Der Rand
Hinter tristen Mauern verbergen sich Schicksale, gut versteckt hinter Beton und Glas. Meist sind es graue Schicksale, selten sonnengelbe und oft schwarze.Diese grauen Wände spielen behagliche Bürgerlichkeit vor, tarnen aber auch böse Taten, unaussprechliches Nichtseindürfen und Gleichgültigkeit. So maskieren sich auch Rat- und Perspektivenlosigkeit mit einer Schicht Rouge und dickem Lippenstift.
Manche Hauswände sind dagegen mit bunten Farben angestrichen, was nach außen hin ganz hübsch aussieht, aber nichts als Maskerade ist. Die Stadterneuerung hat wohl gedacht, dass etwas Farbe auf den Fassaden, das Leben hier weniger trist macht und den fahlen Geschmack der Verwahrlosung und Armut überdecken kann.
Zwischen den Häusern ducken sich Dönerbuden und Tabakhändler, eine kleine Bäckerei scheint sich irgendwo in eine Fassade zu pressen. Gerüche vermischen sich zu einem grauen Einerlei des ewig Gleichen. Zwiebel, Brot und Autoabgase, der Gestank der nahen Fabrik vereinen sich zu einem Kreszendo aus Allewelt und Nirgends.
Aus zahlreichen Wohnungen ist lautes Geschrei zu hören, wüste Beschimpfungen in allen möglichen Sprachen vereint sich mit Vorstadt-Rap und lauten Fernsehgeräuschen. Aus anderen Türen rieselt Stille, greifbare Einsamkeit.
Auf den schmalen Wegen zwischen den alten, zum Teil sanierten Häusern und den Neubauten drängen sich Jugendliche. Sie tragen den Einheitslook ihrer Clique und möchten doch ganze Individualität ausstrahlen. Nur die Gruppe bietet hier Sicherheit.
Je nachdem welcher Nationalität sie sich zugehörig fühlen, hört man sie auf türkisch, serbisch, arabisch, deutsch und anderen Sprachen brüllen. Es ist ein babylonisches Sprachgewirr verschiedenster Beschimpfungen, das manchmal in einer faustdicken Auseinandersetzung, bei der auch Messer, Schlagringe und viel gefährlichere Waffen beteiligt sind, endet. Das Ergebnis ist dann oft ein längerer Krankenhausaufenthalt oder das Absitzen einer Jugendhaft. Die schlimmste Strafe ist aber die Steigerung des Gefühls der eigenen Nutzlosigkeit. Sie suchen den Sinn in der Gruppe, Stärke und Halt, und enden doch einsam im Rausch der eigenen Unzulänglichkeit, die ihnen staatlicherseits verordnet wird.
Nachts schleichen vermummte Sprayer durch dunkle Gassen und verschönern das Grau des Alltags mit ihren Bildern. Ist es der Versuch, sich der Welt bemerkbar zu machen, sich für die Nachwelt zu verewigen, oder einfach nur ein Streich junger Leute, die die Gemeinschaft schädigen wollen? Es wird sich wohl nie eine endgültige Antwort finden lassen.
Hoffnungslosigkeit ist ihnen auf den Fersen, ebenso die Polizei und diverse private Wachdienste. Schulgebäude, Wartehäuser, Lärmschutzwände und triste Unterführungen werden so Nacht für Nacht verziert. Schriftzüge, Bilder – Graffiti genannt. Einsame, verstohlen agierende Menschen.
Ebenso heimlich, aber auch tagsüber, stehen Dealer an den Straßen. Sie belabern schon zehnjährige am Schultor und dröhnen sich mit dem Erlös selbst zu.
Einsamkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit dringen hier aus allen Ritzen, Ecken und Enden, sogar aus den Poren der vorbei ziehenden Menschen scheint sie zu strömen. Ihr Atem stinkt danach.
Überforderte Sozialarbeiter, von der Regierung als Allheilmittel missbraucht, versuchen in einer Sisyphusarbeit das Schlimmste zu verhindern. Dazwischen vergammeln Jugendliche an ihrer Arbeitslosigkeit, hungern Kinder nach Nahrung und Liebe, versaufen überforderte Eltern die Sozialhilfe und stirbt ein Alter unbemerkt in seiner Wohnung.
In all dem Grau erhebt sich ab und an ein Blümchen, ein Gänseblümchen und streckt hoffnungsvoll das Köpfchen in den Himmel. Es wird gnadenlos von schweren Stiefeln der herum marschierenden Neo-Nazis zertreten.
Junge Leute ohne Hoffnung von dort oder da, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen, rotten sich zusammen. Mit Steinen und Stöcken bewaffnet gehen sie aufeinander los und später gemeinsam gegen die Polizei.
Die Alten schweigen oder hetzen im Ewiggestrigen. Dazwischen Kinder, zermahlen von Gedanken, die nicht ihre eigenen sind und weder Friede noch Liebe verheißen.
Der so genannte soziale Wohnbau baut, am Bedarf vorbei, ein Ghetto nach dem anderen. Wer spricht da noch von Verständnis für einander, wenn man sich selbst nicht versteht? Die Schule
Die einzige Perspektive eines Schulabbrechers ist das Fehlen einer solchen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bietet soziale Sicherheit, Schutz und Status, den es sonst nicht gibt. Sie wird die Familie, die Leitfigur.
Die Alten sterben weg, arme, kinderreiche Familien kommen nach. Die Spirale dreht sich weiter, immer schneller.
Bis sich irgendwann der Hass entlädt.
(c) Herta 10/2009