperation, seit mehr als 100 Jahren eigentlich verboten, wird bei Verrat oder Spionage immer noch angewendet. Bei mir hat sie versagt. Die Erinnerungen sind da, wenn auch nicht alle. Ich bin mir aber meiner selbst nicht mehr ganz sicher. Bin ich, ich? Träume ich das alles? Bin ich verrückt und erlebe das in einem Wahnsinnsanfall? Ich weiß es nicht.
Stella. Sie ist echt, das weiß ich bis in die Knochen hinein, und dass ich sie liebe, auch das ist wirklich. Wirklicher noch als die grauen Zellenwände. Wirklicher als die Schmerzen.
Ich bin so in meinen Erinnerungen, Selbstzweifeln und Fragen gefangen, dass ich nicht merke, wie jemand die Zelle betritt.
„Mitkommen“, brüllt die Person.
Ich fahre hoch. Zittere vor Schreck. Zwei Männer packen mich an den Oberarmen und führen mich ins Büro des Colonells.
„Na, willst du deine Einstellung nicht revidieren?“, fragt er, als ich vor ihm stehe. Ich starre weiter gerade aus, will ihm nicht in die Augen sehen. Er kommt hinter seinem Schreibtisch vor. Ein Soldat zwingt mich, dem Colonell ins Gesicht zu sehen. Dieser streicht seine Uniformjacke glatt und lächelt mich wissend an. „Hast du es dir nicht überlegt? Eigentlich will ich dir ja nichts Böses, du tust es dir selber an, indem du falschen Lehren folgst. Noch ist es nicht wirklich zu spät. Du könntest zurück kommen.“
Das Angebot ist verlockend. Die Einzelhaft zehrt an mir. Ich fühle meinen Willen schwanken. Dann denke ich daran, dass diese Regierung sich nichts dabei denkt, einen ganzen Planeten zu entvölkern, alle zu töten, die sie für unwert hält. Ich straffe die Schultern und sage schlicht: „Nein. Ich bleibe dabei.“
Der Colonell nickt. „Das habe ich befürchtet.“ Er dreht den Kopf zu Seite und mich durchbohrt ein Stich. Der Schock der Erkenntnis lässt mich zusammen sacken. Ich merke, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht rinnt. Alles Blut läuft in die Beine, diese sind schwer wie Blei. Im Kopf summt es wie ein Bienenschwarm. Ich flüstere: „Lukas. Nein, nicht du.“
„Schweig!“, herrscht er mich an. „Nummer 152.370, du hast hier ungefragt nichts zu sagen!“ Ein Schlagstock saust auf mich nieder. Ich krümme mich vor Schmerzen. Aber der Schmerz geht tiefer, nicht nur vom Schlag her, sondern auch von der Erkenntnis fühle ich mich getroffen. Die Beine geben endlich nach und ich lande auf dem Boden. Brutal ziehen mich die beiden Soldaten wieder hoch. Ich werde an den Haaren gepackt, bis mein Kopf tief im Nacken liegt. Dann drücken sie mich auf einen Stuhl und fesseln mich daran. Hände, Beine werden angeschnallt. Einer hält mich noch immer an den Haaren, zieht immer fester nach hinten. Der Hals spannt, ich röchle und versuche wieder in eine normale Position zu kommen. Endlich lässt er los. Lukas schaut mich an. Ich kann nicht erkennen, was er denkt, oder fühlt. Er sieht gleichgültig drein, als ob ich ihm nichts anginge. Brüder waren wir einst, heute bin ich sein Feind. Ich bin traurig darüber, und habe Angst.
Lukas stellt den Hologramm-Projektor auf den Tisch. Ein Soldat fixiert meinen Kopf, sodass ich ihn nicht mehr bewegen kann.
„Du willst sicher wissen, wie es Stella geht. Jetzt kannst du miterleben, was die so treibt, wenn du nicht da bist. Sieh nur genau zu – das passiert jetzt gerade.“ Er grinst mich gemein an und schaltet das Holo an.
