Wo wir uns treffen
Es kann ein Hotel sein. Ein altes, eins mit Geschichte. Denn wir wollen unsere Geschichte schreiben. Weiterschreiben oder zu Ende schreiben, das wissen wir nicht. Welcher Autor weiß schon, wieviele Seiten sein Buch haben wird. Es ist ein kleines Hotel, versteckt in den engen Straßen der Vorstadt. Denn wir steigen nicht auf der Durchreise ab, als Kongressteilnehmer oder Stadtbesucher. Wir besuchen Uns. Wir suchen das Wir, das nirgendwo sonst einen räumlichen Ort haben wird. Wir reisen und kommen an, bei uns. Und altmodisch muss das Zimmer sein, nicht die übliche Retortenausstattung mit einer Rundum-Bett-Nachtisch-Schreibtisch- Kofferablage-Installation.
Das Zimmer riecht nach vielen Leben. Auch nach denen, die nie gelebt wurden, nur erträumt. Die Sessel sind etwas abgewetzt, denn auch wir haben Abnutzungserscheinungen. Die Tapete hat zarte Sepiastellen wie unsere Biografien.
Doch füreinander sind wir ein neues Kapitel
Du schreibst, ich schreibe. Wir haben uns geschreiben. Schreibend hat unsere Geschichte begonnen. Jetzt werden wir uns begegnen, nicht nur im Wort. Ich warte auf dich, im Zimmer, das dadurch unseres wird. Ich habe dir ein Rätsel geschickt, von dir gewiss ganz leicht gelöst, sodass du den Namen des Hotels weißt. Die Zimmernummer wird dir nicht verraten. Ich will dich durch die Gänge gehen wissen, von Tür zu Tür, mir immer näher kommend. Vielleicht streicht deine Hand über das Holz der einen oder anderen Tür, weil du mich so erspüren willst. An unsrer Tür habe ich dein letztes Gedicht an mich gehängt, wie eine Fahne auf einem Burgturm. Es endete mit „...die Tür ist offen“, wie es auch diese ist. Ich steh am Fenster – nicht um nach draußen zu sehen, denn ich höre nach drinnen, auf deinen Schritt, auf das Geräusch der Türklinke, auf deinen Atem – über dem lauten Pochen meines Herzens. Ob du die Spannung so wie ich genießt? Es ist ein Freude-Angst-Gemisch, es lässt das Blut durch meine Adern rasen. Tosende Lebendigkeit. Ich höre dich. Ich spüre deine Anwesenheit. Jetzt werde ich ruhig.
Du sagst meinen Namen, ich höre deine Stimme. Ich drehe mich um und sehe dich an.
Wir liegen auf dem Bett, in Kleidern. Um uns herum Papier. Bedrucktes Papier, unsere Gedichte und Geschichten, die wir füreinander schrieben, auch als wir uns noch nicht kannten.
Wir lesen uns vor. So zeigen wir uns einander, seitenweise Seelen-Entblätterung. Wir lächeln und wir weinen.
Die Stunden vergehen und unsere Geschichte wächst, Seite für Seite.
Wenn es dunkel ist, lassen wir uns etwas zu essen bringen. Und Wein. Und reden. Das Ungeschriebene wird nun gesprochen. Vielleicht schreiben wir später davon etwas auf, vielleicht
bewahren wir es für immer als Erinnerung. Nicht jede Geschichte wird erzählt. Nicht jedes Detail erwähnt. Im Weglassen liegt die Magie der Kunst. Egal wie viel man zeigt, es gibt immer ein Mehr. Das wissen wir beide.
Und so schreiben wir unsere Geschichte weiter, die ganze Nacht...
Wo wir uns treffen? Es bleibt ein Rätsel. Vielleicht am Ende eines Satzes – oder mitten ins Herz.
© tangocleo 2009