Das Mitternachtskonzert
Wenn ich es richtig sehe, wird für jede Geschichte ein eigener Threat eröffnet. So soll es denn sein...Das Mitternachtskonzert
Nein, ...
...es gibt keinen inneren Widerspruch zwischen den Begriffen ‚USA’ und ‚Kultur’. In den Jahren, in denen ich dort leben durfte, habe ich Kultur an der eigenen Haut erfahren dürfen. Kleine private Zirkel veranstalten sogenannte House Concerts mit umherreisenden Künstlern.
So hatten auch wir unseren kleinen elitären Zirkel und luden monatlich einen Künstler zu unseren Abenden ein. Dies darf man sich nun nicht zwingend so vorstellen, dass man über die naheliegende Interstate 10 Fallgruben verteilte und hoffte, dass sich irgendein Barde hierin verfangen würde und wir den ‚Beifang’ natürlich wieder unverzüglich freigaben. Vielmehr gibt es entsprechende Kontaktbörsen – also virtuelle Künstleragenturen – im Netz.
In diesem Mai vor langer Zeit hatten wir ein besonderes Konzert in meinem Hause. Gäbe es Bäume in der Wüste von New Mexico, so wäre es die Zeit, in der die ersten Blühten erwachen. Gäbe es Blumen ebenda, so wäre nun alles ein buntes Meer leuchtender Farben. Vergänglichkeit auf Zeit. Aber da es in der Wüste von New Mexico nicht viele solcher Gewächse gibt, fehlte es naturgemäß an Farben. Stattdessen haben wir tagaus, tagein im Jahr die gleichen, grüngrauen Kakteen vor beigebraunen Sand gesehen. Gelegentlich aber erblühte die Wüste im Mai nach den ersten monsunartigen Regenfällen und spendete nach kurzen, heftigen Gewitterschauern für einige Tage eine oppulente Geruchsorgie in einer Intensität, die man sonst so nie erleben kann; insbesondere nicht in Europa. Dann erblüht die Wüste über Nacht und scheint sich gegen Hitze und Trockenheit wehren zu wollen.
Das Wetter begann bereits im Mai über Tage unerträglich zu werden. Nur die Abende konnte man noch als angenehm bezeichnen und draußen genießen. So fand auch unser Oktoberkonzert nicht in einer klimatisierten, leergeräumten Kunstgalerie, einem Wohnzimmer oder auch mal in einer Autowertstatt zwischen Hebebühnen und Altölfässer statt. Diesmal nutzten wir die Orangerie in meinem Garten.
‚Orangerie’: Eigentlich ist dieser Begriff ebenso passend für das Gartenhaus in meinem Park, wie ‚Grabmal’ für das Taj Mahal am anderen Ende der Welt. Und die Welt ist – weiß Gott – groß.
Unser Star im Mai war Linda. Eine Irin, wie man sie sich malen würde, wenn sich nicht vor mir gestanden und gesungen hätte. Wallendes, rotes Haar umrahmte eine grazile Gestalt mit kleinen Brüsten, welches sich allen Bestrebung gekämmt zu werden, hartnäckig widersetzt. Die Verwendung einer Bürste schien einfach keine Aussichten auf Erfolg zu versprechen. Nicht bei Linda.
Als Linda an diesem Abend die Gitarre zur Seite stellte und den leider viel zu verhaltenen Applaus genoss, fiel mir auf, wie sie irgendwie melancholisch schaute. War dies auch eine dieser irischen Eigenarten, dass Melancholie ein angeborener Wesenszug ist?
Langsam löste sich unser Zirkel auf. Linda begann, ihre Instrumente zu packen, während ich die letzten Gäste verabschiedete.
Linda und ich. Sonst gab es niemanden mehr.
Dann meinte sie nur: „I am hungry“.
Ich zweifelte. Sagte sie so etwas profanes wie: „Ich habe Hunger?“
Es musste so sein. Linda schüttete die Sammeldose, in der sich ihre Tagesgage befand, in eine Tasche. Und ich sah mehr als nur diese Melancholie. Ich sah das Flehen, geliebt und anerkannt zu werden. Ich sah Zerbrechlichkeit, Schüchternheit, Unsicherheit und den Wunsch, nur eine Nacht vergessen zu können. Irgendetwas vergessen zu können. Auch den realen Hunger. Oder eher doch den Hauthunger?
Spielte mir meine Einbildung einen Streich?
Ist das irisch?
Es bedarf keiner weiteren Worte. Ich nahm ihre Hand und führte sie einfach ins Haus. Sie ließ es geschehen. Sagte nichts; streubte sich nicht einmal. Aber ich spürte, ich darf diese zerbrechliche Rose in meiner Hand nicht knicken. Plötzlich hatte ich Angst vor der eigenen Lust und der Befürchtung, dass eine Nacht oder nur ein einziges Wort uns beide brechen könnte.
Wir kamen nicht bis zum Schlafzimmer und vielleicht wollten wir auch nicht dorthin.
Als wir an der offenen Tür meines noch längst nicht eingerichteten Arbeitszimmers vorbei kamen, stockte sie. Irgendetwas zog sie in dieses leere Zimmer. Linda übernahm plötzlich die Führung. Sie fasste meine Hand und zog mich in dieses Zimmer.
An einer Wand lehnt ein billiger Kunstdruck eines Bildes von van Gogh: ‚Starry Night‘.
Eigenartig und wie nicht von dieser Welt wirkte dies Bild im Schein des aufsteigenden Vollmondes.
Linda und ich sanken nieder. Seite an Seite lehnten wir sitzend an der gegenüberliegenden Wand umgeben von leeren Wänden und einem Bild auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Meine Hand ruhte in ihrer. Ganz sanft fasste sie zu, streichelte meinen Arm und ebenso sanft seufzte sie, als sie meine Gänsehaut spürte.
Irgendwann mussten wir so eingeschlafen sein.
Am nächsten Morgen war Linda weg. Und mit ihr das Bild.
Hatten wir Sex?
Ich glaube nicht, aber ich weiß es nicht. Konnte man vergessen, ob es geschah? Konnte man(n) Sex vergessen? War er so schlecht, dass man ihn vergessen wollte oder so gut, dass er nicht als Sex wahrgenommen wurde?
Ein Hauch ihres Parfums war die einzige Spur, die sie in meinem Haus hinterließ. Dieser schwere Duft vernetzte die Neuronen im Kleinhirn neu. Ewig werde ich es riechen und nie werde ich wissen, was geschah.
Jahre später – ich hatte Linda fast vergessen – brachte ein Paketdienst ein großes, flaches Paket, das ich sofort öffnen musste. Ich erkannte es sofort wieder. Es war „mein“ van Gogh. Nun jedoch war er gerahmt. Als ich das Bild aufhängen wollte, fiel mein Blick auf einen zarten Schriftzug auf der Rückseite:
„Thanks... for having back my life.“
Seit jenem Tage warte ich darauf, dass Linda wieder in die Stadt kommt und ich sie wiedersehe. Ich warte noch heute.