Stella! Sie hat ein weißes Kleid an. Es wallt um ihre schlanke, anmutige Gestalt. Auch sie ist in einem Gefängnis, die Fenster sind alle vergittert. Zwei Soldaten führen sie in den Raum. Sie wehrt sich nicht, macht aber auch keine Anstalten freiwillig mit zu machen. Die Soldaten zwingen sie über einen Bock, dort wird sie gefesselt und geknebelt. Ich kann ihre Tränen sehen, die wie Perlen über die Wangen laufen. Meine liebe Stella, was musst du für Angst haben. Wieso kann ich dir nicht helfen? Dann der größte Schock. Sie reißen ihr das Kleid herunter und vergewaltigen sie. Ich sehe, wie sie weint, wie sie sich dagegen wehren will. „Nein!“, rufe ich. „Stella! Tecihila! Tecihila! Tecihila!“ Immer wieder rufe ich in ihrer Sprache. Ich weiß nicht, ob sie mich sehen kann. Sie blickt in meine Richtung, zumindest bilde ich es mir ein. „Tecihila! Ich liebe dich!“
Eine Faust trifft mich am Kinn und der Colonell sagt: „Du wirst nur mehr in einer zivilisierten Sprache reden. Du weißt genau, dass dieser Dialekt verboten ist!“
„Huka“, erwidere ich. „Ich fürchte mich nicht. Huka.“
Ich bekomme noch mehr Schläge und werde dann wieder gezwungen auf das Holobild zu sehen. ‚Auch du fürchtest dich nicht, meine Liebste’, denke ich, und hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Immer wieder vergehen sie sich an ihr. Meine Schöne! Warum tun die dir das an? Du hast in deinem ganzen Leben keiner Seele ein Leid getan. Ich weine mit dir mit. „Tecihila“, sage ich noch einmal leise, als sie Stella fortbringen. Sie hängt nur noch zwischen den Soldaten, kann nicht stehen und gehen. Brutal schleifen sie meine Frau aus dem Raum. „Tecihila, Sevin“, höre ich ihre letzten Worte. Ich möchte aufspringen, die Fesseln halten mich. Der Soldat hinter mir zieht mich wieder an den Haaren bis mein Kopf ganz weit im Nacken liegt. Lukas baut sich vor mir auf und zischt mich an: „Na, das war doch mal was.“
„Du hundsgemeines Arschloch“, bringe ich zwischen den Zähnen hervor. Der Griff am Kopf lockert sich und ich muss geradeaus sehen, genau in Lukas Gesicht. Ich nutze die Gelegenheit und spuke ihn an. Der schlägt mir daraufhin die Faust ins Gesicht. Dann gibt er einen Befehl, den ich nicht richtig verstehe. Ich habe ein Klingen in den Ohren und Angst, dass das Trommelfell gerissen ist. Sie machen mich los und bringen mich in einen anderen Raum. Dort werde ich an der Decke festgebunden. Die Beine an den Knien und Sprunggelenken gefesselt. Ich kann gerade noch den Boden berühren. Dann reißt jemand mein Hemd am Rücken auf. ‚Nein’, denke ich und beiße die Zähne fest aufeinander. Zu oft wurde ich in der Mine ausgepeitscht. Warum lebe ich überhaupt noch? Das ist eine Frage, die mich immer wieder quält und nicht zur Ruhe kommen lässt. Zu gerne wäre ich schon gestorben und hätte meinen Frieden gefunden. Während der ersten Schläge denke ich an Stella. Ich versuche nicht zu schreien. Aber als ich wie ein Pendel hin und her schwinge, dazwischen von den Peitschenhieben getroffen werde, fang ich bald an zu brüllen. Die Schmerzen bringen mich fast um, die Schultern werden mir aus den Gelenken gerissen. „Tötet mich doch endlich!“, schreie ich, weil ich es nicht mehr aushalten kann.
Dann weiß ich nichts mehr. Ich kann nicht mehr.
Irgendwann klatscht mir Eiswasser ins Gesicht. Es sticht wie tausend Nadeln in die Haut. Ich schnappe nach Luft und schreie. Noch immer hänge ich von der Decke runter. Warmes Blut läuft mir den Rücken hinab. Lukas steht vor mir. Der Hass in seinen Augen lässt mich schaudern. Warum hasst er mich so? Ich habe ihm doch nie etwas Schlechtes getan. Oder etwa doch? Habe ich es vergessen?
„Warum“, keuche ich.
