Wesen der Lüfte
Kannst Du ihn sehen? Den kleinen Drachen, der dort oben am hellen Blau seine Bahnen zieht? Hoch über Dir, immer in Deiner Nähe. Unbeirrbar dreht sich sein kleiner Körper im Wind, hin und her. Getragen vom unsichtbaren Element, das ihn am Fliegen hält, ihm das Leben einhaucht. Spürst Du den ungestümen Zug am Band, mit dem Du ihn hältst? Das Sirren und Singen der dünnen Leine, zart und doch so sicher fühlst Du Dich mit ihm verbunden. Spürst, wie der kleine Drache zieht, folgst mit Deiner Hand und festem Griff jeder seiner sanften Bewegungen, die er dort oben vollführt.
Steigt er zu hoch, weil er zu heftig zog an diesem Band, blendet Dich die Sonne, weil er gar zu mutig in die Höhen stieg. Du führst dieses lebhafte Wesen mit Deinem Halt, und doch kannst Du es nicht verhindern, dass er ins Trudeln gerät. Jäh der Sturz steil hinab in die Tiefe. Das Band in Deiner Hand, das schlagartig in sich zusammenfällt. Verlorener Kontakt, jedoch nur für wenige Augenblicke, zwei Wesen, fest verbunden und doch jeder für sich in diesem Moment allein.
Dein Wille, ihn aufzufangen, schnelle Griffe, hastige Blicke immer wieder auf den ungelenkten Fall, alles unter Deiner Kontrolle. Du spürst die Macht, die in Dir wohnt, der Stolz der von Dir Besitz ergreift, wenn dieses taumelnde Wesen, das sich auf Deinen Halt verlässt, erneut beginnt aufzusteigen. Erst scheint es beschwerlich, leichtes Zweifeln, ob es ihm aus eigener Kraft gelingt, das Aufsteigen, aber dann mit unverhohlener Lebensfreude beginnt erneut der Tanz des Drachens.
Doch sieh genau hin, hat sich dort, am Ende des Schwanzes eine neue Schleife gebildet, hat sich einreiht in die bunte Kette, die wächst, mit jedem weiteren Fall in die Tiefe und beim nächsten Aufstieg für mehr Sicherheit sorgt.
Frei. Freiheit. Ist er wirklich frei, der kleine Drache dort oben am Himmel? Der seinen Flug in den unendlichen Lüften mit jedem Schwung erlebt und sein Dasein spürt, mit dem unerschütterlichen Wissen gehalten zu sein.
Das Band, das ihn mit Dir verbindet, durch das er Dich ebenfalls spüren kann, auf seinem Tanz in den Wolken – denkst Du, er möchte wirklich frei sein?
© Lys Oktober 2009