Ganz nah kommt er an mich ran. Ich fühle seinen warmen Atem. Dann flüstert ihr mir ins Ohr: „Damit die Familie von dir rein gewaschen ist, du elender Verräter. Du hast uns alle verraten: die Familie, den Planeten, die Armee – alle. Du und deine verdammten Parolen, ihr gehört ausgemerzt. An dir werde ich ein Exempel statuieren. Alle sollen sehen, dass sich umstürzlerisches Gerede nicht lohnt. – Für deine Tat wird jemand anders mit dem Tod bezahlen, Nummer 152.370.“
Diese Worte schneiden mir das Herz aus dem Leib. Sie dringen tiefer in die Haut, als die Peitschen es können.
Lukas dreht mir den Rücken zu und redet mit den Soldaten.
„Bringt das da weg.“ Seine Stimme ist eiskalt, als er sich noch einmal an mich wendet: „Nummer 152.370 du hast keine Familie. Bald bist du ganz alleine auf der Welt.“
„Nein! Nicht Stella! Nicht sie!“, rufe ich, als sie mich zurück in die Zelle schleifen.
Mit einem harten Ton fällt die Tür ins Schloss. Ich werfe mich dagegen. „Nicht Stella!“ Dort sacke ich zusammen und bleibe liegen. Ein nasser, blutiger Haufen Mensch, oder weniger als das. Sie werden Stella töten und ich muss weiter leben.
Schluchzend liege ich da, gekrümmt, geschunden – kein Mensch mehr. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Keine Familie – kein Leben. Alles was bleibt ist Verzweiflung.
Mein Leben zieht an mir vorüber. Alle meine Taten als junger Pilot. Ich war ein richtiger Draufgänger. Die Fliegerei war mein Leben. Nach einem spektakulären Angriff, den ich geleitet hatte, wurde ich befördert. Ich war der jüngste Kapitän der Flotte. Mann, was war ich stolz darauf, bis ich drauf kam, dass mein Vater die Beförderung in die Wege geleitet hatte. Trotzdem behielt ich das Patent. Ein Jahr lang kommandierte ich einen kleinen Angriffskreuzer. Ich führte alle Befehle bedenkenlos aus, bis ich Stella kennen lernte.
Als ich heiratete wurde ich degradiert. Zu diesem Zeitpunkt war mir das schon egal. Ich hätte ganz auf die Karriere verzichtet, wenn ich nicht so leidenschaftlicher Weltraumfahrer gewesen wäre. Die Weite des Alls, die Sterne, das Gefühl der Freiheit. Nun bin ich hier, gefangen in der Gräue und den Gräueln dieser Welt. Es wird kein Entkommen geben, weder für Stella noch für mich.
Ich beginne zu träumen, sehe Stella vor mir. Sie wirkt so real. Ich greife nach ihr, fasse ihre Hand. Sie lächelt mich an. Dann sagte sie: „Endlich, Sevin. Sei nicht traurig, wenn ich wieder gehe. Die Saat des Lichts ist gelegt, auch wenn wir die Ernte nicht mehr erleben werden.“ Sie lacht.
„Mein lieber Schatz, es tut mir alles so Leid“, sage ich und drücke sie fest an mich.
„Das braucht es nicht. Es ist nicht deine Schuld.“
Sie lacht ihr glockenhelles Lachen.
„Ich werde versuchen so gelassen und ruhig zu sein wie du.“ Meine Stimme klingt heiser vor unterdrückten Tränen. Dann lasse ich sie laufen. Bei Stella fühle ich mich immer so frei und geborgen.
„Schau auf dich, Sevin. Ich werde versuchen, noch einmal zu dir zu kommen, bevor …“
Schnell verschließe ich ihren Mund mit einem Kuss. Ich will nicht, dass sie weiterredet, kann den Gedanken nicht ertragen, sie nicht mehr am Leben zu wissen. Die Qual ist auch in ihr Gesicht geschrieben. „Tecihila“, flüstert sie, dann ist sie weg.
Ein lautes Geräusch lässt mich hochfahren. Es ist mein Schrei. „Stella!“
Tage, Wochen, ich weiß es nicht genau, vergehen. In der Welt dort draußen vergeht die Zeit, hier steht sie still. Ich bin in einer Zeitblase gefangen. Ständiges Dämmerlicht und die nervige Stille höhlen mich aus. Ich merke, wie mein Wille zu schwanken beginnt. Dann denke ich an Stella und fasse neuen Mut.
to be (or not to be) continued ...